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Der schlechte Samen
ОглавлениеMai 1753
»Oh sieh nur, dahinten im Feld! Die Äpfel sind reif!«
Dieser Ausruf kam von einem dreizehnjährigen Mädchen mit karottenrotem Haar und dem ungewöhnlichen Namen Priscilla Bean. Ihre strahlenden blauen Augen funkelten, als sie sich den beiden Jungen an ihrer Seite zuwandte. »Oh, ich würde zu gern einen dieser saftigen Äpfel essen!«
Sofort wanderte der Blick der beiden Jungen zu dem Obstgarten, der unmittelbar hinter der alten Steinmauer lag. Ihre gleichzeitige Bewegung wirkte beinahe lustig, denn sie waren eineiige Zwillinge – David und Paul Wakefield.
David und Paul sahen wirklich genau gleich aus. Sie waren dünn und ihr dunkelblondes Haar war exakt gleich lang geschnitten, bis kurz über den steifen, weißen Kragen. Ihre graublauen Augen blickten offen und ihre feinen Gesichtszüge mit der breiten Stirn und der kurzen englischen Nase ließen bereits im Alter von zwölf Jahren erkennen, dass sie später einmal sehr gut aussehen würden. Der entschlossene Mund mit der vollen Unterlippe und den außergewöhnlich schönen Zähnen und das ausgeprägte Kinn ließen Züge von Eigensinn erkennen.
Die Jungen trugen sogar die gleichen Kleider: braune Kniehosen, weiße Strümpfe, langärmlige weiße Hemden und abgestoßene Lederschuhe mit Messingschnallen. Beide hatten ihre Bücher unter den Arm geklemmt.
David Wakefield, der rechts neben Priscilla stand, ließ seinen Blick ruhig und überlegt über den Obstgarten schweifen – so wie er fast alles mit reiflicher Überlegung tat. Es sah beinahe so aus, als würde er über eine philosophische Frage nachdenken. Dann wandte er sich dem Mädchen zu und schüttelte den Kopf. »Egal, wie saftig diese Äpfel sind, Priscilla. Wir werden keinen davon bekommen. Du weißt doch, was für ein schrecklicher Mann Saul Beddows ist. Denk an das, was er im vergangenen Jahr mit Martin Drake gemacht hat, als er ihn beim Apfelklauen erwischt hat.«
Priscilla runzelte die Stirn. »Armer Martin! Er hatte den ganzen Rücken voller Striemen.«
Paul Wakefield grinste und seine Augen verschwanden bei dem für die Zwillinge so typischen Grinsen fast in den Augenhöhlen. »Martin war einfach nur dumm!«, verkündete er mit Nachdruck. »Es geschah ihm recht, dass er geschnappt wurde!« Und schnaubend fragte er: »Woher weißt du überhaupt, dass er Striemen auf dem Rücken hatte, Priscilla? Hast du sie gesehen?«
Priscilla wusste genau, welcher der Zwillinge gesprochen hatte, denn David hätte niemals eine so ungezogene Äußerung gemacht. »Du bist einfach schrecklich, Paul Wakefield! So eine Frage gehört sich nicht!«
Paul jedoch achtete nicht auf sie. Er ließ seine mit einem verschlissenen Lederriemen zusammengebundenen Bücher baumeln und richtete seine graublauen Augen abschätzend auf den Apfelbaum. »So schwierig dürfte das gar nicht sein. Die reifen Äpfel hängen zwar ganz oben, aber der alte Beddows schläft vermutlich. Ich kann ihn jedenfalls nirgends entdecken.«
David, der seinen Zwillingsbruder beinahe so gut kannte wie sich selbst, erwiderte schnell: »Er könnte dich vom Fenster aus sehen … und wenn du geschnappt wirst, weißt du ja, dass dich Schläge erwarten, Paul. Komm, lass uns gehen.«
Ein bösartiges Grinsen umspielte Pauls Lippen. Er legte den Kopf zur Seite und fragte: »Willst du wirklich einen von diesen Äpfeln, Priscilla?«
»Oh, lieber nicht! Es ist zu gefährlich!«
Paul zögerte nicht lange. »Komm, David. Wir können uns ein paar Äpfel holen und wieder verschwunden sein, bevor Beddows uns überhaupt bemerkt.«
»Nein, Paul – das gibt Ärger. Mutter und Vater würde das überhaupt nicht gefallen.«
Doch seine Worte trafen auf taube Ohren. »Hier, Priscilla«, sagte Paul, »halte meine Bücher. Ihr beide bleibt hier, während ich uns ein paar von den Äpfeln hole.« Er reichte Priscilla seine Bücher und näherte sich der Steinmauer. Vorsichtig blickte er zur Hütte hinüber, die am hinteren Ende des Obstgartens stand. Eine dünne Rauchwolke stieg aus dem Kamin auf, aber draußen war niemand zu sehen. Paul legte seine Hände auf die Mauer und sprang hinüber. Er rannte zu dem hohen Apfelbaum, einem schon sehr alten Baum, und griff nach dem untersten Ast. Schnell stieg er weiter. Die unteren Äpfel ignorierte er und schon bald war er bis ganz nach oben geklettert. Er pflückte einen von den saftigen roten Äpfeln, steckte ihn in sein Hemd und streckte seine Hand nach dem zweiten aus. Gerade hatte er nach dem dritten Apfel gegriffen, als er einen schrillen Schrei hörte. Er sah zum Haus hinüber und entdeckte Saul Beddows, der von seiner Veranda sprang und wütend mit seinem knorrigen Spazierstock fuchtelte.
