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5. Kapitel

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»Was die Erschaffung des Menschen betrifft, soll es seiner unwürdig sein, wenn wir ihn als die höchste und letzte Entwicklung des thierischen Lebens betrachten und jeden Vorzug seiner Natur aus der Vollendung seines Organismus herleiten, ist er darum weniger gut aus der Hand des Schöpfers hervorgegangen, wenn dieser in dem dunklen Schoosse ungezählter Jahrtausende die Thiergestalt nach und nach veredelte, bis das menschliche Gebilde, das man sein Ebenbild genannt hat, erreicht war?«

(aus »Über die Beständigkeit und Umwandlung der Arten« von Hermann Schaaffhausen, 1853)

Im Sommer war es der schönste Platz der Stadt. Dann standen die Rosenbüsche in voller Blüte, ein Blütenkopf neben dem anderen, rot und rosa und purpur, und der Boden war bedeckt von duftenden Blättern. Mindestens einmal im Sommer kam Rosalie hier heraus. Sie setzte sich auf eine der Bänke unter den Bäumen und blickte auf die blühenden Büsche, die sich über die grauen Steinplatten beugten, atmete den Duft der Blumen ein und wurde ganz ruhig. Gottes Acker.

Auch jetzt, Ende März, war es Gottes Acker, aber jetzt war es ein karger Ort, ein schlafender Ort. Ein Ort in Erwartung seiner Auferstehung im Sommer. Jetzt streckten die Rosenbüsche ihre kurzen, kahlen, dornigen Arme in den grauen Himmel, es sah aus, als bettelten sie um Schnee, um die sanfte, weiße Decke, die ihr nacktes Holz den Winter über gnädig verhüllt hatte. Stattdessen blies ein scharfer Wind feine Regentropfen über die flachen Steine und das Efeu zwischen den Grabhügeln. Er blähte die Röcke der Frauen auf und zerrte an ihren Schutenhüten und riss am schwarzen Talar Kohlbrügges, der vorn am Grab stand, die Bibel aufgeschlagen in der Hand.

Kohlbrügge richtete die Augen nach oben und schaute über die Köpfe der Trauergemeinde hinweg. Er schien seine Worte vom Himmel abzulesen oder aus den kahlen Ästen der Bäume hinter dem Friedhof. »Durch eigene Schuld bin ich dem Tod anheimgefallen«, rief er, während die Blätter der Bibel flatterten, als wollte das Buch von ihm wegfliegen, »und dieser Leib, worin ich mich befinde, was ist er anders denn ein Totengerippe, überklebt mit verweslichem Fleisch!«

Rosalies Gedanken schweiften ab, zu dem kleinen Körper in dem schmalen Sarg, bei dem die Verwesung, von der Kohlbrügge sprach, schon ihren Anfang genommen hatte.

Dann begann man zu singen, aber Rosalie kannte das Lied nicht. Sie sah zu Dorothea hinüber, die neben ihrer Mutter stand und ebenfalls nicht mitsang. Ihre Augen waren rot und geschwollen, aber sie wirkte gefasster als vorhin bei der Trauerandacht in der Königsstraße in der engen, feuchten Stube.

Das Gesicht ihres Vaters war hart und grau wie die Grabplatten. Seine Frau dagegen schien ruhig und gefasst, fast heiter unter ihrer schwarzen Schute. Ihre Hände umklammerten ihr Gesangsbuch, aber es war nicht aufgeschlagen, sie kannte die Lieder auswendig. Wenn man sie sieht, möchte man meinen, dass es ein ganz normaler Gottesdienst ist, dachte Rosalie. Dabei trägt sie ihren Sohn zu Grabe, ihr jüngstes Kind.

Herr Leder und zwei andere Männer ließen den kleinen Sarg in das große Grab hinabsinken und Dr. Kohlbrügge begann wieder zu sprechen, jetzt las er aus der Bibel. »Es könnte aber jemand fragen: Wie werden die Toten auferstehen, und mit was für einem Leib werden sie kommen?« fragte er. »Du Narr: Was du säst, wird nicht lebendig, wenn es nicht stirbt. Und was du säst, ist ja nicht der Leib, der werden soll, sondern ein bloßes Korn.«

Der Sarg war nun im Erdboden verschwunden und die Männer beugten sich über die Grube, als wollten sie ihm nachblicken, aber sie zogen nur die Seile wieder hoch, mit dem sie ihn hinuntergelassen hatten. Frau Leder nickte und verzog den Mund, es sah aus, als ob sie lächelte.

