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Du warst mein Leben …!

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Dezember 1755 – Februar 1756

Im Dezember 1755 hielt der Winter England eisern im Griff. Noch Jahre später wurde von dem »schlimmen Winter« gesprochen, und alle wussten, welches Jahr gemeint war. Bäume wurden von der Kälte gespalten, das Vieh erfror und die ganze Insel schien in die Polarzone getrieben worden zu sein. Im Februar 1756 schien das Schlimmste überstanden zu sein. Noch immer war der gefrorene Boden von Schnee bedeckt, aber wenigstens waren die Temperaturen erträglich. Die Menschen seufzten erleichtert auf und freuten sich auf den Tag, wenn der warme Atem des Frühlings ihre Insel auftauen und das Gras wieder aus der Erde hervorsprießen würde.

Am 10. Februar saß Sir George Wakefield in seinem Wohnzimmer und wärmte seine Füße am prasselnden Feuer. Seine Frau Caroline saß ihm gegenüber und las im Licht einer Walöllampe in einem Buch. Sie sah häufig auf. Besorgnis machte sich auf ihrem Gesicht breit, während sie ihren Mann betrachtete. Er saß mit über dem Bauch gefalteten Händen in seinem Sessel und das einzige Lebenszeichen war das gleichmäßige Heben und Senken seiner Brust.

Die Tür zum Arbeitszimmer öffnete sich und ein Diener in schwarzer Kleidung trat ein. Obwohl vollkommen gesund, war er sehr blass und sah aus, als gehöre er eher in einen Sarg. »Sir George …«, flüsterte er. Wakefield bewegte sich und blinzelte schläfrig. »Ja? Was ist, Ives?«

»Ihr habt Besuch, Sir. Ein Mr Gareth Morgan.«

»Morgan?« George schüttelte sich und schob den Hocker zurück. »Führ ihn herein, Ives.«

»Jawohl, Sir.«

»Was macht Gareth um diese Zeit hier?«, murmelte Wakefield. Er richtete sich auf und erhob sich.

Auch Caroline hatte sich erhoben. Sie zog ihr dunkelrotes Kleid mit dem weißen Pelzkragen zurecht. Es war spät, bereits vier Stunden nach Sonnenuntergang. Nur wenige wagten sich bei diesem Wetter vor die Tür. »Ich weiß es auch nicht. Hattest du ihn denn erwartet, George?«

»Aber natürlich nicht. Habe nichts von ihm gehört – du etwa?« Seine Frage hatte einen seltsamen Unterton, denn Gareth Morgan hatte um Caroline Barksdale geworben, bevor George ihr Herz erobert hatte.

Wakefield war sich nie so ganz über die Gefühle seiner Frau für Gareth Morgan im Klaren gewesen, denn trotz seines Titels und seines Reichtums gab es keinen Mann in ganz England, der besser aussah als Gareth Morgan. Von Natur aus war Wakefield jedoch nicht misstrauisch veranlagt, und die Eifersucht, die ihn dann und wann plagte, verblasste schnell wieder. Er wandte sich der schweren Eichentür zu und betrachtete den Mann, der eintrat.

Gareth Morgan hatte seinen Mantel und seinen Hut abgelegt, doch an seinen Stiefeln hing noch etwas Schnee, und sein Gesicht war gerötet, als er in das warme, geräumige Zimmer trat. »Ziemlich kalt draußen, Sir George«, sagte er steif. Er wandte sich um und verbeugte sich leicht. »Wie geht es Euch, Lady Wakefield?«

»Sehr gut, Gareth, vielen Dank«, erwiderte Caroline. Auch sie erinnerte sich noch an die Zeit, als Gareth ihr den Hof gemacht hatte. Bei einigen Frauen blieb die Erinnerung an die jugendliche Verliebtheit, und Caroline hatte sich oft gefragt, wie ihr Leben wohl verlaufen wäre, wenn sie Gareth geheiratet hätte.

Ich bin viel zu verwöhnt, dachte sie. Vermutlich hätte es mir gar nicht gefallen, mit einem armen Prediger verheiratet zu sein. Sie mochte Gareth und seine Familie. Sarah, Gareths Frau, war jahrelang mit ihr befreundet gewesen und auch jetzt besuchten sie sich gelegentlich und standen in Briefkontakt. »Geht es Eurer Familie gut?«

»Ja, sehr gut«, erwiderte Gareth. Er schüttelte George die Hand und meinte dann leise: »Ich bringe schlechte Nachrichten, Sir George.«

George starrte Morgan einen Augenblick lang an und fragte: »Was ist los, Gareth?«

»Es geht um Andrew, Euren Bruder, Sir. Er ist sehr krank. Ihr wisst, dass er sich seit dem Unfall nie wieder richtig erholt hat. Das ist nun schon fast drei Jahre her und er hat seither keinen einzigen Schritt mehr getan«, erklärte Gareth langsam. Er schüttelte den Kopf und fuhr schmerzerfüllt fort: »Er hat keine Bewegung, da er die meiste Zeit im Bett liegt – oder in dem Rollstuhl sitzt, den ich ihm gebaut habe. Diese Untätigkeit scheint seinen Körper geschwächt zu haben. Vor zwei Wochen hat er sich erkältet. Vielen von uns ist es so ergangen, aber seine Erkältung wurde schlimmer.«

»Was sagt der Arzt, Gareth?«, fragte Caroline schnell.