»Lauf!«, rief Priscilla und packte David an der Hand. »Komm schon!«
»Wir bleiben besser hier bei Paul.«
»Wir müssen weg!«, drängte sie. »Ich darf auf keinen Fall erwischt werden. Mein Pa würde mich auspeitschen, wenn er herausfände, dass ich Äpfel klaue!«
Paul schnappte sich noch den dritten Apfel, stopfte ihn in sein Hemd und kletterte mit der Geschwindigkeit eines Affen vom Baum herunter. Unten angekommen rannte er, so schnell er konnte, zu der Mauer, dicht gefolgt von Saul Beddows. Mit Leichtigkeit sprang er darüber und lief in den Wald auf der anderen Seite des Weges. Hinter sich hörte er Saul Beddows wütend schimpfen, aber Paul lachte nur, während er immer tiefer im Wald verschwand. Der alte Mann würde ihn nun nicht mehr einholen können. Er kämpfte sich durch den Wald, bog auf einen mit Dornen überwucherten Weg ab und erreichte schließlich eine Viertelmeile von Beddows’ Haus entfernt die Straße wieder. Dort wartete er einen Augenblick und kurz darauf kamen David und Priscilla die Straße entlanggerannt.
»Hier, bitte, Priscilla«, sagte Paul und holte einen Apfel aus seinem Hemd. »Einen für dich, David – und einen für mich.«
Nur widerwillig nahmen Priscilla und David die Äpfel entgegen. David schüttelte den Kopf. »Ich fürchte, wir werden deswegen Ärger bekommen.«
»Du machst dir zu viele Gedanken«, sagte Paul achselzuckend. Dann biss er herzhaft in den Apfel. »Hmmm! Die sind gut! Los, komm schon, Priscilla, beiß rein.« Lachend fuhr er fort: »Adam und Eva haben ja auch wegen einer Frucht von einem Baum Ärger gekriegt, aber wir machen uns darum keine Gedanken, nicht?«
Priscilla biss in ihren Apfel, doch David starrte seinen nur an, schüttelte langsam den Kopf und gab ihn Paul zurück. »Ich wünschte, du hättest es nicht getan«, sagte er. »Es wird ganz bestimmt Ärger geben.«
Das Haus, in dem der Prediger Andrew Wakefield mit seiner Frau Dorcas und den Zwillingen David und Paul wohnte, sah aus wie die meisten bescheidenen Häuser im ländlichen Cornwall des Jahres 1753. Es war aus den Steinen gebaut, die man in dieser Gegend fand, und sein spitzes Dach war mit Stroh gedeckt. Zwei kleine Fenster in der Mitte ließen etwas Licht hinein, genau wie das einzige Fenster im ersten Stock. An einer Seite befand sich ein massiver Steinkamin, der beinahe zu groß für das bescheidene Häuschen wirkte. Die Südseite war von Weinranken überwuchert und eine riesige Eibe gab ausreichend Schatten; sie wurde von den Jungen als Kletterbaum benutzt.
Das Innere des Häuschens war bescheiden eingerichtet: In dem großen Raum links wurde gekocht und gegessen, rechts daneben befand sich ein Wohnzimmer und ein kleines Arbeitszimmer. Im hinteren Teil waren noch zwei Schlafzimmer untergebracht und eine schmale Treppe führte zu dem oberen Schlafzimmer. Die Küche, in der zwei Frauen und zwei Kinder saßen, hatte eine niedrige Decke und wurde von einer großen, mit Steinen eingesäumten Feuerstelle beherrscht. Jeder Zentimeter war mit Kupferkesseln, Töpfen und Gerätschaften aller Art vollgestopft. Neben der Feuerstelle stand ein von Messingringen zusammengehaltenes Butterfass, dem man den häufigen Gebrauch ansah. An der Decke hingen getrocknete Apfelstreifen, Pfefferschoten und Kürbisstreifen. Die Wände waren weiß getüncht und neben dem großen Fenster auf der Südseite standen auf einem Regal Eisen- und Kupfergeräte.