»Nicht alles Fleisch ist das gleiche Fleisch«, las Kohlbrügge, »sondern ein anderes Fleisch haben die Menschen, ein anderes das Vieh, ein anderes die Vögel, ein anderes die Fische.« Rosalie musste unwillkürlich an ihren Vater und Fuhlrott denken und an ihre Naturstudien. Diese Bibelstelle hätte ihnen gefallen. Und dieser Friedhof würde ihnen gefallen, auf dem alle gleich waren – Arme und Begüterte, Männer und Frauen, Kinder und Erwachsene. Bei den Niederländisch-Reformierten gab es keine Verwesungsgräber, in denen die Armen verscharrt wurden, und keine prachtvoll verzierten Grabstätten für die Reichen. Ein Rosenstock und ein Stein kennzeichneten jedes Grab und Hermanns Grab würde die Nummer 79 tragen, denn er war der neunundsiebzigste Tote in der Gemeinde.

»Es wird gesät ein natürlicher Leib und wird auferstehen ein geistlicher Leib«, las Kohlbrügge. »Amen«, murmelte neben Rosalie eine alte Frau. Dr. Kohlbrügge klappte seine Bibel zu und senkte den Kopf zum stillen Gebet. Auch Rosalie senkte den Blick zu Boden und als sie ihn wieder hob, sah sie Frau Leder schwanken und dann knickte sie in den Knien ein und fiel langsam, ganz langsam nach vorn. Im letzten Moment hielten Dorothea und ihr Mann sie fest, bevor sie kerzengerade im Grab ihres Kindes landete.

Danach zerstreuten sich alle rasch, sie gingen zur Totenfeier. Rosalie blieb noch ein paar Minuten vor dem offenen Grab stehen, dann setzte auch sie sich in Bewegung. Über die neue Lindenallee ging sie zur Straße nach Elberfeld hinunter. Sie schrak zusammen, als sich vor ihr plötzlich eine kleine, untersetzte Gestalt aus dem Schatten eines Baums löste. Es war ein Mann und auch er schien zu erschrecken, als er sie bemerkte, offensichtlich hatte er hinter einem Baumstamm abgewartet, bis alle weg waren. Er schob seinen dunklen Hut tiefer in die Stirn und hastete mit gesenktem Kopf durch den Nieselregen davon.

Sie hatte ihn dennoch erkannt, in dem kurzen Moment, in dem er ihr sein Gesicht zugewandt hatte. Es war Isaak Kirschbaum, der Jude, bei dem Dorothea arbeitete.

Hermann hatte auf der Straße gespielt, an dem letzten kalten, sonnigen Märzmorgen in seinem Leben, es waren auch andere Kinder dabeigewesen, aber Hermann war der Einzige gewesen, der mitten auf der Straße gesessen hatte. Dort gab es eine besonders schöne, große Pfütze, auf der er einen Staudamm baute, er hatte ihn fast fertiggestellt, als die Droschke um die Ecke jagte und sein Werk zerstörte und ihn auch.

Rosalie hatte es erst zwei Tage später erfahren, von den Frauen an der Pumpe, und sie war am gleichen Abend zu den Leders gegangen, um ihnen ihr Beileid auszusprechen. Sie war nur kurz geblieben und Dorothea war ihr wie versteinert erschienen, von allen Brüdern war ihr Hermann der liebste gewesen. Als Rosalie ging, begleitete Dorothea sie zur Haustür. »Das hat der allmächtige Herrgott getan«, flüsterte sie Rosalie zu. »Er hat uns Hermann genommen, um mich für meine Lügen zu bestrafen.«

»Was für ein Unfug«, erwiderte Rosalie. »Wenn er dich hätte strafen wollen, hätte er doch wohl dich getötet und nicht Hermann.«

»Nein«, sagte Dorothea. »Er nimmt das, was einem am liebsten ist. Er hat auch den Ägyptern den erstgeborenen Sohn genommen und dem Pharao, denn damit traf Er sie am härtesten.«

Das war vor vier Tagen gewesen und jetzt lag Hermann unter der Erde, ein Totengerippe, überklebt mit verweslichem Fleisch, wie Kohlbrügge es ausgedrückt hatte, und Rosalie lief nach Hause. Sie musste sich beeilen, denn heute war Dienstag. Dienstags tagte immer der Naturwissenschaftliche Verein und damit er pünktlich zu den Sitzungen kam, erwartete ihr Vater sein Abendbrot eine Stunde früher als sonst und das Mittagessen eine halbe Stunde früher, damit eins zum anderen passte.

