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Die Verwechslung
ОглавлениеFebruar 1757
Als David Wakefield das Geschäft des Stiefelmachers verließ, blickte er glücklich auf seine glänzenden schwarzen Stiefel, die nun seine Füße zierten. Er hatte immer Schwierigkeiten gehabt, passende Schuhe und Stiefel zu finden, darum trug er seine Schuhe immer, bis sie ihm praktisch von den Füßen fielen. Eine Woche zuvor hatte seine Mutter schließlich darauf bestanden, dass er ein paar neue brauchte. »David, diese Stiefel sind eine Schande!« Sie hatte ihm aufgetragen, sich im Dorf ein Paar neue anpassen zu lassen. Nur widerwillig hatte er sich auf den Weg gemacht.
Dies war eine ungewohnte Erfahrung für David, denn er hatte sich noch nicht an den Lebensstil gewöhnt, mit dem er und seine Familie nun, nachdem sie von Cornwall nach Wakefield gekommen waren, konfrontiert wurden. Sein ganzes Leben lang hatte er von seinem Vater oder seiner Mutter die Worte gehört: »Das können wir uns einfach nicht leisten …« Solche Worte hörte man in Wakefield niemals! Kleider, Stiefel, Schuhe, ein Sattel und sogar ein Pferd standen immer zur Verfügung.
Ich könnte mich daran gewöhnen, reich zu sein, dachte David, als er die Straße entlangging. Fast allen, denen er begegnete, nickte er freundlich zu, denn Wakefield war ein kleines Dorf, und in dem Jahr, in dem er mit seiner Mutter und seinem Bruder bei Sir George Wakefield und seiner Frau Caroline lebte, hatte er jeden kennengelernt. Es war ein klarer Morgen, und die Sonne begann bereits die Steine des Kopfsteinpflasters zu erwärmen, über das David marschierte. Bald würde der März anbrechen und der Frühling nach England kommen. Die Grashalme würden die harte Erde durchbrechen und wilde Blumen auf den Wiesen und Feldern aufblühen.
David atmete tief durch und betrachtete erneut seine Stiefel. Sie passten hervorragend und er wurde von einer Welle des Glücks erfasst. Der Stiefelmacher verstand sein Handwerk, denn die Stiefel saßen an seinen Füßen wie eine zweite Haut. »Herr, wie schön ist es, Schuhe zu haben, die passen!«, murmelte er leise. Es war gleichzeitig ein Ausruf der Freude, aber auch ein Dankgebet. Er ging weiter und war sicher, dass alle seine neuen Stiefel bewunderten. Bei dieser Vorstellung musste er laut lachen. Paul und er lebten nun schon seit einem Jahr auf Wakefield und beide wurden bald sechzehn. Damals in Cornwall wären die Sachen, die er jetzt trug, etwas ganz Besonderes gewesen, doch auf Wakefield waren es Alltagskleider: Ein weißes Batisthemd mit Rüschen vorne und an den Manschetten, eng anliegende Kniehosen aus leichter Wolle, schwere weiße Seidenstrümpfe und eine kurze Wolljacke.
