Читать книгу Vom Mann, der mit zwei Flaschen Whiskey den Untergang der Titanic überlebte - Giles Milton - Страница 15

Agatha Christies rätselhaftester Fall

Оглавление

Um kurz nach halb zehn am Abend des 3. Dezember 1926 stand Agatha Christie aus ihrem Sessel auf und stieg die Treppe ihres Hauses in Berkshire hinauf. Sie gab ihrer schlafenden siebenjährigen Tochter Rosalind einen Gutenachtkuss und ging wieder nach unten. Dort stieg sie in ihren Morris Cowley, fuhr in die Nacht hinaus und sollte in den folgenden elf Tagen nicht wieder gesehen werden.

Ihr Verschwinden löste eine der größten Suchaktionen der Geschichte aus. Agatha Christie war damals bereits eine bekannte Schriftstellerin. Mehr als tausend Polizisten und Hunderte von Zivilisten beteiligten sich an der Suche. Zum ersten Mal wurden sogar Flugzeuge eingesetzt, um nach der Vermissten zu suchen. Innenminister William Joynson-Hicks machte der Polizei Druck, Christie so schnell wie möglich zu finden. Zwei der bekanntesten Schriftsteller Großbritanniens, Sir Arthur Conan Doyle, der Erfinder von Sherlock Holmes, und Dorothy L. Sayers, die Autorin der Bücher rund um den Amateurdetektiv Lord Peter Wimsey, wurden ebenfalls in die Suche einbezogen, denn man erhoffte sich, von ihrem speziellen Wissen profitieren zu können.

Bereits nach kurzer Zeit fand die Polizei Christies Auto. Es stand an einem steilen Abhang in einem Naturschutzgebiet in der Nähe von Guildford. Doch von Agatha Christie selbst fehlte jede Spur, ebenso wie von irgendwelchen Anzeichen, sie könnte in einen Unfall verwickelt gewesen sein. Als der erste Tag der Untersuchungen in den zweiten und dritten überging und sie weiterhin verschwunden blieb, begannen die Spekulationen. Die Presse schwelgte förmlich in immer neuen Theorien, was mit ihr geschehen sein könnte.

Es war die perfekte Story für die Klatschpresse, mit allen Elementen eines klassischen Agatha-Christie-Krimis. In der Nähe des Ortes, an dem man ihren Wagen gefunden hatte, befand sich eine natürliche Quelle, der Silent Pool, in dem angeblich bereits zwei kleine Kinder gestorben waren. Ein paar Reporter spekulierten offen, dass Christie sich möglicherweise selbst umgebracht haben könnte. Doch ihre Leiche war unauffindbar, und ein Selbstmord schien eher unwahrscheinlich, schließlich war Christie beruflich nie so erfolgreich gewesen wie zu dieser Zeit. Ihr sechstes Buch, Der Mord an Roger Ackroyd, verkaufte sich gut, und sie war mittlerweile allgemein bekannt.

Manche behaupteten, das Ganze sei nichts weiter als ein PR-Gag, ein cleverer Trick, damit sich ihr neues Buch besser verkaufte. Andere glaubten an eine weit schlimmere Möglichkeit. Es ging das Gerücht, Agatha sei von ihrem Ehemann, Archie Christie, einem ehemaligen Kampfpiloten und notorischen Schürzenjäger, ermordet worden. Zumal allgemein bekannt war, dass er eine Geliebte hatte.

Arthur Conan Doyle, ein überzeugter Okkultist, bemühte sogar paranormale Kräfte, um das Rätsel zu lösen. In der Hoffnung, Antworten zu bekommen, brachte er einen von Christies Handschuhen zu einem berühmten Medium. Doch vergeblich. Dorothy Sayers besuchte den Ort, an dem ihre Schriftsteller-Kollegin verschwunden war, um nach möglichen Hinweisen zu suchen. Was sich jedoch als ebenso vergeblich erwies. Nach einer Woche hatte sich die Nachricht über die ganze Welt verbreitet und schaffte es sogar bis auf die Titelseite der New York Times.

Erst am 14. Dezember, ganze elf Tage nach ihrem Verschwinden, wurde Agatha Christie endlich gefunden. Sie befand sich sicher und in bester Gesundheit in einem Hotel in Harrogate, doch die Umstände ihres Aufenthaltes dort lieferten mehr Fragen als Antworten. Christie selbst war nicht in der Lage zu erklären, was genau geschehen war. Sie erinnerte sich an nichts. Und so blieb es der Polizei überlassen, die möglichen Ereignisse zu rekonstruieren.

Die kam zu dem Schluss, dass Agatha Christie ihr Haus verlassen hatte und Richtung London gefahren war. Unterwegs ließ sie ihr Auto zurück und stieg in einen Zug nach Harrogate. Bei ihrer Ankunft in dem Kurort bezog sie – fast ohne Gepäck – im Swan Hydro, dem heutigen Old Swan Hotel, ein Zimmer, und zwar unter dem Namen der Geliebten ihres Mannes: Teresa Neele.

Harrogate war in den 1920er-Jahren ein wahrer Hotspot der Schickeria und gerade bei den Jungen und Hübschen besonders beliebt. Agatha Christie erweckte keinerlei Misstrauen, als sie an den Bällen, Tanz- und Unterhaltungsveranstaltungen teilnahm, doch schließlich wurde sie von Bob Tappin, einem der Banjo-Spieler des Hotels, erkannt, und er benachrichtigte die Polizei. Diese informierte Christies Mann, der sofort losfuhr, um seine Frau abzuholen. Doch diese hatte es nicht eilig, wieder nach Hause zu kommen, und ließ ihn in der Lounge warten, während sie sich ihre Abendgarderobe anzog.

Agatha Christie hat nie über diese elf Tage in ihrem Leben gesprochen, und im Laufe der Jahre gab es zahlreiche Spekulationen darüber, was wirklich zwischen dem 3. und 14. Dezember 1926 geschehen war.

Ihr Mann erklärte, seine Frau habe als Folge des Autounfalls jegliche Erinnerung verloren. Doch Agatha Christies Biograf Andrew Norman ist der Ansicht, dass die Schriftstellerin sich in einer sogenannten dissoziativen oder psychogenen Fugue befunden haben könnte, einem seltenen Zustand, der durch ein traumatisches Ereignis oder eine Depression ausgelöst werden kann. Norman erklärt, der Umstand, dass Christie eine neue Identität, und zwar die von Teresa Neele, angenommen habe und nicht in der Lage gewesen sei, sich selbst auf den Bildern in den Zeitungen wiederzuerkennen, könne darauf hinweisen, dass sie unter einer dissoziativen Amnesie gelitten habe. »Ich glaube, dass sie suizidgefährdet war«, sagt Norman. »Ihr seelischer Zustand war sehr schlecht, und sie beschreibt es später durch die Figur Celia in ihrem autobiografischen Roman Das unvollendete Porträt

Agatha Christie ging es schon bald wieder gut, und sie griff erneut zum Stift. Doch sie war nicht länger bereit, die Affären ihres Mannes zu tolerieren. 1928 ließ sie sich von ihm scheiden und heiratete später den angesehenen Archäologen Sir Max Mallowan.

Wir werden wohl nie mit Sicherheit wissen, was in diesen elf Tagen genau geschah. Agatha Christie hat uns ein Rätsel hinterlassen, das selbst Hercule Poirot nicht lösen könnte.

Vom Mann, der mit zwei Flaschen Whiskey den Untergang der Titanic überlebte

Подняться наверх