Читать книгу Vom Mann, der mit zwei Flaschen Whiskey den Untergang der Titanic überlebte - Giles Milton - Страница 16
Eine Frau steht ihren Mann
ОглавлениеIm kakifarbenen Kampfanzug und voller Matsch sah Private Denis Smith nicht viel anders aus als seine Tausende von kriegsmüden Kameraden. Das jungenhafte Gesicht und die kurzen Haare fielen an der Front kaum auf, und tatsächlich wusste niemand in der 51. Division der Royal Engineers des britischen Expeditionskorps, dass Private Smith ein ganz besonderes Geheimnis hütete. Er war nämlich in Wirklichkeit eine Frau namens Dorothy Lawrence, die an die Front gekommen war, um mit eigenen Augen zu sehen, was dort vor sich ging. Und damit war Lawrence die einzige Frau, die an der Westfront des Ersten Weltkriegs kämpfte.
Dorothys Geschichte beginnt bei Ausbruch des Krieges 1914 in Paris. Sie wollte unbedingt Kriegsreporterin werden, doch man sagte ihr, das sei Männersache und sie habe dort nichts zu suchen. Fest entschlossen, die blutigen Schlachten in Nordfrankreich mit eigenen Augen zu sehen, beschloss sie, sich als Soldat zu verkleiden und allein auf den Weg an die Front zu machen. »Ich will doch mal sehen, was ein einfaches englisches Mädchen ohne Verbindungen und Geld erreichen kann«, schrieb sie.
In Paris freundete sie sich mit zwei Soldaten an, die sie später ihre »Kaki-Komplizen« nennen würde, und bat sie, ihr eine Uniform zu besorgen. Innerhalb einer Woche war Dorothy mit Militärstiefeln, entsprechender Hose, Hosenträgern, Jacke, Hemd und Beinbinden ausgestattet. Blieb nur noch die Frage, wie sie ihre feminine Körperform verbergen sollte. Sie wusste, dass man sie verhaften und augenblicklich nach Hause schicken würde, wenn man herausfand, dass sie eine Frau war.
»Ich wickelte mich eng in meterlange Mullbinden, wie eine Mumie.« Doch ihre weiblichen Kurven wurden dadurch nicht verdeckt, also stopfte sie sich den Rücken mit Watte aus, und schon bald verwandelte sie sich in eine »untersetzte, dickliche Gestalt mit einem etwas kleinen Kopf und einem jungenhaften Gesicht«. Dorothys Komplizen verhalfen ihr außerdem zu den notwendigen Dokumenten, mit deren Hilfe sie bis nach Béthune kam, das direkt an der Front lag.
Aus Angst, noch immer zu weiblich auszusehen, ließ Lawrence sich von einem ihrer Komplizen die Haare abschneiden und das Gesicht rasieren. »Ich hatte«, schrieb sie, »die vergebliche Hoffnung, dass mir dadurch ein paar jungenhafte Bartstoppeln wachsen würden.« Als diese ausblieben, war sie entsprechend enttäuscht. Um ihre Verkleidung zu perfektionieren, schmierte Lawrence sich noch verdünntes Kaliumpermanganat ins Gesicht und machte sich dann gebräunt und augenscheinlich verdreckt auf den Weg an die Front.
Es war gar nicht so einfach, in die Kampfzone zu gelangen. Lawrence wurde wiederholt von Offizieren angehalten und gefragt, was sie so weit von ihrem angeblichen Regiment entfernt zu suchen habe. Doch niemand kam auf den Gedanken, dass sie eine Frau sein könnte. Es gelang ihr schließlich, sich die Unterstützung eines Tunnelexperten der Lancaster-Einheit der Royal Engineers, Sapper Tom Dunn, zu sichern. Sie zog ihn ins Vertrauen und bat ihn, ihr zu helfen. Sapper Tom gefielen Dorothys Mut und Verwegenheit. Er und ein paar seiner Kameraden versprachen, ihr dabei zu helfen, in den aktiven Dienst zu gelangen, und brachten sie an einen geheimen Ort, an dem sie sich tagsüber ausruhen konnte. Erst bei Dunkelheit zog sie mit den anderen Pionieren los, grub Tunnel unter den deutschen Linien hindurch und füllte sie mit Sprengstoff, um damit die deutschen Gräben und Leitstellen in die Luft zu jagen. Allerdings war an der Front jegliche Körperhygiene unmöglich, und schon bald war Lawrence voller Flöhe und Läuse. »Jeder kleinste Fleck meines Körpers juckte und zwickte«, schrieb sie. »Die Flöhe sprangen in alle Himmelsrichtungen.«
Trotz aller Widrigkeiten war sie bald aktiv daran beteiligt, die feindlichen Linien zu untergraben. Mörser und Granaten regneten auf sie hinab, doch sie nahm alles stoisch hin. Ihr engster männlicher Verbündeter, Sapper Tom, war von ihrer Tapferkeit beeindruckt. Er beschrieb später, wie sie zehn Tage und Nächte lang »keine 400 Meter von der Frontlinie der boches unter Gewehrfeuer und Mörserangriffen« ausgeharrt hatte.
Dauerfeuer, Mangelernährung und verseuchtes Wasser forderten bald ihren Tribut. Dorothy wurde krank und fiel immer wieder in Ohnmacht. Aus Sorge, dass ihre Täuschung auffliegen könnte, ging sie schließlich zu ihrem Vorgesetzten und gestand ihm alles. Dieser ließ sie augenblicklich unter dem Verdacht möglicher Spionage verhaften. Es folgten intensive Verhöre. Sechs Generäle und zwanzig Offiziere nahmen Dorothy ins Kreuzverhör, konnten jedoch nichts beweisen, außer dass sie eine Frau war, die an der gefährlichen Männerwelt hatte teilhaben wollen. Man zwang sie, eine eidesstattliche Erklärung abzugeben, dass sie niemals über ihre Geschichte schreiben würde, und schickte sie zurück nach London.
Am Ende schrieb Dorothy doch über ihre Abenteuer, und Sapper Dunn bestätigte schriftlich, dass alles der Wahrheit entsprach. Doch nur wenige glaubten ihre Geschichte, und sie starb unbeachtet im Jahr 1964.