»Heute Abend geht es wieder einmal um die Gebeine aus dem Neandertal«, sagte Kuhn, als sie die Suppe löffelten. »Fuhlrott stellt Schaaffhausens Vermessungsergebnisse der Schädelkalotte vor, es ist sozusagen die Generalprobe für die große Präsentation vor dem Naturhistorischen Verein in Bonn, die er zusammen mit Schaaffhausen und Mayer bestreiten will.«

»Nun, hier in Elberfeld wird es doch nicht allzu schlimm werden«, meinte Rosalie. »Im Verein erwartet ihn bestimmt ein wohlgesonnenes Publikum, das seinen Erkenntnissen mit dem größten Interesse begegnet.«

Ihr Vater lachte kurz und trocken. »Ob wohlgesonnen oder nicht, der größte Teil der Anwesenden wird mit Befremden reagieren, wenn man einmal von Minter und mir absieht. Beschränken wir unsere Diskussionen endlich wieder auf angemessenere Gebiete, werden sie fordern. Fokussieren wir uns auf die verschiedenen Spezies der Primula oder auf die Vogelfauna des Wuppertales oder auf die Rückenwirbel der Klapperschlange, denn das sind die richtigen Themen für einen Verein christlich gesonnener Männer.«

Rosalie rührte in ihrer Suppe und spürte dem Schmerz nach, den der Name Minter in ihr auslöste. »Und ich dachte, ihr wäret so aufgeschlossen.«

»Aufgeschlossen im Rahmen des Akzeptierten«, sagte Kuhn. »Aber die festgelegten Grenzen wagt man nicht zu überdenken. Die Herren haben wohl Angst, dass dann ihr ganzes Weltbild zusammenbrechen könnte.«

Nachdem der letzte Patient die Praxis verlassen hatte, fegte Rosalie das Wartezimmer und ärgerte sich über die Leute, die mit ihren schmutzigen Stiefeln ins Haus trampelten und einfach auf den Boden spuckten, obwohl sie überall Spucknäpfe aufgestellt hatte und ihr Vater allen seinen Patienten predigte, dass das Ausspucken unhygienisch sei, eine ekelerregende Unart, die nicht in die moderne Zeit passte.

Danach trat sie auf die Straße, legte den Kopf in den Nacken und sah nach oben. Der Himmel war ein schwarzes Tuch mit hellgelben Punkten. Sie dachte an Minter, wie immer, wenn sie zur Ruhe kam, und stellte sich vor, dass er neben sie trat.

»Guten Abend, Rosalie.« Ihr Kopf fuhr herum. Der Apotheker stand unter einer Laterne, nur ein paar Meter von ihr entfernt. In dem kalten Gaslicht sah er aus wie eine Geistererscheinung, das Gesicht so fahl. Aber es gab keine Geister, also war er es wirklich.

»Was ... was wollen Sie denn hier?« Ihre Stimme klang feindselig. Ihr war auf einmal kalt.

»Ich wollte Ihren Vater abholen, wir wollen gemeinsam zur Vereinssitzung.«

»Kommen Sie«, sagte sie, und griff nach ihrem Besen. Sie trat vor ihm ins Haus. Als sie im hellen Licht der Öllampe stand, wurde ihr bewusst, wie sie aussah. Sie hatte die Haare straff nach hinten gekämmt und unter einem Tuch versteckt, nichts lenkte von ihrer großen Nase und der hohen Stirn ab. Hässlich wie ein Waschweib.

„Mein Vater ist oben“, sagte sie. „Sie kennen den Weg.“

Er ging aber nicht nach oben, sondern machte einen Schritt auf sie zu und legte seine Hand auf ihren Arm. »Rosalie«, sagte er. »Es tut mir so leid, was geschehen ist.«

»Ach ja?« Mit einem Mal fand sie es richtig, dass ihr Gesicht hart und kantig aussah, so war sie in ihrem Innersten und so trat es zu Tage. »Was ist denn geschehen?«

Er ging nicht auf ihre Frage ein, sondern sah sie nur an, vielleicht dachte er über ihre Hässlichkeit nach. »Ich muss mit Ihnen reden«, sagte er.

Sie zuckte mit den Schultern

»Am nächsten Sonntag«, meinte er. »Nach dem Mittagessen.«

Dann nickte er kurz, als wäre alles zwischen ihnen geklärt, und ging ohne ein weiteres Wort zur Treppe und nach oben.

Sie konnte nicht aufhören, an ihn zu denken. Sie lag im Bett, atmete ein und wieder aus und starrte in die Dunkelheit und malte sich endlose, sinnlose Unterhaltungen mit Minter aus und Situationen, in denen sie sich begegneten, alltägliche und verrückte und geradezu widersinnige Situationen, die aber alle gleich endeten. Er hielt sie und sie hielt ihn.