»Er sagt – nun, er sagte, ich sollte Euch besser holen, Sir George.«

Entsetzen machte sich auf Wakefields Gesicht breit. Er und Andrew standen sich nicht so nahe, wie es hätte sein sollen, aber George hegte eine tiefe Zuneigung zu seinem jüngeren Bruder. »Es tut mir leid, das zu hören.«

»Ich glaube, es ist eine Lungenentzündung. Ich bin schnell losgefahren, um Euch zu holen, Sir George. Ich denke, es ist das Beste, wenn wir sofort aufbrechen.«

»Ist es so ernst, Gareth?«, fragte George. Er war sehr groß und hatte beträchtliches Übergewicht. Eine ungesunde Blässe lag auf seinem Gesicht, denn in den vergangenen zwei Jahren hatte es mit seiner Gesundheit nicht zum Besten gestanden. »Wir werden natürlich sofort aufbrechen.«

»Bei diesem Wetter, George?«, protestierte Caroline. »Du kannst nicht fahren. Dir geht es nicht gut.«

»Ich fürchte, mir bleibt keine Wahl, Caroline«, erwiderte Wakefield fest.

»Gareth, Ihr bleibt über Nacht hier und ruht Euch aus. Ich werde sofort aufbrechen, Ihr könnt morgen nachkommen.«

»Nein«, erwiderte Gareth bestimmt. »Ich werde mit Euch zurückkehren, Sir George.«

»Nun denn – geht in die Küche.« Wakefield ging zur Tür, öffnete sie und rief: »Ives, sieh zu, dass die Köchin eine kräftige, heiße Mahlzeit für Mr Morgan zubereitet, und lass Haines die Kutsche anspannen. Wir werden noch heute Nacht nach Cornwall fahren.«

»Das ist sehr freundlich von Euch, Sir«, sagte Gareth, als er zur Tür ging. Seine walisischen Augen funkelten billigend und trotz seiner Müdigkeit machte er sich leichten Schrittes auf den Weg in die Küche.

Nachdem Caroline mit George allein zurückgeblieben war, sagte Caroline: »George, du kannst nicht fahren. Du weißt doch, dass dein Herz in letzter Zeit nicht mehr so richtig mitmacht. Oh, du beklagst dich nicht, aber ich merke es.«

»Ich muss fahren, meine Liebe. Wir sind die einzige Hilfe, die Andrew und seine Familie hat. Ich komme zurück, sobald es ihm wieder besser geht, aber das kann eine Weile dauern.«

Caroline zögerte. »Und wenn er sich nicht wieder erholt?«, fragte sie vorsichtig. »Mir scheint er ernsthaft erkrankt zu sein.«

»Ich weiß es nicht. Im Augenblick kann ich gar nicht richtig denken. Ich möchte mir gar nicht vorstellen, dass Andrew sterben könnte. Er ist zu jung – und ein zu guter Mensch. Ein besserer Mensch, als ich es bin.«

»Nein, er ist kein besserer Mensch als du«, erwiderte Caroline sofort.

Sie ging zu ihm hinüber und legte ihre Arme um ihn. Er drückte sie an sich und merkte, dass sein Herz wieder einmal unregelmäßig schlug, wie so oft in letzter Zeit. Er ignorierte es und drückte sie fest an sich. »Was werden wir tun, wenn er stirbt? Dorcas und die Kinder werden ganz allein sein.«

»Du musst sie hierher nach Wakefield bringen, George.«

»Hierher?« Wakefield war ehrlich erstaunt. »Bist du ganz sicher, Caroline? Das wäre – eine ziemliche Verantwortung und würde viele Unannehmlichkeiten mit sich bringen.«

»Sprich nicht so.« Caroline reckte sich, um ihm einen Kuss zu geben. »Hier ist es manchmal recht einsam.«

Weiter sagte sie nichts, aber George wusste, dass sie an ihre drei Babys dachte, die alle bei der Geburt gestorben waren. Ohne Kinderstimmen war es sehr still in Wakefield. George war traurig darüber, aber seiner Frau gegenüber erwähnte er diesen Schmerz mit keinem Wort. Er wusste, dass sie darüber tief betrübt war und viel weinte. »Ich weiß, du möchtest Kinder«, sagte er, »aber die Zwillinge – sie sind schon fast fünfzehn. Keine Babys mehr.«