Eine der Frauen erhob sich von ihrem Stuhl und ging zu dem schwarzen Topf, der über dem Feuer hing. »Ich glaube, das Stew ist schon fast fertig.« Dorcas Wakefield rührte mit ihrer linken Hand in der Suppe. Ein Unfall in ihrer Kindheit hatte dazu geführt, dass sich die Finger ihrer rechten Hand nach innen krümmten und bis auf den Daumen bewegungslos blieben. Sie war achtunddreißig Jahre alt, und man konnte bei ihr noch die Spuren der schönen Frau erkennen, die sie mit achtzehn gewesen war. Ihre Figur war etwas fülliger, aber ihre Gesichtszüge waren ansprechend: große dunkelblaue Augen und dunkles, fast schwarzes Haar, von nur wenigen grauen Strähnen durchzogen. Dorcas rührte noch einmal in der Suppe, legte den Deckel wieder auf den Topf und kehrte zu ihrem Stuhl zurück. Mit einem Blick auf die beiden Kleinen im hinteren Teil des Zimmers meinte sie: »Ich kann kaum glauben, dass unsere Kinder so schnell groß werden, Sarah.«
Sarah Morgan blickte ihre geliebte Freundin an, die ihre Schwägerin geworden war. Sarah war eine Lancaster, die Tochter von Sir Talbot Lancaster. Als sie ihr bequemes Leben aufgegeben hatte, um Dorcas’ Bruder Gareth Morgan, einen armen Methodistenprediger zu heiraten, waren sowohl Sir Talbot als auch seine Frau Jane entsetzt gewesen. Es hatte mehrere Jahre gebraucht, bis sie sich mit Sarahs Entscheidung abgefunden hatten. Mit ihrem blonden Haar und den blaugrauen Augen war Sarah noch immer eine Schönheit. Wenn sie auch genauso alt war wie Dorcas, wirkte sie sehr viel jünger als die Freundin. »Ja, sie werden groß«, stimmte sie zu und warf einen Blick auf die Kinder. »Ich bin froh, dass sie sich so gut verstehen. Die meisten Jungen machen sich wenig aus ihren kleinen Schwestern, aber Ivor hat sich seit Bethanys Geburt um sie gekümmert. Und sie betet ihn an.«
»Sie sehen Gareth sehr ähnlich, meinst du nicht?«
Es stimmte, sowohl Ivor, acht Jahre, als auch Bethany, drei Jahre, hatten viel von Gareth, ihrem walisischen Vater geerbt. Beide hatten seine pechschwarzen Haare, wenn auch Bethanys lang und Ivors kurz geschnitten waren. Auch hatten sie seine dunkelblauen Augen geerbt, sein fein geschnittenes Gesicht und seine ausgeprägten Wangenknochen sowie seine schlanke Figur. Sarah meinte lächelnd: »Ich nehme an, dunkles Haar und dunkle Augen siegen über blondes Haar und hellblaue Augen, wie ich sie habe. Aber das ist schon in Ordnung. Ich fand ihren Vater sowieso immer hübscher als mich.«
Dorcas Wakefield lachte. »Sag ihm das nur nicht.«
»Dazu ist es zu spät. Das habe ich bereits«, erwiderte Sarah. Obwohl Gareth die Gemeinde in dem kleinen, etwas weiter entfernten Städtchen Deerfield betreute, war die Entfernung doch nicht so groß, dass die beiden Familien sich nicht häufig besuchen konnten. An diesem Tag waren die Morgans bei den Wakefields zu Besuch, denn kein anderer als John Wesley, der große Erweckungsprediger der Methodisten, übernachtete im Haus der Wakefields.
Wenige Meter von den plaudernden Frauen entfernt saßen die drei Prediger in Reverend Andrew Wakefields kleinem Arbeitszimmer. Dieser Raum war so mit Büchern vollgestopft, dass die drei Männer kaum noch Platz fanden. Der kleinste der drei Männer ließ seinen Blick über die überfüllten Bücherregale an den Wänden, über die auf dem Tisch und selbst auf dem Boden aufgestapelten Bücher gleiten. »Du warst schon immer eine Leseratte, Andrew.«
Der Sprecher, John Wesley, war fünfzig Jahre alt, neun Jahre älter als Andrew. Mit seinen ein Meter achtundsechzig war John schlank und sein langes kastanienbraunes Haar fiel ihm bis auf die Schultern. Sein offenes Gesicht mit den vollen Lippen und seiner langen dünnen Nase war häufig Gegenstand von spöttischen Bemerkungen seiner Gegner. Aber dieser Lehrer aus Oxford hatte zusammen mit seinem Bruder Charles England aufgewühlt. Ihre Lehre erschütterte die Grundfesten der anglikanischen Kirche. Die Wesleys hielten jedoch an der etablierten Kirche fest und hofften, dass die Tausende, die sich bei ihnen bekehrt hatten und ihre Gottesdienste besuchten, irgendwie ihren Platz in dieser Kirche fanden.
Jedoch gab es so gravierende Unterschiede zwischen Wesley und der etablierten Kirche, dass John manchmal beinahe verzweifelte, wenn er eine solche Versöhnung sah. Er lehnte sich nun zurück und sagte: »Ich musste gerade an die Zeit denken, als du, Charles und ich nach Savannah gingen.«
»Ich denke auch viel an diese Zeit in Amerika, Mr Wesley.« Andrew Wakefield war durchschnittlich groß und noch immer so schlank wie vor zwanzig Jahren. Sein dunkelblondes Haar war kurz geschnitten und umrahmte seine intelligenten blauen Augen, seine gleichmäßigen Gesichtszüge, die breite Stirn und seinen sehr ausdrucksvollen Mund. Er lächelte Wesley an und seine graublauen Augen funkelten amüsiert. »Ich glaube, wir haben jeden Fehler gemacht, den ein Missionar nur machen kann.«
Wesley runzelte die Stirn, denn er wurde nicht gern an seine Fehler erinnert, aber sein ihm angeborener Sinn für Humor siegte und er lachte. »Du hast recht, Andrew! Wir haben es gut gemeint, aber ich weiß noch, wie ich in mein Tagebuch schrieb: ›Ich bin nach Amerika gegangen, um die Heiden zu bekehren – aber wer wird mich bekehren?‹«
Wesley gegenüber saß ein dritter Mann, Gareth Morgan. Mit seinen knapp zwei Metern Größe und dem vom Arbeiten in den Kohlenbergwerken kräftigen Körperbau war er ein Hüne von einem Mann. Seine schwarzen, lockigen Haare, die dichten Augenwimpern und das ausdrucksvolle Gesicht ließen ihn sehr gut aussehen. Er ergriff das Wort: »Würdet Ihr gern wieder nach Amerika gehen, Mr Wesley?«
»Das würde ich allerdings! Aber das ist wohl nicht nötig«, bemerkte Wesley nachdenklich. »George Whitefield hat Amerika zu seinem Missionsfeld erklärt.«
»Ich habe gehört, dass dort Großes geschieht«, meinte Andrew.