David wurde von dem köstlichen Duft einer Bäckerei angelockt. Er zögerte nur kurz, bevor er eintrat. »Guten Morgen, Mr Brown«, sagte er zu dem Besitzer, einem kleinen dicken Mann mit einer weißen Schürze. »Sind die Törtchen frisch?«
»Das sind sie allerdings Mr – äh, seid Ihr nun Mr David oder Mr Paul?«
David war mittlerweile daran gewöhnt, dass niemand sie auseinanderhalten konnte, und lächelte. »Versucht nicht, uns auseinanderzuhalten, Mr Brown, Das gelingt sowieso keinem. Mr Wakefield reicht aus.«
»Ich habe noch nie zwei junge Männer kennengelernt, die sich so ähnlich gesehen haben«, sagte Brown und schüttelte verwundert den Kopf. Dann konzentrierte er sich auf die geschäftlichen Angelegenheiten. Er hob den mit einem weißen Tuch abgedeckten Teller hoch, nahm das Tuch ab und präsentierte dem jungen Mann stolz seine Waren. »Ich wage zu sagen, dass es in ganz England keine besseren Törtchen gibt.«
»Ich nehme ein halbes Dutzend, Mr Brown.«
»Ein halbes Dutzend, wie Ihr wünscht, Sir«, wiederholte Brown eifrig und wickelte schnell sechs der Törtchen in ein Papier ein. Er reichte sie David, der ihm dafür eine Münze gab und zufrieden nickte. »Guten Tag, Sir.«
»Guten Tag, Mr Brown.«
David verließ das Geschäft, doch der Duft der Törtchen war zu verlockend. Er blickte sich auf der Hauptstraße des Dorfes – eigentlich der einzigen Straße – um und ging zu der Bank, die vor dem Geschäft des Kesselflickers stand. »Habt Ihr etwas dagegen, wenn ich mich auf Eure Bank setze, Mr Stallings?«
»Natürlich nicht, Master Wakefield. Sieht so aus, als hättet Ihr Euch heute Morgen ein gutes Frühstück mitgebracht.«
»Versucht eines der Törtchen, Mr Stallings«, erwiderte David lächelnd. Er gab dem Kesselflicker ein Gebäckstückchen und die beiden setzten sich und bissen genussvoll in den Kuchen. Er zerging ihnen förmlich auf der Zunge. Als Stallings mit einem Kunden hineinging, blieb David sitzen und aß langsam weiter. Wie in allem ging er auch hierbei sehr methodisch vor. Er nahm kleine Bissen, kaute nachdenklich und genoss den Geschmack. Paul hätte seines mittlerweile schon vollständig aufgegessen, denn wie bei den meisten Dingen unterschieden sich die beiden Zwillinge in ihren Essgewohnheiten vollkommen voneinander.
Mit halb geschlossenen Augen dachte David an das Buch, das er am vorhergehenden Abend gelesen hatte – ein Gedichtband von einem Prediger mit Namen John Donne. David hatte ein ausgezeichnetes Gedächtnis und konnte sich praktisch das gesamte Gedicht wieder in Erinnerung rufen, das er am Abend wieder und wieder gelesen hatte. Es war ein ungewöhnliches Gedicht, und er war erstaunt gewesen festzustellen, dass der Dichter ein Kirchenmann war. Er dachte an die Worte und freute sich an den Bildern und Ausdrücken genauso sehr wie an dem Kuchen, den er gerade gegessen hatte.
David dachte über jeden Aspekt des Gedichtes eine Zeit lang nach. Die Sonne war warm und die Straße angenehm lebendig mit dem Lärm eines englischen Dorfes am Morgen. Als er in der Tüte nachsah, war er erstaunt festzustellen, dass sie leer war. Ich habe alle aufgegessen! Beschämt darüber, ein solcher Vielfraß zu sein, faltete er das Papier zusammen und steckte es in seine Tasche. Dann erhob er sich und ging zum Hufschmied zurück, wo er sein Pferd abgestellt hatte.
»Ach, da bist du ja, mein Hübscher!«
Eine junge Frau von etwa achtzehn Jahren tauchte auf und nahm David am Arm. Sie war ein süßes Ding mit einer Fülle von blonden Haaren und betörenden grünen Augen. Ihre üppige Figur wurde durch ihr Kleid sehr gut zur Geltung gebracht. Als sie sich an den erstaunten David drückte, flüsterte sie: »Wie wär’s? Sollen wir uns wieder am Fluss treffen?«
Sofort wurde David klar, dass das Mädchen, wer immer es war, ihn mit Paul verwechselte. Er selbst hatte praktisch keinerlei Kontakt zu jungen Frauen, aber von Paul wurden sie magisch angezogen. Sie liefen ihm nach, ohne dass er viel dazu zu tun brauchte.