»Ich weiß, aber wir müssen ihnen helfen, George. Ich habe Dorcas immer gemocht. Wir wollen hoffen und beten, dass Andrew wieder gesund wird, aber falls das nicht der Fall sein sollte, werden wir seine Familie hierher nach Wakefield holen.«

»In Ordnung. Wie du meinst. Und nun komm und hilf mir, mich fertig zu machen.«

Eine Stunde später stiegen die beiden Männer in die Kutsche. George Wakefield beugte sich hinaus, um Caroline zu winken. Sie stand trotz der Kälte in der Tür, um sie zu verabschieden. Als die Kutsche sich in Bewegung setzte, lehnte sich George mit einem Seufzer der Erleichterung zurück. Er atmete schwer von der Anstrengung, zur Kutsche zu gelangen und hineinzusteigen, und nun wartete er mit geschlossenen Augen darauf, dass sein Herzschlag sich beruhigte.

Gareth hatte gewusst, dass Sir George Wakefield Probleme mit dem Herzen hatte, aber ihm war nicht klar gewesen, wie schlimm es um ihn stand. Ich hätte ihm das nicht zumuten dürfen, dachte er. Als er Wakefield betrachtete, bemerkte er, dass der Mann sehr blass war und schwer atmete. Jetzt ist es zu spät. Vermutlich hätte ich es ihm sowieso nicht ausreden können. Während die Kutsche den Weg entlangholperte, betete Gareth nicht nur für Reverend Andrew Wakefield, sondern auch für dessen Bruder, Sir George Wakefield.

Das kleine Wohnzimmer im Haus der Wakefields war gemütlich warm. David hatte große Holzscheite hereingeholt und das Feuer angefacht, bis die Flammen lustig tanzten und orange Funken in den Kamin sprühten. Paul hatte ihm nicht dabei geholfen. Er saß auf einem Stuhl und sah mit ausdruckslosem Gesicht zu, wie sein Bruder das Feuer schürte.

Normalerweise war er ein lustiger junger Mann und mit seinen fast fünfzehn Jahren bereits so stark an Mädchen interessiert, dass seine Eltern sich Sorgen machten. Der Schock über die schwere Krankheit seines Vaters hatte ihn jedoch still und in sich gekehrt werden lassen. Er saß in der hintersten Ecke des Zimmers und starrte auf seine Hände. Nur gelegentlich hob er den Blick und sah zum Fenster hinaus auf den Schnee, der langsam fiel.

Die Morgans waren gekommen, und Sarah Morgan saß an Andrews Bett, während Dorcas sich ausruhte. Die mittlerweile sechs Jahre alte Bethany setzte sich sofort an Davids Seite, als er sich auf der Couch niederließ. Schweigend ergriff sie seine Hand. David sah sie an und bemerkte, dass sie sehr besorgt war. Er beugte sich vor und drückte sie. »Keine Angst, Bethany. Vater wird wieder gesund werden.«

»Aber ich habe Angst«, flüsterte Bethany. Abrupt drehte sie sich um, legte David die Arme um den Hals und klammerte sich an ihn. Sie stand Andrew Wakefield sehr nahe; er hatte die Rolle eines Großvaters bei ihr eingenommen. Während Andrews langer Krankheit waren die Morgans häufig zu Besuch gekommen, und da Andrew seine Pflichten als Pastor nicht mehr wahrnehmen konnte, war Gareth für ihn eingesprungen. Er betreute beide Gemeinden, so gut er es konnte. Sarah und die Kinder kamen häufig herüber und Bethany hatte sich noch enger an David angeschlossen.

Ivor, der dicht am Feuer saß, schnitzte nervös an einem Stock herum. Er war sehr groß für sein Alter, hatte schwarzes, lockiges Haar und dunkle Augen und war das Ebenbild seines Vaters. Er betrachtete seine Schwester und wunderte sich über ihre Zuneigung zu David Wakefield. Als er den Hufschlag von Pferden hörte, sagte er: »Da kommt jemand.« Er klappte schnell sein Messer zu und ging zur Tür. Er öffnete sie und berichtete: »Es ist eine Kutsche.«

Dorcas, die den Hufschlag ebenfalls gehört hatte, kam aus dem Schlafzimmer und stellte sich neben Ivor. Auch David und Bethany gesellten sich zu ihnen – nur Paul Wakefield rührte sich nicht von seinem Platz. »Es sind dein Vater und Sir George«, sagte Dorcas. Sie blieben in der offenen Tür stehen, bis Gareth, der Sir George stützte, hereinkam. Dorcas war schockiert, als sie sah, wie sehr sich der ältere Mann auf Gareth stützte, doch sie sagte nichts dazu.