»Er ist der beste Prediger, den ich je gehört habe«, erwiderte Wesley. Er hielt inne und fügte dann hinzu: »Und er hat auch ein sehr sanftes Wesen.«
Gareth und Andrew sahen sich an, denn sie wussten sehr wohl, dass Wesley und Whitefield sehr heftige Auseinandersetzungen in Bezug auf ihre Auslegung der christlichen Lehre geführt hatten. Sie sagten nichts, aber Wesley fing ihren Blick auf und sprach weiter. »Sicher, George und ich hatten über bestimmte Punkte unsere Differenzen … aber trotzdem bewundere ich seinen Charakter und seine evangelistischen Fähigkeiten.«
»Ich glaube, in Bezug auf George habt Ihr recht. Ich erinnere mich, wie er mich unterstützt hat, als ich in Oxford war«, bemerkte Andrew.
Gareth fügte hinzu: »Wenn er nicht gewesen wäre, hätte ich sicher aufgegeben und wäre nach Wales zurückgekehrt.«
Die drei Männer unterhielten sich noch eine Weile, bis Wesley schließlich zu Andrew sagte: »Wie hast du es geschafft, in der anglikanischen Kirche zu bleiben, Andrew? Das konnte ich nie verstehen. Ich darf in keiner Kirche in London predigen.«
Andrew schüttelte den Kopf. »Ich glaube, sie kennen mich nicht besonders gut. Dies ist eine so kleine Gemeinde in einem kleinen Pfarrbezirk. Soweit ich weiß, verkündige ich dasselbe Evangelium wie Ihr, aber sobald Euer Name genannt wird, gerät alles in Aufruhr.« Er lachte über seine eigenen Worte. »Dieses Leben gefällt mir. Ich war nie dazu bestimmt, eine große Rolle im Drama dieser Welt zu übernehmen.«
»Du bist des Herrn Diener hier in Cornwall, und ich bin Gott dankbar, dass du noch immer der Kirche von England angehörst.« Wesleys Worte verklangen, während er wehmütig aus dem Fenster sah. »Ich möchte keine Teilung«, fuhr er fort. »Ich habe nicht die Absicht, irgendjemanden der Kirche von England zu entfremden.«
Gareth wartete, bis Wesley fertig gesprochen hatte. »Ich glaube, dies ist Euch von Gott in den Weg gestellt worden, Sir«, meinte Gareth. »Ich habe es zwar nie miterlebt, aber ich habe oft gehört, dass Ihr, wenn man Euch nicht erlaubte, in Eurer kleinen Kirche in Epworth zu predigen, nach draußen gegangen seid und vom Grabstein Eures Vaters aus gepredigt habt.«
Wesley lachte. »Ja, das habe ich tatsächlich getan. Vielleicht steckt doch ein klein wenig Arroganz in mir. Ich bin ziemlich anfällig für solche Dinge.«
»Sagt so etwas nicht«, meinte Andrew schnell. Er liebte John und Charles Wesley von ganzem Herzen, und häufig war er versucht gewesen, aus der etablierten Kirche auszutreten und sich Wesley anzuschließen, wie Gareth es getan hatte. Aber irgendwie hatte Gott ihm gezeigt, dass sein Platz in der Gemeinde in Cornwall war. Er sprach seine Gedanken aus. »Ich denke, dass auch ich eines Tages aus der Kirche von England austreten werde, aber bis dahin werde ich hierbleiben. Die Leute haben alles, was ich weiß, schon hundertmal gehört.«
»Sie brauchen nichts anderes zu hören als Jesus«, sagte Wesley auf einmal. »Wenn du ihnen von ihm erzählst, Andrew, wie du es sicher tust, dann hören sie, was sie hören müssen.«
Gareth blickte auf, als seine Frau die Tür öffnete. »Was ist, Sarah?«
»Das Essen ist fertig.«
Die drei Männer erhoben sich sofort und Wesley verließ das Arbeitszimmer als Erster. Als sie das Esszimmer betraten, fragte Andrew: »Wo sind die Jungen?«
»Sie sind von ihrem Tutor noch nicht nach Hause gekommen«, erwiderte Dorcas. »Wir werden ohne sie anfangen. Ich bin sicher, sie werden bald kommen. Mr Wesley, wenn Ihr Euch vielleicht hierher setzt …« Mit den fünf Erwachsenen um den Tisch wirkte das Zimmer noch kleiner.
Dorcas hatte eine ausgezeichnete Mahlzeit zubereitet. Auf dem Tisch standen Schüsseln mit den köstlichsten Speisen: ein gebackener Fisch, ein schmackhaftes Stew, eine Platte mit einem knusprig gebratenen Hühnchen, Schüsseln mit Brotpudding, gewürzt mit Korinthen und Muskatnuss und eine große Schüssel geschnittener Äpfel mit Kürbisstreifen.
»Ihr seid vielleicht der Ansicht, dass Cornwall ein hartes Pflaster ist«, bemerkte Wesley. »Ich frage mich –«
Die Tür flog auf und die Zwillinge stürmten herein.
»Ihr seid spät!«, sagte Dorcas streng.
»Mr Cummings hat uns länger als gewöhnlich beim Schreiben festgehalten, Mutter«, erklärte Paul höflich.
