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Wer bin ich? Asche, Staub und Koht

O grosser HErr! Das weistu woll;

Wer bin ich? Von Natur im Tod,

Ich bin das nicht, was ich seyn soll;

Und dennoch kommst du zu mir gehen

Mir als Erlöser beyzustehen?

Joachim Neander

(1650 – 1680)

Dezember 1907, Cleveland, Ohio

Alle anderen Gäste saßen in Gruppen zusammen, nur die alte Frau hatte einen Tisch für sich allein an einem der hohen Fenster, die auf den Eriesee hinausgingen. Die warme Wintersonne ließ ihr weißes Haar hellblond erscheinen und überstrahlte ihre Gesichtshaut, so dass diese ganz glatt erschien. Sie las.

So hat Großmutter ausgesehen, als sie eine junge Frau war, dachte June. Sie blieb am Eingang stehen, um sie in Ruhe betrachten zu können, aber im selben Moment hob die alte Frau den Kopf, als ob sie ihren Blick gespürt hätte. »Da bist du ja endlich.« Sie faltete ihre Zeitung zusammen und wies auf den freien Stuhl neben ihrem. »Was darf ich dir bestellen?«

»Eine Limonade.« June zog ihre Jacke aus und hängte sie über die Lehne des Stuhls, bevor sie sich niederließ. »Hast du lange gewartet?« Sie war in der Stadt gewesen und hatte Besorgungen erledigt, darüber hatte sie die Verabredung mit ihrer Großmutter am See fast vergessen.

Die alte Frau zuckte mit den Schultern, während sie ein Stuck Zucker in ihren Tee rührte.

»Was liest du?«, fragte June.

»Die Nachrichten.«

»Gibt es etwas Neues?«

»Die Welt wird immer feindseliger. Russland verstärkt nun die Franzosen an der Seite Englands. Ganz Europa schließt sich gegen Deutschland zusammen.« Sie seufzte, strich mit der flachen Hand über ihre Augen und sah plötzlich nicht mehr jung aus, sondern sehr alt.

»Hast du Angst um dein Heimatland?«, fragte June.

Ihre Großmutter lachte. »Mein Heimatland. Das ist so ein großes Wort. Deutschland hat sich so verändert, seit ich es damals verlassen habe.«

»Aber du sorgst dich dennoch. Dass es Krieg gibt«, beharrte June.

Die alte Frau blinzelte mit schmalen Augen über die funkelnde Oberfläche des Sees. »Sicher«, sagte sie, aber sie wirkte plötzlich geistesabwesend, als ob ihre Gedanken schon ein Stück weitergegangen wären. Dann drehte sie die Zeitung um und tippte mit dem Zeigefinger auf eine der Meldungen auf der letzten Seite. »Hier, siehst du das?«

»Urmensch in Deutschland entdeckt«, begann June zu lesen. »Die ältesten menschlichen Überreste der Welt sind im Oktober 1907 in einer Kiesgrube nahe der deutschen Stadt Heidelberg gefunden worden. Ein Sandgräber entdeckte einen sehr kräftig gebildeten menschlichen Unterkiefer mit vollständiger Bezahnung. Dieses Fragment des sogenannten Homo heidelbergensis wird von der Wissenschaft als das bisher älteste Fundstück einer primitiven Übergangsform zwischen Mensch und Affen bewertet.«

Achselzuckend schob sie die Zeitung wieder zu ihrer Großmutter zurück. »Für archäologische Ausgrabungen konnte ich mich noch nie erwärmen.«

Aber die alte Frau hatte ihr gar nicht zugehört, sie strich gedankenverloren über die Zeitungsseite, während sie hinaus auf den See blickte, als gäbe es dort draußen etwas zu sehen, das von ungeheurer Bedeutung für sie war, etwas, das June nicht sehen konnte.

»Was ist denn, Großmutter?«, fragte June

»Einmal«, sagte die alte Frau langsam. »Einmal haben wir uns über diese Frage fast entzweit. Ob es einen fossilen Menschen gibt. Und nun schreiben sie so nebenbei von Übergangsformen zwischen Menschen und Affen, als ob es nichts Besonderes wäre. Aber damals war es ein Eklat. Und es ist gar nicht lange her.«

»Wer hat sich fast entzweit?«, fragte June. »Sprichst du von dir und Großvater?«

Die alte Frau sah hinaus auf den See und antwortete nicht.

Das Medaillon

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