Sir George nahm seinen Hut ab und ergriff Dorcas’ Hände. »Wie geht es ihm?«

»Nicht gut, fürchte ich. Ich bin froh, dass du gekommen bist, George. Er hat nach dir gefragt. Aber du hättest dich nicht bei diesem scheußlichen Wetter auf den Weg machen sollen.«

»Das ist doch selbstverständlich«, erwiderte George ungeduldig. »Ich möchte ihn sehen.«

Dorcas führte ihn ins Schlafzimmer. Bevor sich die Tür schloss, kam Sarah heraus. Sie ging sofort zu Gareth, der sie in die Arme nahm und küsste. »Ich mache dich ganz nass«, sagte er. »Es schneit noch immer. Wie geht es ihm?«

Sarah warf einen Blick auf die Kinder und schüttelte unmerklich den Kopf. »Der Arzt war noch einmal da. Er hat uns eine neue Medizin für Andrew gebracht.«

Gareth sah seine Frau eindringlich an. Er wusste, dass ihre Worte mehr bedeuteten. Er fuhr seinem Sohn durch die dunkle Lockenpracht. »Wie geht es dir, mein Sohn?«

»Gut, Papa. Komm zum Feuer und wärme dich.«

Gareth nickte und ging mit gefühllosen Füßen zum Kamin. »Es war eine schwierige Fahrt. Ich wusste gar nicht, wie schwach Sir George ist. Eigentlich hätte ich nicht gedacht, dass er eine solche Reise unternehmen würde, aber er bestand darauf mitzukommen.«

Gareth blickte Paul an, der in der Ecke saß. Ein eigensinniger Ausdruck verzerrte das Gesicht des Jungen und Gareth konnte den Zorn darin erkennen. »Vielleicht könntest du etwas zu essen machen«, meinte er leise. »Ich bin hungrig, und Sir George möchte bestimmt auch etwas essen, nachdem er mit Andrew gesprochen hat.«

»Natürlich«, erwiderte Sarah. »Ivor und Bethany, kommt mit in die Küche.«

»Ich möchte bei David bleiben«, protestierte Bethany.

»Du kannst später wieder bei David sein. Jetzt komm bitte mit«, beharrte Sarah.

Sobald die Morgans gegangen waren, ergriff Paul zum ersten Mal das Wort. »Nun, Bruder, jetzt wissen wir, wie Gott wirklich ist.« Er sprang plötzlich auf und trat ans Fenster. »Zuerst hat er Vater die Beine genommen und jetzt wird er ihm das Leben nehmen.«

David war schockiert, wie verbittert Pauls Stimme klang. »Vielleicht auch nicht, Paul«, sagte er und stellte sich neben seinen Bruder ans Fenster. Er beobachtete, wie die Schneeflocken fielen. Schließlich drehte er sich zu Paul um. »Wir müssen Gott vertrauen.«

»Seit fast drei Jahren betest du nun schon für Vaters Heilung. Und hat er je wieder laufen können? Nein!« Paul spuckte die Antwort auf seine Frage nur so aus. Und während er hinaus in die Dunkelheit starrte, fragte er mit einer Spur von Angst in der Stimme: »Was wird aus uns werden, wenn Vater stirbt? Wir werden verhungern.«

»Nein«, erwiderte David sofort und schüttelte entschieden den Kopf. »Onkel George wird nicht zulassen, dass wir verhungern.«

»Ihm ist das doch egal.«

»Das meinst du doch nicht wirklich, Paul. Du weißt doch, dass Onkel George uns alle mag.«

Paul wirbelte wütend und mit funkelnden Augen zu seinem Bruder herum. Im Laufe der Jahre hatte sich eine Härte in sein Wesen eingeschlichen, die niemand erklären konnte. Er hatte nichts von der Sanftheit seiner Mutter oder der Liebe seines Vaters für andere geerbt und er verabscheute ihre Armut. Seit dem Unfall seines Vaters war diese harte Seite von Pauls Charakter deutlicher zutage getreten. Mit knapp fünfzehn Jahren war Paul Wakefield zu einem verbitterten jungen Mann geworden.

Im Krankenzimmer begrüßten sich die beiden Brüder und George setzte sich auf das Bett des Kranken. Beim Anblick von Andrews einst so starken und sportlichen Körper war George schockiert. Er ist ja vollkommen zusammengeschrumpft, dachte George. Das Fieber und die Krankheit hatten tatsächlich alles Fleisch von Andrew Wakefields Körper aufgezehrt. Seine Wangen waren eingefallen und die Augen tief in ihre Höhlen eingesunken. Die Hand, die er seinem Besucher reichte, bestand nur noch aus Haut und Knochen.