»David!« Bethany, die neben ihrem Bruder Ivor in einer Ecke des Zimmers auf einem Hocker saß, sprang nun auf und rannte durchs Zimmer zu David. Die Erwachsenen konnten David und Paul häufig nicht auseinanderhalten, doch Bethany Morgan hatte mit ihren drei Jahren diese Probleme nicht. Instinktiv schien sie David zu erkennen, weil er mehr Zeit mit ihr verbrachte als sein Zwillingsbruder und mehr auf sie einging. Bethany klammerte sich an ihn und bettelte: »Liest du mir was vor?«
»Nachher, Bethany«, erwiderte David liebevoll. Er bückte sich und gab ihr einen Kuss.
»Nun kommt, wir haben euch noch ein wenig Fisch und vielleicht einen Hühnchenschenkel übrig gelassen. Wollt ihr Mr Wesley nicht begrüßen?«
Gehorsam begrüßten beide Jungen den Besucher. »Ihr gleicht einander wie ein Ei dem anderen«, meinte Wesley erstaunt. »Wie kann man euch nur auseinanderhalten?«
»Ich bin der Böse, Mr Wesley«, sagte Paul mit einem schelmischen Grinsen. »David ist der Gute.«
Wesley lachte leise und meinte: »Dann brauchst du also nur lieb zu sein, und deine Eltern werden glauben, du bist der Gute?«
»Ja Sir, genau das tue ich.« Paul warf David einen Blick zu. »Aber David ist niemals ungezogen, darum kann er auch niemanden täuschen.«
»Das reicht jetzt!«, sagte Dorcas streng. »Ich werde euch einen Teller fertig machen. Ihr könnt euch zu Ivor und Bethany setzen.«
Sobald die Jungen ihren Teller hatten, suchten sie sich einen Platz und begannen hungrig zu essen, während die Erwachsenen ihre Unterhaltung fortsetzten. Bethany zog ihren Hocker so dicht wie möglich an David heran und stellte ihm eine Frage nach der anderen, wobei sie ihn immer am Ärmel zupfte, um seine Aufmerksamkeit zu bekommen.
Die Erwachsenen blieben noch eine Weile am Tisch sitzen und tranken ihren Tee, während die Zwillinge ihre Mahlzeit beendeten. Plötzlich wurde heftig an die Tür geklopft. Dorcas fuhr nervös zusammen. »Wer schlägt denn da die Tür kaputt?«
»Ich werde nachsehen«, erbot sich Andrew. Er erhob sich, ging zur Tür und öffnete sie. »Ach, Mr Beddows –«
»Mr Wakefield, ich bin wegen Eurer Jungen gekommen!« Saul Beddows trat ein. Er war ein großer, stämmiger Mann von Mitte sechzig, dessen Hände von der Arthritis leicht gekrümmt waren, doch ansonsten war er noch gesund und kräftig. »Es geht um den Diebstahl, den sie begangen haben!«
Andrew starrte den alten Mann an. »Ich verstehe Euch nicht, Sir«, erwiderte er ruhig.
»Ihr werdet sehr schnell verstehen, wenn ich Euch sage, dass einer Eurer Jungen einige meiner Äpfel gestohlen hat.«
»Ich wäre sehr traurig, wenn ich annehmen müsste, dass meine Jungen so etwas tun würden.«
»Ihr könnt ruhig traurig sein, Pastor, denn ich habe ihn mit eigenen Augen gesehen. Ich hätte ihn beinahe geschnappt.«
Andrew betrachtete das Gesicht des Mannes. Er wusste, dass Beddows sehr leicht erregbar war, aber er war auch ein gutes, gottesfürchtiges Mitglied der Kirche. Ein wenig schwierig im Umgang vielleicht, doch sehr treu. »Ihr seid sicher, dass es einer meiner Jungen war?«
»Ganz sicher!«
Andrew drehte sich um und rief die beiden Jungen. Als sie neben ihm standen, fragte er leise: »Paul, hast du Mr Beddows’ Äpfel gestohlen?« Es war bezeichnend, dass er Paul fragte, denn nicht in seinen wildesten Träumen konnte er sich vorstellen, dass David so etwas getan hätte.
Paul riss die Augen auf. »Nein, Vater! Ich habe seine Äpfel nicht gestohlen!«
Andrew blinzelte und warf schnell einen Blick auf Dorcas, die nervös mit ihren Händen spielte. Dann wandte er sich an David und stellte ihm dieselbe Frage. »David, hast du Mr Beddows’ Äpfel gestohlen?«
David leckte sich die Lippen. Er hatte befürchtet, dass so etwas passieren würde, und nun waren seine schlimmsten Befürchtungen eingetroffen! Er verfügte über eine sehr lebhafte Fantasie und konnte bereits den Stock auf seinem Rücken spüren. Er wollte seinen Bruder nicht verraten, doch als er murmelte: »Nein, Sir …«, wirkte er sehr schuldbewusst.
»Er war es!«, brummte Mr Beddows. »Seht ihn Euch nur an. Schuldbewusst durch und durch.«
Dorcas stellte sich neben ihre Jungen, die bald so groß sein würden wie sie. Als sie die beiden ansah, wusste sie auf einmal, wie sich der Zwischenfall abgespielt hatte, ohne dass sie dabei gewesen war. »David hat Eure Äpfel nicht gestohlen, Mr Beddows.«
»Aber seht ihn Euch doch nur an! Er hat es getan und muss den Stock zu spüren bekommen.« Beddows ließ seinen Stock durch die Luft sausen. »Ich weiß, Ihr werdet niemals zulassen, dass ich Eure Söhne züchtige, Reverend, aber Ihr würdet sehr in meinem Ansehen sinken, wenn Ihr es nicht selbst tun würdet.«
Andrew fühlte sich schrecklich elend. Er nahm Beddows den Stock aus der Hand und blickte David an, der schuldbewusster denn je dreinblickte. »Es tut mir leid, dies tun zu müssen, David, aber –«
»Ich habe seine blöden Äpfel genommen«, sagte Paul. Er schob das Kinn vor und starrte den alten Mann an. »Ich habe drei Stück genommen. Was ist schon dabei?«
Das Verhalten des Jungen war so herausfordernd, dass die Erwachsenen im Raum entsetzt waren. Paul wusste, dass er gestraft werden würde, doch er hielt den Kopf hoch und zeigte keinerlei Furcht.