David räusperte sich. Das Mädchen klammerte sich so fest an ihn, dass sich seine Gedanken überschlugen und sich seltsame Gefühle in ihm bemerkbar machten. Mit heiserer Stimme sagte er: »Ich – ich glaube, Ihr habt Euch geirrt.«
»Ach komm schon. Du kannst Molly doch nicht zum Narren halten! Du meine Güte, ich hätte nie gedacht, dass ich dich einmal zu einem Treffen mit mir drängen müsste, Süßer.«
David erinnerte sich, dass Paul von einem Bauernmädchen mit Namen Molly Satterfield gesprochen hatte, und er dachte: Warum gehe ich nicht einfach mit ihr? Sie würde es nie merken.
Die Versuchung wurde immer stärker, und als das Mädchen seinen Arm mit ihren kräftigen Fingern streichelte, fragte er: »Wo am Fluss?«
Molly Satterfield kicherte. »Als ob du das nicht wüsstest! Du bist doch oft genug da gewesen. Erzähle mir nicht, du hättest es vergessen!«
David hatte sich häufig gefragt, wie es sein würde, ein Mädchen zu lieben, aber abgesehen von ein paar flüchtigen Küssen von einer jungen Frau in Cornwall, die alle zu nichts geführt hatten, hatte er keinerlei Erfahrung. Und nun war er bis in die Tiefe seiner Seele aufgewühlt, denn diese Versuchung war sehr real. Er war Christ und versuchte verzweifelt, gegen die Begierde anzukämpfen, die seine Knie schwach werden und Gefühle in ihm aufkommen ließ, die gleichzeitig fordernd, aber auch angenehm waren.
Er wollte gerade sagen: »Lass uns zusammen gehen«, als eine raue Hand ihn packte und er herumgerissen wurde. Vor ihm stand ein stämmiger junger Mann, dessen grobes Gesicht rot vor Zorn war. »Ich habe dir gesagt, du sollst meine Schwester in Ruhe lassen, Wakefield!«, sagte er drohend. Die Hände des jungen Mannes waren groß und ziemlich schmutzig und er trug die Kleidung eines Bauern.
»Du sollst ihn in Ruhe lassen, Ebon!«, gab das Mädchen zurück. »Das geht dich nichts an!«
»Wenn ein Mann mit meiner Schwester seine Spielchen treibt«, gab Ebon drohend zurück, »dann geht es mich sehr wohl etwas an!«
David fehlten die Worte. Auf einer Seite klammerte sich Molly an ihn, auf der anderen hielt ihn ihr hünenhafter Bruder mit eisernem Griff fest. Ebon war ein Riese von einem Mann und David war hilflos in seinem Griff.
Als Ebon die Bitten seiner Schwester ignorierte, wurde sie ungeduldig. Doch er packte sie mit seiner freien Hand, als wäre sie ein Kind, und zerrte sie von David fort. Ohne auch nur innezuhalten, fuhr er fort: »Ich habe dir ja gesagt, was passieren würde, wenn du deine Finger nicht von ihr lässt, nicht? Das hast du jetzt davon!«
Noch immer hielt er David mit seiner linken Hand und holte nun zu einem Schlag aus, der David an der Stirn traf. Es war, als wäre er von dem Vorschlaghammer des Hufschmieds getroffen worden. Als er zurücktaumelte, sah er nur noch Sternchen und Blitze zucken, und er hatte den Eindruck, als sei ihm die obere Hälfte seines Kopfes abgerissen worden. Er litt unter starken Schmerzen und war nahe daran, das Bewusstsein zu verlieren.