George war nicht in der Lage gewesen, die Gefühle zu verbergen, die ihn beim Anblick seines Bruders ergriffen, und Andrew flüsterte sofort: »Mach dir keine Sorgen, George.«

»Mein lieber Bruder – mein lieber Junge …!«, murmelte George. Es fiel ihm schwer, seine Gefühle zu verbergen – die wenigen, die er hatte. George Wakefield hatte für tiefgehende Gedanken, Philosophie und Religion nicht viel übrig, doch nun war er sehr betroffen. Vielleicht war der Grund dafür der Anblick des zusammengesunkenen Körpers seines Bruders und die schwache, aber beharrliche Stimme, die ihn an seine eigene Sterblichkeit erinnerte. In diesem Raum wartete der Tod. George hatte die unheimliche Vorstellung, dass er, falls er sich umdrehte und in die dunkle Ecke hinter sich starrte, eine Gestalt in Schwarz erblicken würde – die auf die Seele seines Bruders wartete! Er bemühte sich, dieses seltsame Gefühl zu unterdrücken, und hielt die Hand seines Bruders.

»Du musst nicht denken, ich sei unglücklich«, sagte Andrew leise und mit schwacher Stimme. Das Sprechen strengte ihn sehr an, aber ein sanftes Lächeln umspielte seine Lippen und aus seinen Augen sprachen Liebe und Zuneigung. »Ich bin froh, dass du gekommen bist. Ich wollte mich von dir verabschieden.«

Georges Lippen zitterten und er versuchte, etwas herauszubringen, doch er schaffte es nicht. Normalerweise war er nicht sentimental veranlagt, doch nun traten Tränen in seine Augen. »Mein lieber Andrew. Ich – ich kann dich nicht gehen lassen!«

»Wir alle müssen einmal gehen, George, früher oder später. Das ist eine Reise, vor der sich kein Mensch drücken kann. Könige wie Bettler müssen sich mit dem Sterben abfinden«, sagte Andrew leise. »Ich habe Jesus treu gedient, und nun sieht es so aus, dass ich ihn früher sehen werde, als ich erwartet hatte. Ich finde das nicht schlimm – ich sehne mich sogar danach, den zu sehen, der für mich gestorben ist und mich so treu erhalten hat. Aber bevor ich zu ihm gehe, wollte ich noch mit dir – wie schon häufiger – über deine Beziehung zu Gott sprechen.«

Andrew Wakefield hatte tatsächlich häufig mit seinem Bruder über seinen Glauben gesprochen, jedoch war es ihm nie gelungen, zu ihm durchzudringen. Doch als George nun vom Schmerz gebeugt am Krankenbett seines Bruders saß und Andrew voller Leidenschaft von der Liebe Jesu und der Notwendigkeit sprach, mit Gott ins Reine zu kommen, hörte George zu.

Während Sir George Wakefield Andrews Worten lauschte, dachte er: Was für ein selbstsüchtiger Mensch bin ich doch gewesen! Und wie selbstlos ist dagegen mein Bruder. Er wird nun bald vor Gott stehen … er ist in Sicherheit … aber was wird aus mir?

»George, du musst dein Vertrauen auf Jesus setzen«, sagte Andrew. Seine Stimme war auf einmal fest und lebendig. Er umklammerte die Hand seines Bruders und blickte ihn eindringlich an. »Es würde mich so glücklich machen zu wissen, dass du das getan hast. Ich weiß, dass du Mitglied der Kirche bist, aber du musst dich Jesus ganz hingeben – mit allem, was du hast! Das ist sehr schwierig, doch ich, der ich nun vor den Toren der Ewigkeit stehe, trauere über die Bereiche meines Lebens, die ich nicht Gott überlassen habe. Wenn es ans Sterben geht, George, sollst du sagen können, dass du Jesus ganz gehörst!«

Dorcas war ins Zimmer geschlüpft und hörte schweigend zu. Sie wusste, wie sehr sich Andrew um seinen Bruder sorgte. Niemand konnte sagen, welche Beziehung George zu Gott hatte, denn er behauptete von sich zwar, Christ zu sein, aber er war nur ein Namenschrist. Doch nun erkannte Dorcas, dass er tief bewegt war.