»Ich verstehe«, erwiderte Andrew langsam. »Komm mit … aber erst entschuldigst du dich bei Mr Beddows.«
»Ich habe Eure Äpfel genommen, und es tut mir leid, dass Ihr mich erwischt habt«, sagte Paul ohne Reue.
»Paul!« Dorcas war entsetzt. »So solltest du nicht mit Mr Beddows sprechen.«
Aber Paul Wakefield presste die Lippen fest aufeinander und folgte seinem Vater nach draußen. Bald war zu hören, wie der Stock auf den Rücken des Jungen niedersauste. »So etwas habe ich noch nicht erlebt«, sagte John Wesley erstaunt. »Ich fürchte, Euer Sohn ist ziemlich eigenwillig, Schwester.«
»Er hat in der Tat einen sehr ausgeprägten Willen.«
»Er muss gebrochen werden«, erwiderte Wesley sanft. »Auch ich hatte einen sehr ausgeprägten Willen und Gott musste hart mit mir ins Gericht gehen. Ich werde für Paul beten.«
»Vielen Dank, Sir«, erwiderte Dorcas leise.
Als die beiden Jungen später in ihrem Zimmer saßen, sagte David: »Ich habe es dir ja gesagt; du hättest es nicht tun sollen, Paul.«
Paul, der noch immer die Schläge seines Vaters spürte, verzog das Gesicht. »Es hat Spaß gemacht! Ich werde irgendwann abends hingehen und einen ganzen Sack voll holen!«
Die Stockschläge hatten bei Paul keinen Eindruck gemacht. Am folgenden Tag, bevor sein Vater mit Reverend Wesley zu einem etwas weiter entfernten Dorf ging, um dort zu predigen, erhielt er eine weitere Ermahnung. Andrew legte die Hand auf Pauls Schulter und sagte: »Es tut mir leid, dass ich dich schlagen musste, Paul. Das hat mir bestimmt keine Freude gemacht.«
Paul sah seinen Vater an und erwiderte: »Mach dir nur keine Gedanken, Vater. Es war nicht deine Schuld, sondern meine.«
Andrew betrachtete seinen Sohn und meinte nachdenklich: »Ich weiß, es waren nur drei Äpfel und das erscheint dir eine Lappalie zu sein – nur ein Jungenstreich. Ich habe auch solche Streiche gemacht, als ich in deinem Alter war.«
»Tatsächlich, Vater?«, fragte Paul lächelnd und interessiert. »Welche?«
Andrew lachte. »Ich werde dir ein anderes Mal davon erzählen. Alle Jungen machen so etwas.«
»David nicht«, sagte Paul und legte den Kopf zur Seite. »Ich glaube nicht, dass er in seinem Leben jemals geschlagen wurde, dafür habe ich für uns beide Schläge eingesteckt.«
»Vergleiche dich nicht immer mit deinem Bruder. Gott hat euch beide erschaffen«, sagte Andrew sanft. Es hatte ihm wehgetan, Paul mit dem Stock schlagen zu müssen, und ihm war daran gelegen, seinem Sohn dies klarzumachen. »Wir haben viele Gespräche geführt, Paul, und ich weiß, dass du der Meinung bist, ich würde viel von dir verlangen, aber ich mache mir Sorgen um dich. Es waren nur drei Äpfel, aber es war sehr eigensinnig, dich zu weigern, dich bei Mr Beddows zu entschuldigen. Und das hat mir zu schaffen gemacht. Du scheinst kein Gefühl für Recht und Unrecht zu haben.«
»Na ja, wie du schon sagtest, Vater, es waren nur drei Äpfel. Er hat Tausende.«
»Aber es waren seine Äpfel«, betonte Andrew. Und als er bemerkte, wie Paul wieder störrisch wurde, fuhr er schnell fort: »Wir wollen die Sache jetzt auf sich beruhen lassen. Ich werde heute Abend erst sehr spät wiederkommen und Mr Wesley setzt seine Reise fort.«
»Halte ihnen eine gute Predigt, Vater.«
Andrew musste unwillkürlich lächeln. Sein rebellischer Sohn konnte unglaublich charmant sein, wenn er es darauf anlegte. »Vielen Dank, mein Sohn«, erwiderte er. »Ich werde mich bemühen.« Er wollte den Jungen umarmen, aber Paul mochte so etwas nicht besonders. Da Wesley wartete, nahm Andrew seinen Hut und seinen Mantel, und nachdem er sich von seiner Frau und David verabschiedet hatte, ging er. Wesley und er nahmen die Pferde, da es zu dem Dorf, in dem sie erwartet wurden, zu weit zu laufen war. Andrew winkte seiner Familie noch einmal zu, als sie losritten. Wesley sagte: »Ich bewundere deine Familie, Andrew. Du hast eine prächtige Frau. Eine sanfte Frau. Und dein Junge erinnert mich an George Whitefield. Ein so sanfter Geist! Der andere«, fügte er nachdenklich hinzu, »ist anders.«
»Ich wäre Euch dankbar, Mr Wesley, wenn Ihr für Paul beten würdet.«
»Ganz bestimmt. Du kannst dich darauf verlassen.«