Molly schrie: »Nun sieh nur, was du getan hast!« Sie warf sich auf ihren Bruder und begann ihn mit ihren Fäusten zu bearbeiten. Er ignorierte sie zuerst, dann schob er sie beiseite. »Er bekommt noch mehr!«, sagte er. Damit ging er zu David hinüber und packte ihn am Kragen. Er riss ihn hoch und schlug erneut mit seiner Faust zu, diesmal auf den Mund. David tauchte gerade aus seiner Bewusstlosigkeit auf, und der Schmerz durchzuckte ihn, während sich sein Mund mit Blut füllte. Immer mehr Schläge prasselten auf ihn herab und nur mit Mühe konnte er seinen Kopf mit den Armen schützen. Aber er hatte keinerlei Chance gegen die brutale Gewalt von Ebon Satterfield.
Satterfield dagegen gefiel es, diesen jungen Mann zu verprügeln. Seine Lippen umspielte ein grausames Lächeln. Wenn auch Molly sich bemühte, ihn aufzuhalten, sie konnte nichts gegen ihn ausrichten.
Plötzlich wurde Ebon Satterfield am Haar gepackt und sein Kopf nach hinten gerissen. Er schrie: »Was ist –« doch seine Worte blieben ihm im Hals stecken, als er eine kalte Klinge an seiner Kehle spürte. Er wusste sofort, dass es sich hierbei um ein Messer handelte, und er schrie furchterfüllt: »Tut mir nichts!«
»Ich denke, ich werde dir die Kehle aufschneiden und dich dann verbluten lassen!«
David hatte inzwischen die Hände vom Gesicht genommen. Die Schläge hatten aufgehört, und als er aufblickte, sah er Paul hinter Satterfield stehen und ihm ein Messer an den Hals drücken. Furcht stieg in David auf, denn er kannte das unberechenbare Temperament seines Zwillingsbruders. »Nicht, Paul!«, rief er und rappelte sich hoch.
Paul Wakefields Temperament war tatsächlich unberechenbar. Als er gesehen hatte, wie dieser Kerl seinen Bruder verprügelte, hatte er sich sofort in den Kampf gestürzt und das Messer gezogen, das er immer bei sich trug. Er hielt Satterfields Kopf fest und hörte mit grimmiger Zufriedenheit das Flehen des jungen Farmers. Er sah das Blut, das am Hals des Mannes herunterlief, und hörte Mollys Stimme, die ihn anflehte, aber sein Zorn war übermächtig und er drückte ihm das Messer nur noch fester in die Haut. Dann spürte er, wie eine Hand seinen Arm packte und das Messer fortzog.
»Lass ihn los, Paul. Lass ihn los! Du tötest ihn ja!«
Davids Stimme drang zu Paul durch, und er blinzelte wie jemand, der gerade aufgewacht ist. Verächtlich nahm er das Messer vom Hals des Mannes und trat ihm fest in den Rücken. Die Wucht des Stoßes ließ ihn taumeln und zu Boden gehen. Paul bückte sich und hielt ihm das Messer vor die Augen. »Wenn du dich jemals noch einmal an irgendeinem, der meinen Namen trägt, vergreifst, werde ich dir das Herz herausschneiden, verstanden?«
Satterfield, dessen Hemd von der kleinen Schnittwunde am Hals blutig war, hob die Hände. Er hatte sich selbst als einen toten Mann gesehen und nun stand er auf und rannte, ohne ein Wort zu sagen, davon.
