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Als Hitler kokste

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Die Injektionen begannen kurz nach dem Frühstück. Sobald Adolf Hitler seine Schüssel mit Haferflocken und Leinsamenöl geleert hatte, schickte er nach seinem Leibarzt Dr. Theodor Morell. Der Doktor krempelte seinem Patienten die Ärmel hoch, um ihm einen Drogen-Cocktail zu spritzen, dessen Inhaltsstoffe heutzutage vielfach als gefährlich, suchtfördernd und illegal klassifiziert sind.

Über neun Jahre lang verabreichte Dr. Morell dem Führer täglich Amphetamine, Barbiturate und Opiate, und zwar in einer solchen Menge, dass man ihn bald den Reichsspritzenmeister nannte. Einige von Hitlers Vertrauten fragten sich tatsächlich, ob er den Führer nicht vielleicht umbringen wollte. Doch Theodor Morell verehrte Hitler viel zu sehr, um ihn zu ermorden. Der extrem adipöse Quacksalber mit entsetzlichem Mund- und Körpergeruch begegnete dem Führer zum ersten Mal 1936 während einer Feier auf dem Berghof.

Hitler litt schon lange unter Magenkrämpfen, Durchfall und so massiven chronischen Blähungen, dass er nach jedem Mahl den Tisch verlassen musste, um sich Erleichterung zu verschaffen. Zudem waren seine unkonventionellen Essgewohnheiten seinem Gesundheitszustand nicht unbedingt förderlich. 1931 hatte er aufgehört, Fleisch zu essen, nachdem er den Verzehr von Schinken mit dem Verzehr einer menschlichen Leiche gleichgesetzt hatte. Seitdem verspeiste er große Mengen wässrigen Gemüses, jeweils püriert oder zu Brei zerdrückt. Dr. Morell beobachtete Hitler bei einer solchen Mahlzeit und studierte deren Folgen: Verstopfung und Flatulenz in einem Ausmaß, wie es ihm bislang selten begegnet sei, notierte er und versicherte Hitler, dass seine Wundermittel ihn von all seinen Problemen erlösen würden.

Er begann mit kleinen schwarzen Tabletten, die er Dr. Kösters Antigas-Pillen nannte. Hitler nahm davon sechzehn pro Tag ein, wobei ihm offenbar nicht bewusst war, dass sie das Nervengift Strychnin enthielten. Zwar minderten diese Tabletten – zeitweise – seine Blähungen, doch waren sie mit ziemlicher Sicherheit auch der Grund für die Konzentrationsausfälle und die fahle Hautfarbe, die seine letzten Lebensjahre kennzeichneten. Als Nächstes verschrieb Morell ein auf Kolibakterien basierendes Probiotikum namens Mutaflor, das die Darmflora des Führers weiter zu beruhigen schien. Hitler war von der Leistung seines Arztes so begeistert, dass er ihn in den innersten Zirkel der nationalsozialistischen Elite einführte. Von diesem Moment an wich Morell ihm nicht mehr von der Seite.

Neben den Magenkrämpfen litt Hitler zudem unter morgendlichen Erschöpfungszuständen. Um diese zu lindern, injizierte Morell ihm eine wässrige Flüssigkeit, die er aus einem in Goldfolie verpackten Pulver zusammenmischte. Auch wenn er den Wirkstoff nie preisgab, der sich in dem Pulver verbarg, das er Vitamultin nannte, wirkte er wahrhaft Wunder. Innerhalb von Minuten erhob Hitler sich erfrischt und voller Energie von seiner Couch.

Der SS-Arzt Ernst Günther Schenck wurde misstrauisch, und es gelang ihm, eines von Morells goldenen Briefchen im Labor zu untersuchen, wo sich herausstellte, dass es sich dabei um Metamphetamin handelte. Hitler machte sich darüber keine Gedanken, solange die Droge nur Wirkung zeigte. Es dauerte nicht lange, und er war so abhängig von Morells Wundermitteln, dass er sich komplett in die Hände seines Arztes begab – mit katastrophalen Folgen: Die Invasion der Sowjetunion dirigierte er unter dem Einfluss von bis zu achtzig verschiedenen Drogen, unter anderem Testosteron, diversen Opiaten, Beruhigungs- und Abführmitteln. Morells Aufzeichnungen zufolge verabreichte er dem Führer zudem diverse Barbiturate, Morphine, Bullenspermata und Probiotika.