Ein Schluchzen entrang sich George. »Sag nichts mehr, lieber Bruder! Ich verspreche dir, ich werde für mein Seelenheil sorgen, das werde ich. Ich werde mich Gott ausliefern – du hast mein Ehrenwort darauf!« Er drehte sich um, denn bei seinen Worten hatte Dorcas einen Freudenschrei nicht unterdrücken können. George starrte sie mit Tränen in den Augen eine Zeit lang an, dann drehte er sich wieder um und drückte die Hand seines Bruders. »Andrew«, flüsterte er mit brechender Stimme. »Um eines möchte ich dich bitten – sorge dich nicht um deine Familie. Ich werde dafür Sorge tragen, dass sie keine Not leiden werden, so wahr mir Gott helfe! Sie wird sein wie meine eigene, das verspreche ich dir.«

Andrew blickte ihn warm an und drückte seine Hand. »Das ist das, was mich, abgesehen von deinem Versprechen, dich selbst Gott zu geben, am glücklichsten macht. Ich danke dir, lieber Bruder!«

Zwei Tage kämpfte Andrew Wakefield noch mit dem Tod. Er sprach mehrmals mit George und beiden taten diese Gespräche gut … doch das Ende war nahe. Die Menschen, die den Kranken pflegten, konnten von Stunde zu Stunde sehen, wie er immer schwächer wurde. Schließlich war er nicht mehr in der Lage, Nahrung zu sich zu nehmen. Um drei Uhr an einem Mittwochnachmittag im Februar 1756 kam das Ende. Die ganze Familie war im Krankenzimmer versammelt und auch die Familie Morgan, von der er sich bereits verabschiedet hatte.

Das kleine Zimmer war überfüllt. Dorcas stand an Andrews rechter, seine beiden Söhne an seiner linken Seite. David kniete am Bett seines Vaters, doch Paul stand hoch aufgerichtet und mit ausdruckslosem Gesicht an seiner Seite. Alle lauschten auf das stoßweise Atmen des Sterbenden.

»Er stirbt«, flüsterte Dorcas. »Oh Andrew, kannst du mich hören?« Sie streichelte sein Gesicht und bei ihrer Berührung öffnete er die Augen.

»Dorcas –«

»Ja, mein Geliebter?«

»Erinnerst du dich noch an unsere Hochzeit? Wie wir versprochen haben, uns zu lieben?«

»Oh ja, natürlich erinnere ich mich daran …!« Dorcas rannen nun die Tränen über die Wangen, und sie machte keinen Versuch, sie aufzuhalten. Sie tropften auf Andrews Hand, doch er schien sie nicht zu bemerken.

»Ich erinnere mich noch so gut an diesen Tag«, sagte Andrew leise.

Ein langes Schweigen erfüllte den Raum. Das einzige Geräusch war das Ticken der Uhr auf dem Kaminsims und das schwache Atmen des Sterbenden. Schließlich blickte Andrew seine beiden Söhne an und sagte mit neuer Kraft, die ihn für einen Augenblick aufzurichten schien: »David – liebe Gott.«

»Ja, Vater, das werde ich. Ich – ich liebe dich, Vater.« David nahm die Hand seines Vaters und küsste sie, dann barg er sein Gesicht in der Bettdecke.

»Paul?«

Paul beugte sich vor und ergriff unbeholfen die Hand seines Vaters. Er sagte nichts, doch sein Vater bemerkte die Härte im Gesicht seines Sohnes. »Lass nicht zu, dass mein Tod dich bitter macht. Ich liebe dich, mein Sohn, und ich habe dafür gebetet, dass Gott dich erhalten möge und dich zu einem mächtigen Mann Gottes macht.«

Paul hörte zu; in seinem Gesicht arbeitete es. Er hielt die Tränen zwar zurück, aber er flüsterte: »Papa, ich liebe dich so sehr!«

Bei diesen Worten lächelte Andrew Wakefield schwach. Er wandte sich wieder an Dorcas, betrachtete ihr Gesicht und sagte: »Ich gehe zum Herrn Jesus …«

»Ja, mein Liebling … aber ich werde dich so sehr vermissen.«

»Ich werde – auf dich warten …« Und schließlich flüsterte er so leise, dass nur Dorcas es hören konnte: »Du warst mein Leben!«

Danach sagte er nichts mehr, und das Leben wich so sanft aus seinem Körper, dass es beinahe unmöglich war zu sagen, wann er diese Welt verlassen und in die andere Welt eingetreten war. Doch schließlich war diese Zeit gekommen und Dorcas wischte sich die Tränen aus den Augen. Sie legte ihre Hand auf den Kopf ihres Mannes und flüsterte: »Auch du warst mein Leben und meine Liebe …!«

An der Beerdigung nahmen so viele Leute teil, wie es in dem kleinen Dorf noch nie vorgekommen war. George Wakefield war erstaunt, wie viele trotz des schlechten Wetters gekommen waren. Die kleine Kirche war überfüllt und alle diese Menschen standen auch während der kurzen Ansprache am Grab.