Molly starrte die beiden an. Sie hatte sie oft genug gesehen, doch nun erkannte sie auf einmal ihren Fehler. Als sie David verwirrt anstarrte und sagte: »Ich wusste ja gar nicht –«, begann Paul zu lachen. Er wischte das Messer mit seinem Taschentuch ab und steckte es wieder in die Scheide. »Das war sicher schlimm für dich, Bruder«, sagte er, »aber ich glaube nicht, dass Satterfield dir noch einmal Ärger machen wird. Bist du in Ordnung?«
David nickte. »J-ja, ich glaube schon.«
»Dein Mund blutet. Du gehst besser nach Hause und lässt die Wunde versorgen. Es wird schwierig sein zu erklären, wie du darangekommen bist. Man stelle sich vor, der junge David Wakefield wird von einem eifersüchtigen Bruder verprügelt.« Paul lachte erneut. Sein Zorn war jetzt ganz verflogen. Er legte den Arm um Molly und sagte: »Komm, Süße. Du hast den falschen Mann erwischt, aber das hier ist jetzt der richtige.«
Während David den beiden nachsah, durchlebte er die unterschiedlichsten Gefühle. Einerseits war er sehr froh, dass er nicht mit Molly gegangen war, denn er nahm die Sünde der Begierde genauso ernst wie jede andere Sünde. Andererseits empfand er Trauer für seinen Bruder, der den falschen Weg eingeschlagen hatte und den anscheinend nichts aufhalten konnte. Wenn auch Paul nie wieder darüber gesprochen hatte, so wusste David doch, dass er noch immer wütend darüber war, dass David der Erbe Sir George Wakefields war. Das stand wie eine Mauer zwischen ihnen und David war sehr traurig darüber. Langsam drehte er sich um und ging weiter zum Hufschmied, wo er sein Pferd bestieg und nach Hause ritt. Sein ganzer Körper tat weh von den Schlägen, die er bekommen hatte.
Dorcas und Caroline saßen im Wohnzimmer. Es war das schönste Zimmer im Haus, und Besucher, die zum ersten Mal kamen, waren von seiner Schönheit immer wieder überwältigt. Es war fünf Meter breit und sieben Meter lang, grüne und karmesinrote Teppiche lagen darin und die Wände waren mit einer grünen Tapete mit einer Goldbordüre tapeziert. Durch zwei bis auf den Boden gehende Fenster fiel genügend Licht in den Raum und auf den aus Mahagoniholz geschnitzten Kaminsims. Darauf standen zwei Messingkerzenständer und eine Vase. Dorcas saß mit ihrer Stickarbeit in einem George-I.-Armsessel, der mit karmesinrotem Seidendamast bezogen war und auf einer Seite eines Rosenholztisches stand. Ihr gegenüber saß Caroline auf einem Walnusssofa aus der Zeit Ludwig XIV. und las in einem Buch. An einer Seite des Raumes stand ein Cembalo und neben der Tür eine Standuhr aus Mahagoni mit römischen und arabischen Ziffern.
Dorcas sah sich im Zimmer um und dachte: Dieser Raum und seine Möbel kosten vermutlich mehr als unser ganzes Haus mit seinem gesamten Inventar in Cornwall. Doch schnell senkte sie den Blick wieder, als die Traurigkeit über sie kam. Andrew war nun seit einem Jahr tot, aber nicht ein einziger Tag verging, ohne dass sie an ihn dachte. Trotzdem, in vielerlei Hinsicht war das Leben für sie jetzt sehr viel leichter. Es gab keine Geldprobleme mehr. Caroline und George sorgten sehr gut für sie. Es war so schön zu sehen, dass ihre Jungen jetzt prächtige Kleider trugen und die beste Ausbildung durch Tutoren erhielten. Schon bald würden sie nach Oxford gehen; so war es zumindest geplant.
»Ich mache mir Sorgen um George.« Caroline blickte plötzlich auf und legte ihr Buch auf den Schoß. Nervös spielte sie mit dem Seidenkissen neben sich.
»Ich weiß. Ich wollte nichts sagen, aber er sieht überhaupt nicht gut aus.«
»Der Arzt sagte, man könne nichts machen«, berichtete Caroline leise. Sie blickte auf. Traurigkeit war in ihrem Blick zu lesen, doch dann lächelte sie. »Du und die Jungen sind mir ein solcher Trost gewesen.«
Die beiden Frauen plauderten eine Weile miteinander. Bethany, die zu Besuch war, beschäftigte sich mit Papier und Schere. Mit ihren sieben Jahren war sie das hübscheste – und klügste – Mädchen, das die Bewohner Wakefields je gesehen hatten. Sie hatte einen scharfen Verstand und sehr schnell das Lesen gelernt. Stundenlang hatte David ihr vorgelesen, während sie an ihm hing und in das Buch sah. Schon früh hatte er es sich angewöhnt, mit dem Finger über die Worte zu fahren, damit sie lernen konnte, sie zu erkennen. Und da er dieselben Geschichten immer und immer wieder vorlas, hatte sie es sehr schnell begriffen.