Als die beiden Männer das Dorf erreichten, in dem die Versammlung abgehalten werden sollte, wurden sie bei dem Leiter der dortigen Gruppe, einem großen, stämmigen Mann namens Johnson, begrüßt. Sobald die beiden Prediger abgestiegen waren, nahm er ihre Pferde und sagte besorgt: »Mr Wesley, ich denke, es wäre besser, wir würden die Versammlung verschieben.«
»Was ist los, Mr Johnson?«
»Nun, Sir, hier in der Umgebung gibt es eine Menge Raufbolde. Sie haben darüber gesprochen, wie sie … nun, sie sagen, sie würden Euch und Reverend Wakefield etwas antun, wenn Ihr die Versammlung abhaltet.«
»Lasst Euch niemals von Euren Ängsten bestimmen, Bruder«, erwiderte Wesley fröhlich. Schon oft hatte er vor aufgebrachten Menschenmengen gestanden. Das gehörte zum Methodismus dazu. Die Prediger, die Wesley aussandte, wurden häufig mit verfaultem Gemüse oder toten Katzen beworfen. Manchmal wurden sie geschlagen und nicht selten in einen Fluss oder Bach geworfen. Wesley zeigte keinerlei Besorgnis, genauso wenig wie Andrew Wakefield. Die beiden Männer machten sich auf den Weg zu dem Feld, auf dem die Versammlung abgehalten werden sollte, und fingen sofort an. Wie gewöhnlich ließ Wesley einige Lieder singen, bevor er mit seiner Predigt begann. Schon bald war die Luft erfüllt mit Liedern, von denen einige kein anderer als sein Bruder Charles geschrieben hatte.
Nach dem Singen stellte sich Wesley in seinen anglikanischen Kleidern auf eine kleine Erhöhung und begann zu den etwa hundert Menschen zu sprechen. Er hatte sich zu einem hervorragenden Freiluftprediger entwickelt. In dieser Beziehung hatte er viel von George Whitefield gelernt. Wenn er auch nicht Whitefields kräftige Stimme noch die Ausstrahlung des jüngeren Evangelisten besaß, so war er doch beeindruckend. Wesley war etwa in der Hälfte seiner Predigt angekommen, als Andrew plötzlich eine Bewegung wahrnahm. Von links sah er eine Gruppe von fünfzehn bis zwanzig Personen herankommen. Die Männer waren alle ärmlich gekleidet und wirkten recht grob. Einige von ihnen trugen Knüppel.
»Halt den Mund, Wesley!«, rief einer von ihnen, ein großer, stämmiger Mann, der der Anführer zu sein schien.
»Wir sind hier, um das Evangelium von Jesus zu verkündigen. Wir wollen niemandem etwas Böses tun«, erwiderte Wesley ruhig.
»Aber ich möchte dir Böses tun, Prediger! Verschwinde hier. Ich würde dir raten zu tun, was ich gesagt habe.«
Wesley versuchte, vernünftig mit den Männern zu reden, aber es war sinnlos. Sie waren betrunken, wie Andrew feststellte, und nachdem sie ruhelos Wesleys Worten zugehört hatten, rief der Anführer: »Gebt ihnen einen kleinen Vorgeschmack von dem, was sie erwartet!« Damit marschierte er direkt auf Wesley los.
Eine unschöne Szene folgte. Mehrere der Zuhörer wurden von den Knüppeln getroffen, einer erlitt einen Knochenbruch und auch Wesley musste einiges einstecken. Andrew machte keinen Versuch, sich zu verteidigen, und als vier starke Männer ihn umstellten, sagte er ruhig: »Es wird euch nichts nützen, gegen das Evangelium anzugehen. Warum stellt ihr euch gegen Jesus Christus, der euch liebt?«
»Genug davon! Ich glaube, er sollte getauft werden«, schrie einer der offensichtlich betrunkenen Männer. »Packt ihn und werft ihn in den Fluss!«
Andrew wurde ergriffen und zu dem breiten Fluss gezerrt, der in der Nähe des Dorfes vorbeifloss. Jeder seiner Gegner packte eines seiner Glieder und dann warfen sie ihn hoch durch die Luft ins Wasser. Mit dem Kopf zuerst landete er im Fluss. Ein schrecklicher Schmerz durchzuckte ihn. Danach verlor er das Bewusstsein.
Nachdem es Wesley gelungen war, den Mob zu beruhigen, und sich die meisten der aufgebrachten Männer zurückgezogen hatten, rief Johnson: »Sie haben Reverend Wakefield in den Fluss geworfen!«
Sofort eilte Wesley mit einer Gruppe hinunter zum Ufer. »Er ertrinkt! Jemand muss ihn sofort herausholen!«, rief Wesley. Ohne lange zu überlegen, sprang Johnson ins Wasser. Andrew Wakefield trieb mit dem Gesicht nach unten auf dem Wasser und rührte sich nicht, als Johnson ihn packte.
»Er bewegt sich nicht!«, rief Johnson, als er den Prediger umdrehte, damit er wieder Luft holen konnte. Nachdem er Andrew ans Ufer gezogen hatte, streckten sich ihm Hände entgegen, um ihm zu helfen, den bewusstlosen Mann ans Ufer zu ziehen. »Ist er ertrunken?«, fragte Johnson ängstlich.