Die überraschendste Droge, die Dr. Morell Hitler verabreichte, war Kokain. In den 1930er-Jahren wurde es in Deutschland hin und wieder zur medizinischen Behandlung eingesetzt, jedoch nur in extrem niedriger Dosierung und in einer Konzentration unter einem Prozent. Morell begann damit, Hitler Kokain in Form von Augentropfen zu verabreichen. Da er wusste, dass der Führer erwartete, sich nach der Einnahme der Drogen deutlich besser zu fühlen, erhöhte er die Kokainmenge in den Tropfen auf das Zehnfache. Diese hohe Konzentration könnte Hitlers psychotisches Verhalten in seinen letzten Jahren erklären.

Der Führer erlebte Kokain als extrem wirksam. Eine Sammlung medizinischer Aufzeichnungen, die 2012 in den USA gefunden wurden (unter anderem ein 47-seitiger Bericht von Morell und anderen Ärzten des Führers), legt nahe, dass Hitler sich schon bald nach der Droge sehnte – ein deutliches Zeichen einer ernsten Abhängigkeit. Neben den Augentropfen begann er nun auch Kokain zu schnupfen, um seine Nebenhöhlen zu reinigen und den rauen Hals zu beruhigen.

Das Kokain mochte ihm geholfen haben, sich besser zu fühlen, doch den Sexualtrieb des Führers verstärkte es nicht. Um diesen delikaten Zustand zu überwinden, begann Morell ihm zusätzlich ein Potenzmittel zu spritzen, in dem sich das Extrakt der Prostatadrüsen junger Bullen befand. Zudem verschrieb der Arzt ihm ein auf Testosteron basierendes Medikament namens Testoviron, das Hitler sich spritzen ließ, bevor er die Nacht mit Eva Braun verbrachte.

Langfristig führten die Drogen, vor allem die Amphetamine, zu einem zunehmend unberechenbaren Verhalten. Besonders deutlich wurde das während eines Treffens zwischen Hitler und Mussolini in Norditalien. Während Hitler versuchte, sein italienisches Gegenüber davon zu überzeugen, im Krieg nicht die Seiten zu wechseln, wurde er richtiggehend hysterisch. Wie der Historiker Richard Evans schreibt: »Wir können davon ausgehen, dass Morell Hitler vor dessen Unterredung mit Mussolini irgendwelche Tabletten gegeben hat … [Hitler war] völlig überdreht, redete und redete, er war ganz offensichtlich auf Speed.«

Gegen Kriegsende befand sich Adolf Hitler in einem sehr schlechten Zustand. Seine Arme waren von den Einstichlöchern der Spritzen übersät. Morell hatte Hitler zu einem Drogenabhängigen gemacht. Doch der Arzt verehrte seinen geliebten Führer auch weiterhin und blieb beinahe bis zuletzt bei ihm in seinem Berliner Bunker.

Kurz nach dem Fall der nationalsozialistischen Diktatur wurde Dr. Morell von den Amerikanern festgenommen und fast zwei Jahre lang verhört. Einer der Offiziere, die ihn vernahmen, zeigte sich angewidert von dessen mangelnder persönlicher Hygiene. Morell wurde niemals irgendwelcher Kriegsverbrechen angeklagt und starb 1948, kurz nachdem er aus dem Gefängnis entlassen worden war, an einem Schlaganfall. Er hinterließ eine Sammlung medizinischer Aufzeichnungen, aus denen die außergewöhnliche Drogensucht seines Lieblingspatienten hervorgeht.

Es ist schon ironisch, dass der Mann, dessen Aufgabe es war, Hitler wieder gesund zu machen, vermutlich mehr als jeder andere zu dessen Untergang beigetragen hat.

Vom Mann, der mit zwei Flaschen Whiskey den Untergang der Titanic überlebte

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