Als sie ein Pferd herannahen hörte, sprang Bethany auf und rannte zum Fenster. »Es ist David!«
Sie rannte aus dem Zimmer zur Tür und Dorcas schüttelte den Kopf. »Es ist schon fast eine Sünde, wie dieses Kind David anbetet.«
»Warum sollte sie auch nicht? Er verwöhnt sie schrecklich. Er ist Bethanys großes Spielzeug! Ich habe noch nie erlebt, dass David ihr etwas abgeschlagen hätte.«
Nach wenigen Minuten kam Bethany zurück. »David ist verletzt!«, verkündete sie, und ihr Gesicht war von Schmerz verzerrt, als wäre sie selbst verletzt.
Verwirrt erhoben sich beide Frauen und eilten zur Küche, wo sie David vorfanden, der sein Gesicht in einer Schüssel wusch. Er wandte sich zu ihnen um und sie sahen, dass ein Auge beinahe zugeschwollen und seine Unterlippe aufgeplatzt war.
»Was ist passiert, David?«
»Ach, nur ein kleiner Unfall. Wirklich keine große Sache.«
»Komm, lass mich das abwaschen«, sagte Bethany mit blassem Gesicht. Sie bestand darauf, dass David sich setzte, machte den Lappen nass und wusch ihm vorsichtig das Gesicht. David bemühte sich darum, das Thema zu umgehen und die Fragen seiner Mutter abzutun.
»Eine kleine Meinungsverschiedenheit«, erklärte er. »Nichts, worüber man sich Sorgen machen müsste. Komm, Bethany, wir wollen ein wenig lesen.«
Sofort nahm Bethany seine Hand und führte ihn zur Bibliothek, ihrem Lieblingsraum im Haus.
»Irgendetwas stimmt da nicht«, meinte Dorcas nervös. »David war in eine Schlägerei verwickelt.«
»Sieht so aus, als hätte er schlimme Schläge einstecken müssen. Ich wäre nicht überrascht, wenn es Paul gewesen wäre, aber David – so etwas traut man ihm gar nicht zu.« Weiter wurde nichts mehr gesagt, aber beide Frauen waren von dem Zwischenfall beunruhigt.
In der Bibliothek drückte Bethany David auf die Couch und suchte sich ein Buch. »Lies das hier vor.«
»Das wird dich bestimmt nicht interessieren. Es ist ein Geschichtsbuch, Holinsheds Chronicles. Nur eine Geschichte von alten Königen, die schon lange tot sind.«
»Das macht nichts. Ich möchte es hören.«
David zuckte die Achseln und nahm das Buch zur Hand. Er hatte es bereits gelesen, denn es war das Buch, das die Grundlage zu Shakespeares Geschichtsdramen bildete. Die meisten waren schrecklich langweilig. Aber er begann zu lesen und gleichzeitig dachte er über die Schlägerei und über Paul und Molly Satterfield nach. Doch schon bald wurde seine Aufmerksamkeit auf das kleine Mädchen an seiner Seite gelenkt, das seinen Arm umklammert hielt und ihm so viele Fragen stellte, dass er sich auf das Lesen und die Beantwortung ihrer Fragen konzentrieren musste. Sie war ein süßes Kind und David war ihr immer sehr zugetan gewesen. Als er jetzt auf sie herabsah, bewunderte er ihr schwarzes Haar und die blauen Augen, die so dunkel waren, dass sie fast schwarz erschienen. Sie wird einmal eine Schönheit, dachte er und fragte sich, was für ein Mensch sie sein würde, wenn sie erwachsen war.