Als die Familie ins Haus zurückgekehrt war, schüttelte Sir George erstaunt den Kopf. »Nie hätte ich gedacht, dass Andrew eine solche Menge liebevoller und umsichtiger Freunde hat.«

»Er war ein liebevoller und umsichtiger Mann«, erwiderte Dorcas leise.

Mit gebeugtem Kopf stand George vor ihr und dachte über das Gesagte nach. Lange Zeit sagte er nichts, und die Zwillinge blickten sich an und fragten sich, warum er so lange schwieg.

Schließlich hob George den Kopf. »Ihr kommt mit mir«, sagte er mit entschlossenem Gesicht. Als er die verblüfften Gesichter bemerkte, fügte er schnell hinzu: »Ich meine, ihr kommt mit nach Wakefield und werdet von nun an dort leben.«

»Aber George, das ist doch unmöglich«, rief Dorcas. Sie war ganz blass geworden.

»Nein, ihr müsst! Du hast außer Gareth keine Familie mehr – und er kann nicht für euch sorgen.«

»Aber Caroline wäre bestimmt nicht –«

»Caroline hat das bereits vorgeschlagen. Sie war es, die mir gesagt hat, dass ich euch, falls wir Andrew verlieren sollten, nach Wakefield holen sollte.«

Dorcas wusste nicht, was sie sagen sollte. Sie hatte versucht, Pläne zu schmieden, aber sie hatte keine Familie und nun, da Andrew tot war, wusste sie nicht, wovon sie leben sollte. Sie blickte George an und fragte: »Bist du sicher, dass du das wirklich möchtest, Bruder?«

»Ich bin absolut sicher, meine Liebe! Du hast gehört, wie ich Andrew versprochen habe, dass ihr nun meine Familie sein würdet. Dieses Versprechen werde ich ganz bestimmt halten!« Dann drehte Wakefield sich um und sagte: »Und da ich keine eigenen Kinder habe, wird der Titel und das Anwesen an dich als dem ältesten Sohn fallen, David.«

David Wakefield war fassungslos. An so etwas hatte er nie gedacht – er konnte seinen Onkel nur erstaunt anstarren.

»Sobald alles vorbereitet ist, sollten wir aufbrechen. Ich werde veranlassen, dass jemand eure Sachen holt. Ich denke, morgen sollten wir uns auf den Weg machen, Dorcas.«

»Wie du meinst, George.«

David dachte nicht über das nach, was sein Onkel gesagt hatte. Er war zu sehr mit seinem Schmerz beschäftigt, doch als er und Paul am folgenden Morgen ihre Sachen packten, wandte sich Paul ihm zu und sagte böse: »Das ist nicht fair! Du wirst alles bekommen und ich gar nichts … nur weil du ein paar Sekunden früher geboren wurdest als ich!«

»Mir ist das nicht wichtig. Ich möchte keinen Titel. Ich werde Onkel George bitten, ihn dir zu geben.«

»Das kann er nicht. Der Erstgeborene bekommt den Titel. So ist das bei den Wakefields – das weißt du genau.«

»Was mein ist, soll auch dein sein, Paul«, sagte David. Er legte seinem Bruder den Arm um die Schulter. »Du würdest dasselbe auch für mich tun …«

Im Wohnzimmer sprachen Dorcas und George über dasselbe Thema. George hatte gesagt: »Seltsam, wie Kleinigkeiten doch so wichtig werden können.« Er sah zu, wie Dorcas nervös im Zimmer umherging und den Raum in sich aufnahm, in dem sie so lange gelebt hatte. »Ich meine, wenn Paul als Erster geboren worden wäre, würde er nun den Titel erben.«

Dorcas blickte ihn an. Sie hatte nie über solche Dinge nachgedacht, doch jetzt setzte sie sich neben George, während sie sich an die Vergangenheit erinnerte. »An so etwas haben wir nie gedacht. Wir rechneten natürlich damit, dass du Kinder haben würdest, darum war uns das nicht wichtig.«

»Seltsam mit deinen Zwillingen. Ich habe es nie so richtig verstanden – wie nur wenige Minuten über ihr Schicksal bestimmen können.«

Dorcas musste an die Geburt der Zwillinge denken. Sie hatte nicht damit gerechnet, einmal zu heiraten, und schon gar nicht, Kinder zu haben. Und als Gott Andrew dazu bewegte, sie zur Frau zu nehmen und sich in sie zu verlieben, hätte nichts auf der Erde sie glücklicher machen können. Und als sie dann auch noch schwanger geworden war und Zwillinge bekam, war ihre Freude vollkommen gewesen. »Als die Zwillinge geboren wurden, war Dr. Brown gerade nicht in der Stadt, darum kam Dr. Callendar. Mrs Lesley hat ihm assistiert.«