»Nein, er atmet, aber er ist bewusstlos«, antwortete Wesley. Alle sammelten sich um den Verletzten und einige begannen zu beten. Schließlich seufzte Wesley erleichtert auf. »Seine Augenlider bewegen sich. Ich denke, es wird alles wieder gut werden.« Er wartete noch einige Minuten, dann hob er Andrews Kopf hoch. »Bist du in Ordnung, Andrew?«
Andrew erwachte aus seiner Bewusstlosigkeit. Er hustete, um seine Lungen freizubekommen, und blinzelte. Als er die Hand hob, um sich das Wasser aus dem Gesicht zu wischen, kam seine Erinnerung zurück. »Sie haben mich in den Fluss geworfen«, flüsterte er. »Bin ich mit dem Kopf aufgeschlagen? Er tut ziemlich weh.«
»Du wirst wieder in Ordnung kommen«, sagte Wesley freundlich. »Komm jetzt, wir wollen dir aufhelfen.«
Doch als sie versuchten, Andrew Wakefield auf die Beine zu helfen, rief er erstaunt: »Meine Beine! Ich kann sie nicht fühlen!«
»Was ist?«, fragte Wesley.
»Ich kann meine Beine nicht fühlen!« Andrew sah an sich hinunter. »Ich weiß, dass sie da sind, aber ich habe kein Gefühl in ihnen.« Seine Beine gaben unter ihm nach. Er hatte keinerlei Kontrolle über sie.
»Setzt ihn hierher«, sagte Wesley alarmiert. Sie setzten Andrew ab und Wesley kniff ihn ins Bein. »Kannst du das spüren, Andrew?«
»Nein. Nichts.« Und als Wesley ihn in den Oberschenkel kniff, starrte Andrew ihn an. Er sah, dass der Prediger ihn ins Bein kniff, und er schlug sich mit der Faust. »Bis hinauf zur Taille«, sagte er. »Es ist, als wäre alles taub.«
Wesley atmete tief durch. »Er braucht einen Arzt.«
Doktor Crowell, ein junger Mann von dreißig Jahren, saß an Andrew Wakefields Bett. Dorcas stand neben ihm und die Zwillinge am Fußende. John Wesley war gegangen, nachdem der Arzt ihn versorgt hatte, doch er hatte versprochen, am folgenden Tag zurückzukehren.
Dorcas suchte in Doktor Crowells Gesicht nach einem Zeichen der Hoffnung. Als sie keines entdecken konnte, sank ihr Mut. Seit drei Tagen hatte Andrew den unteren Teil seines Körpers nicht mehr bewegt. Doktor Crowell hatte gesagt, der Schock würde vielleicht nachlassen.
Auch Andrew Wakefield betrachtete aufmerksam das Gesicht des Arztes. »Keine gute Nachricht, Doktor, nicht wahr?«
»Ich wünschte, ich könnte Euch eine gute Nachricht bringen«, erwiderte Crowell langsam. Diese Seite seines Berufes hasste er. Es fiel ihm jedes Mal schwer, eine schlimme Diagnose zu stellen. »Ich fürchte, dieser Sturz hat Eure Wirbelsäule verletzt, und vermutlich wird sich Euer Zustand nur im Laufe der Zeit bessern.«
Andrew Wakefield war ein sehr intelligenter Mann. Er hörte Doktor Crowells Worte, doch er beobachtete auch aufmerksam das Gesicht des Mannes. »Ihr meint vermutlich, dass ich niemals wieder werde laufen können. Dass ich meine Beine nie wieder werde gebrauchen können.«
Crowell zögerte. »Das liegt in Gottes Hand«, sagte er schließlich und erhob sich. »Ich werde morgen wieder vorbeischauen, Reverend.«
Als der Arzt gegangen war, blickte Andrew Dorcas an. Mit ihrer gesunden Hand ergriff sie seine Hand. Tränen schimmerten in ihren Augen und plötzlich konnte sie sie nicht mehr zurückhalten. »Oh Andrew!«, sagte sie mit leiser Stimme. Dann fiel sie neben seinem Bett auf die Knie und barg ihr Gesicht an seiner Brust.
»Weine nicht, Dorcas. Alles liegt in Gottes Hand. Alles dient zu unserem Besten«, tröstete sie Andrew. Er sah die Jungen an und sagte: »Komm her, Paul, und du auch, David.« Die Jungen traten blass an seine Seite. »Es tut mir leid, dass ihr so etwas erdulden müsst, denn wenn ein Mann eine Familie hat, dann leiden alle mit, wenn ihm etwas zustößt.«
»Du wirst wieder gesund werden, Vater«, erwiderte David tapfer. Paul schwieg. Er suchte im Gesicht seines Vaters nach einer Antwort, konnte jedoch keine finden.
Andrew Wakefield wusste, dass Gott Wunder tun konnte. »Wir werden darauf vertrauen, dass Gott mir wieder Gefühl in den Beinen schenkt. Und wir werden geduldig sein. Gottes Wille soll geschehen.«
Stille erfüllte den Raum. David konnte die Tränen nun nicht mehr zurückhalten. Er wischte sie mit seinem Ärmel ab und nahm das ermutigende Lächeln seines Vaters an. Aber Paul Wakefield weinte nicht. Seine Lippen pressten sich zornig aufeinander und er dachte: Warum muss Gott meinem Vater das antun? Das ist nicht gerecht! Er sprach seine Gedanken jedoch nicht aus, aber die Rebellion stand ihm ins Gesicht geschrieben. Als Dorcas den Blick hob, erkannte sie es. Sie schüttelte leicht den Kopf, aber Paul wandte das Gesicht ab, damit sein Vater die Verbitterung in seinen Augen nicht erkennen konnte.