Die Sache hatte natürlich ein Nachspiel, womit David auch gerechnet hatte. Er und Paul wurden von Ives, dem Butler, geholt. »Sir George möchte Euch in seinem Arbeitszimmer sprechen.«
»Ich frage mich, was er jetzt schon wieder will«, sagte Paul und strich sich die Haare glatt. Im Spiegel bewunderte er seine Erscheinung in den neuen Kleidern. »Nicht schlecht. Was meinst du?« Paul trug Kniehosen aus feiner burgunderfarbener Wolle, ein weißes Seidenhemd mit Rüschen an den Manschetten und eine bis in die Taille geknöpfte Jacke aus blauem und schwarzem Stoff. Auf seine weißen Seidenstrümpfe war an den Knöcheln eine Uhr aufgestickt. Dazu trug er schwarze Lederschuhe mit einer großen Silberspange.
Doch David dachte nicht an Pauls Kleider und sagte nervös: »Wir wollen mal sehen, was Onkel George von uns will.«
Die beiden jungen Männer stiegen die Treppe hinunter, gingen den langen Flur entlang und betraten das Arbeitszimmer des Herrn von Wakefield.
Beide erkannten den Sheriff, einen mageren Mann mit Namen Epps. Paul war sofort auf der Hut. Seine Augen verengten sich.
»Einer von Euch beiden ist beschuldigt worden, einen jungen Mann mit Namen Ebon Satterfield angegriffen zu haben.«
»Ebon Satterfield? Ja, den Burschen kenne ich. Ein Hüne von einem Mann und ein Tunichtgut durch und durch«, meinte Paul beiläufig.
»Sein Vater beschuldigt Euch. Einer von Euch hat ein Messer gezogen und ihn damit am Hals verletzt.«
»Wer von uns?«, fragte Paul freundlich. »Werde ich beschuldigt oder mein Bruder?«
Epps war verblüfft, weil die beiden genau gleich aussahen. Er sagte: »Paul Wakefield wird beschuldigt.«
Paul schien das Ganze zu amüsieren, doch David fühlte sich nicht wohl in seiner Haut. »Kommt schon«, sagte Sir George. »Ihr müsst doch eine genaue Identifizierung haben. Welcher meiner Neffen wird beschuldigt?«
Das Gespräch dauerte nur zehn Minuten und am Schluss hatte Sir George die Geschichte von David erfahren. Er wusste, es war die Wahrheit. »Es sieht so aus, als sei mein Neffe David von Ebon Satterfield angegriffen worden. Er wurde von ihm verprügelt, und anscheinend war es mein Neffe Paul, der verhindert hat, dass er bewusstlos geschlagen wurde. Geht zu Mr Satterfield und sagt ihm, ich würde ihn vor Gericht bringen, falls er noch ein einziges Wort in dieser Angelegenheit von sich gibt!«
»Sehr wohl, Sir«, erwiderte Epps nervös. »Ich werde ihm das ausrichten. Tatsächlich ist es so, dass ich es ihm bereits gesagt habe. Aber er ist sehr eigensinnig.«
»Sagt es ihm noch einmal«, meinte George. Er sah zu, wie der Sheriff seinen Hut nahm und ging, dann wandte er sich an David und sagte: »David, würdest du uns bitte entschuldigen? Ich möchte mit Paul sprechen.«
»Ja, Onkel.«
Sobald David das Zimmer verlassen hatte, ließ sich Sir George auf seinen Schreibtischstuhl sinken. »Setz dich«, sagte er kurz angebunden. Paul hatte gelernt, die Launen seines Onkels zu unterscheiden, und im Augenblick war er nicht bester Stimmung. Er ging schweigend zum Schreibtisch und setzte sich, wartete darauf, dass sein Onkel mit seiner Predigt beginnen würde, die nun unweigerlich kommen musste.