»Sie war in der ersten Zeit deiner Ehe doch deine Haushälterin, nicht?«

»Sie mochte mich nicht besonders«, gestand Dorcas widerwillig ein. »Ihr gefiel es gar nicht, dass ich in die Pfarrei gekommen war. Mit der Frau des vorherigen Pastors hatte sie sich sehr gut verstanden. Ich versuchte, ihr näherzukommen, aber ich weiß, dass sie mich bis heute noch nicht leiden kann. Doch als die Wehen einsetzten, war sie da. Dr. Callendar war sehr dankbar für ihre Hilfe. Er brauchte sie, weil es eine sehr schwierige Geburt war.« Sie lächelte und fügte leise hinzu: »Als Andrew nach der Geburt ins Zimmer kam, sagte ich: ›Gott hat uns einen doppelten Segen geschenkt, Mann.‹ Oh, das gefiel ihm so sehr! Ich erinnere mich, dass er sich die beiden Jungen sofort angesehen hat. Sarah hielt einen der Zwillinge und er nahm den anderen Jungen auf den Arm und drückte ihn an sich. Als dieses Kind anfing zu schreien, sagte Gareth: ›Er wird vermutlich ein Evangelist, Mr Wakefield.‹«

»Ich glaube nicht, dass ich Dr. Callendar kennengelernt habe.«

»Nein, sein Schiff lief nur wenige Stunden nach der Geburt der Zwillinge nach dem Kontinent aus.«

Sie unterhielten sich noch eine Weile und schließlich sagte Dorcas: »Ich erinnere mich, dass Andrew, nachdem Gareth und Sarah gegangen waren, zu mir kam und sich auf das Bett setzte. Jeder von uns hielt ein Baby im Arm und Andrew fragte mich: ›Welcher von beiden ist der Ältere?‹ Und ich musste ihm gestehen, dass ich es nicht wusste.«

»Das konntest du ja auch nicht.«

»Nein, ich war anderweitig beschäftigt. Da Mrs Lesley, die bei der Geburt dabei gewesen war, sich im Zimmer aufhielt, fragte Andrew sie, welcher der Jungen zuerst geboren worden sei.«

»Was hat sie gesagt?«

»Sie ist eine sehr harte Frau, doch ich erinnere mich, dass ein seltsames Funkeln in ihre Augen trat, als sie sagte: ›Natürlich der ohne Muttermal. Er wurde zuerst geboren. Der Zweite hat ein Muttermal in Form eines vierblättrigen Kleeblatts auf seiner linken Schulter.‹ Daran erkannten wir, dass David der Ältere war. Es waren nur wenige Augenblicke, aber vor dem Gesetz ist das vermutlich wichtig.«

»Ja, das ist es – es ist sogar sehr wichtig.«

Bald darauf fuhr die Kutsche draußen vor und die Jungen kamen ins Zimmer. George sagte freundlich: »Paul und David, ihr werdet jetzt ein neues Heim bekommen. Ich hoffe, ihr werdet lernen, mich als euren Vater anzusehen. Ich bin nicht der Mann, der euer Vater war, aber ich werde mein Bestes tun.«

»Vielen Dank, Onkel George«, sagte David schnell. Er trat vor und schüttelte seinem Onkel die Hand. »Du hast schon so viel für uns getan.«

Paul meinte steif: »Wir sind dir sehr dankbar, Onkel George.«

Sie drehten sich um und verließen den Raum. Für George bedeutete es eine große Anstrengung, in die Kutsche zu steigen. Die Jungen halfen ihrer Mutter hinein und kletterten dann selbst hinein. George lehnte sich aus dem Fenster und rief: »Also los, Haines, bring uns nach Wakefield.«

Als die Kutsche sich in Bewegung setzte, blickte Dorcas aus dem Fenster. Das Häuschen, in dem sie mit Andrew die glücklichsten Jahre ihres Lebens verbracht hatte, verschwand aus ihrem Blick. Sie hielt ihr Gesicht von den anderen abgewandt, damit sie ihre Tränen nicht sehen konnten.

Aber David bemerkte sie doch. Er nahm Dorcas’ Hand und drückte sie. »Es wird alles gut werden, Mutter«, flüsterte er. »Du wirst sehen.«

»Natürlich wird es das.«

Paul jedoch sagte kein Wort und warf auch nicht einen Blick zurück auf ihr Haus, wie David es tat. Er hielt seine Augen starr auf das Innere der Kutsche gerichtet und schien gar nichts zu denken. Nur seine Mutter entdeckte das Zucken seiner Lippen, aber sie wusste, es war sinnlos, mit ihm zu sprechen. Darum lehnte sie sich still in ihren Sitz, während der Kutscher die Pferde zum Herrenhaus der Wakefields lenkte – wo auf Dorcas Wakefield und ihre beiden Söhne ein neues Leben wartete.

Der Kampf ums Glück

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