Читать книгу Vom Mann, der mit zwei Flaschen Whiskey den Untergang der Titanic überlebte - Giles Milton - Страница 5
Vorwort
ОглавлениеIm Sommer 2012 tauchte in den USA eine außergewöhnliche Sammlung medizinischer Berichte auf, unter denen sich auch Aufzeichnungen von Dr. Theodor Morell, dem Leibarzt Adolf Hitlers, sowie die Notizen von vier weiteren seiner Ärzte befanden.
Auf den ersten Blick scheinen diese Dokumente kaum mehr als eine historische Fußnote zu sein, die sich in die Masse des bereits existierenden Materials über Hitler einreiht. Aber Fußnoten beinhalten nicht selten auch ein paar Edelsteine, und diese hier eröffnete ein völlig neues historisches Kapitel. Diese medizinischen Berichte belegen, dass dem Führer ein wirkungsstarker Cocktail aus Kokain, Amphetaminen, Testosteron und anderen Substanzen verabreicht wurde. Er nahm jeden Tag bis zu achtzig verschiedene Drogen, und das, während er gleichzeitig versuchte, die Weltherrschaft an sich zu reißen.
Ich verbringe einen Großteil meiner Arbeitszeit in diversen Archiven, wo ich mich durch Briefe und persönliche Dokumente arbeite, so wie die von Dr. Morell. Die riesige Sammlung der nationalen Archive ist nicht vollständig katalogisiert, und so weiß man nie, was man in den einzelnen Kisten voller Dokumente finden wird. Manchmal vergehen Tage, ohne dass man auf etwas Interessantes stößt – ich vergleiche das immer mit den Schatzsuchern, die bei Ebbe mit ihren Metalldetektoren die schlammigen Ufer der Themse absuchen in der Hoffnung, einen Shilling oder Siegelring aus dem 17. Jahrhundert zu finden.
Doch Ausdauer macht sich nicht selten bezahlt, und dieses Buch – eine etwas eigenwillige Sammlung faszinierender Anekdoten der Weltgeschichte – ist das Ergebnis meiner eigenen Schatzsuche. Zwischen all dem Treibgut und Strandgut habe ich (so hoffe ich) einige Edelsteine aufgetan. Da wäre zum Beispiel der einsame japanische Soldat, der 1974 noch immer den Zweiten Weltkrieg kämpfte. Oder der britische Agent-cum-Auftragskiller, der Rasputin ermordete und dessen Geschichte wie die von Dr. Morell erst kürzlich ans Licht gekommen ist. Oder die Geschichte der schiffsbrüchigen niederländischen Seefahrer, die vermutlich den letzten lebenden Dodo verspeisten.
Ein paar dieser Geschichten klingen wirklich unglaublich. Die Schilderungen von Sun Yaoting, dem letzten Eunuchen von China, sind nicht nur schmerzlich, sondern auch ausgesprochen ergreifend. Er berichtet vom Ende der Kaiserzeit in China, als jahrhundertealte Traditionen plötzlich ihre Bedeutung verloren und Sun Yaoting feststellen musste, dass er zu den Verlierern der Geschichte gehören würde.
Ich bin schon lange davon überzeugt, dass historische Details bei dem Versuch, die Vergangenheit zu rekonstruieren, von wesentlicher Bedeutung sind. Gerade vermeintliche Nichtigkeiten können größere Ereignisse auf eine Art untermalen, wie es der grobe Pinselstrich meist nicht vermag. Die obsessive Suche der sowjetischen Wissenschaftler nach Lenins Genialität in dessen Hirn ist ein perfektes Beispiel dafür. Es lehrt uns einiges über die Neurologie in den 1920ern, die damals noch in den Kinderschuhen steckte, und noch mehr über den Persönlichkeitskult der damaligen Sowjetunion, der zu dieser Zeit seinen Anfang nahm.
Viele der Geschichten in diesem Buch erzählen von einzelnen, meist ganz normalen Menschen, die sich plötzlich in einer wahrhaft außergewöhnlichen Situation wiederfinden. Manche von ihnen wurden, wie der Eunuch Sun Yaoting, förmlich durch bedeutende geschichtliche Ereignisse hindurchgeschwemmt. Andere wurden unfreiwillig Zeuge von Katastrophen, wie Charles Joughin, der den Untergang der Titanic nicht nur überlebte, sondern auch noch eine unglaubliche Geschichte zu erzählen hatte.
Ich frage mich oft, was ich wohl getan hätte, wenn ich mich in einer ähnlichen Situation befunden hätte wie die Männer und Frauen in diesem Buch. Wäre ich ebenso cool geblieben wie Walter Harris, der Korrespondent der Times in Marokko, als er 1903 in die Gefangenschaft islamistischer Extremisten geriet? Ich bezweifle es.
Die Gefahr, heutzutage als menschliche Freakshow präsentiert zu werden wie Ota Benga, ist ebenso gering, wie lebendig begraben zu werden, was Augustine Courtauld erleben musste. Aber uns allen könnte alles passieren – wer weiß, vielleicht finden Sie sich plötzlich in einem Abenteuer wieder, das man eines Tages als eine kostbare Anekdote der Geschichtsschreibung betrachten wird.
Giles Milton