George Wakefields Gesichtsfarbe war grau, er sah gar nicht gut aus. In der vergangenen Nacht hatte er kein Auge zugetan, denn als er sich niedergelegt hatte, schien es, als würde sein Herz stehen bleiben, darum hatte er sich in einen Sessel gesetzt und auf den Sonnenaufgang gewartet. Jetzt sah er Paul an. Seine Stimme war rau vor Erschöpfung. »Ich weiß, du bist meiner Ermahnungen und Predigten überdrüssig, Paul, aber das hier ist ernster als alles, was du bisher getan hast.«
»Aber Onkel, es ist doch nichts passiert.« Paul hob ergeben die Hände. »Er hat den armen David verprügelt. Er hätte ihn sicher getötet!«
»Aber du hast den Mann in den Hals geschnitten.«
»Das war nicht so, wie es klingt«, entgegnete Paul schnell. »Ich musste das Ungeheuer aufhalten. Er ist doppelt so groß wie ich. Mit meinen Fäusten hätte ich gegen ihn keine Chance gehabt. Ich habe einfach nur seinen Kopf zurückgebogen, ihm das Messer an die Kehle gehalten und ihm gesagt, er solle aufhören. Bei dem Kampf hat er einen kleinen Kratzer abbekommen, aber das war auch schon alles.«
Paul Wakefield war ein findiger junger Mann und ein sehr guter Redner. In dem, was er berichtete, lag gerade so viel von der Wahrheit, dass er seinen Onkel überzeugte, und als er schloss, nickte Sir George Wakefield. »Ich glaube dir, aber du hast trotzdem den falschen Weg eingeschlagen, Paul. Warum kannst du nicht so sein –« Er brach ab und wich Pauls Blick aus.
»Warum kann ich nicht sein wie David? Wolltest du das sagen, Onkel?«
»Ich meinte nur, dass er niemals Schwierigkeiten hat – und du hast anscheinend immer irgendwelche.«
»Ich brauche mich von Schwierigkeiten auch nicht fernzuhalten. Er wird der Herr von Wakefield. Ich bin ja bloß der arme Verwandte.«
»Paul, ich wünschte, es gäbe einen Weg, dieses Anwesen zu teilen, aber nur ein Mann kann den Titel tragen, nicht zwei. Er kann nicht aufgeteilt werden. Ich sorge für dich, solange ich lebe, und nach meinem Tod – du weißt ja, dass David ein gutes Herz hat. Er wird immer gut für dich sorgen.«
»Das weiß ich, Onkel. Glaube nicht, ich sei dir nicht dankbar für alles, was du für mich getan hast.« Paul mochte seinen Onkel tatsächlich. Unter seiner rauen Schale verbarg sich ein weicher Kern. Normalerweise hielt er ihn sorgfältig verborgen, doch jetzt – nur für einen Augenblick – ließ er ihn zum Vorschein kommen. Er erhob sich, ging zu seinem Onkel und legte ihm die Hand auf die Schulter. »Du bist so gut zu mir, meinem Bruder und meiner Mutter gewesen. Mein Vater wäre sehr froh darüber.«
»Glaubst du das wirklich, Paul?«
»Natürlich glaube ich das! Niemand hätte besser zu uns sein können.«
George Wakefield seufzte tief. »Ich habe versucht, mein Versprechen, das ich deinem Vater gegeben habe, zu halten.« Er sah auf und fuhr langsam fort: »Vielleicht lebe ich nicht mehr lange, Paul, aber erinnere dich an deinen Vater. Als er starb, betete er, du mögest ein guter Mensch werden. Ich bete auch dafür.« Er erhob sich. »Bedrohe nie mehr einen Menschen mit einem Messer«, sagte er. »Bitte!«
Paul sah seinem Onkel nach, als er den Raum verließ, und dachte: Er sieht tatsächlich nicht gut aus. Er wird nicht mehr lange leben. Sein schneller Verstand überlegte sofort, was das für seine Familie bedeuten würde. Was es für David bedeuten würde, wusste er. Aber er fragte sich: Was wird aus mir, wenn mein Bruder Sir David Wakefield ist?