Nach einer Stunde schlüpfte sie in ihren Morgenmantel und Pantoffeln und ging ins Kaminzimmer. Sie warf noch eine Schütte Kohle auf die Glut, obwohl es schon nach Mitternacht war. Setzte sich dann auf die Ofenbank, die Wärme der Kacheln im Rücken.

Sie blätterte in einer Broschur, die ihr Vater aufgeschlagen auf dem Tisch hatte liegen lassen. »Über die Beständigkeit und Umwandlung der Arten.« Der Verfasser war Hermann Schaaffhausen, der Professor, den Fuhlrott in Bonn besucht hatte, um ihm die Knochen aus dem Neandertal zu zeigen.

Am Anfang überflog sie die Zeilen nur, weil sie erwartete, dass der wissenschaftliche Text zu kompliziert für sie wäre, dann stellte sie überrascht fest, dass sie alles verstand. Dieser Schaaffhausen vertrat die Ansicht, dass sich alle Arten, ob Pflanzen oder Tiere, seit ihrer Entstehung im Wandel befanden. Auch die Menschen schloss er aus diesem Prozess nicht aus, er hielt es im Gegenteil sogar für wahrscheinlich, dass der Mensch in Tiergestalt geschaffen worden war und erst nach und nach, im Laufe von Jahrtausenden, seine heutige Vollendung erreicht habe. Kein Wunder, dass ihn die Knochenfunde so interessieren, dachte Rosalie. Der affenähnliche Schädel mit seinen Wülsten über den Augenhöhlen und die groben, schweren Knochen untermauerten seine These. Die Kreatur aus der Feldhofer Grotte war demnach eine frühzeitliche Station auf dem Weg zur Perfektion, ein Stein im Mosaik der menschlichen Entwicklung zur heutigen Vollkommenheit.

Rosalie musste plötzlich an die erste Unterhaltung denken, die ihr Vater, Fuhlrott und Minter geführt hatten, im Sommer, hier in diesem Zimmer. Minters eigenartige Holzfällertheorie, seine Annahme, dass eine Generation ihre erworbenen Fähigkeiten an die nächste weitergab. Auch er hatte damals von einer Entwicklung gesprochen und in einem Punkt war er sogar noch weitergegangen als Schaaffhausen, wenn sie es richtig in Erinnerung hatte. Der Prozess ist niemals abgeschlossen, hatte er gesagt. Alles geht immer weiter.

Die beiden Doktoren hatten mit Skepsis reagiert und das mit gutem Grund. Denn wenn Minters Aussage stimmte, dann war der Mensch eben nicht die Krone der Schöpfung, für die er sich hielt. Irgendwann einmal, in einem weit entfernten, unvorstellbaren Zeitalter würde er sich vielleicht dem annähern, wonach er seit Anbeginn der Welt strebte: seinem Ideal, Gottes Ebenbild. Aber von diesem Stadium unterschied sich der heutige Mensch so stark wie die Kaulquappe vom Frosch.

Sie ließ das Heft auf ihren Schoß sinken und schauderte. Wenn Minter recht hatte, dann waren sie selbst und er, ihr Vater und Fuhlrott, dann waren alle heutigen Menschen – nichts. Dann waren sie wertlos im Vergleich zu den herrlichen Wesen, die sich im Laufe der Zeit herausbilden würden. Die wiederum ihrerseits nichts waren im Hinblick auf die Entwicklung, die die Generationen nach ihnen durchlaufen würden. Denn der Prozess war ja niemals abgeschlossen.

Sie legte Schaaffhausens Aufsatz zur Seite, umschlang die kalten Beine mit den Armen und stützte ihr Gesicht auf die Knie. Die flackernde Öllampe auf dem Kaminsims warf bedrohliche Schatten an die Wand. Vielleicht war es falsch, die verschiedenen Stufen der Menschheit, die Formen der Entwicklung in ihrer chronologischen Reihenfolge zu sehen und zu bewerten, dachte Rosalie. Vielleicht war jede Entwicklungsstufe nur eine Antwort auf ihre jeweilige Zeit. Und darüber hinaus waren alle gleich viel wert oder gleichermaßen wertlos, wie man die Sache eben betrachtete. Sie alle waren Menschen, Brüder und Schwestern, der Tiermensch aus dem Neandertal, der zukünftige Mensch und sie selbst auch.

Sie spürte Hände auf ihren Schultern und als sie aufsah, stand ihr Vater vor ihr, mit weit geöffneten, besorgten Augen hinter glitzernden Brillengläsern. »Was machst du denn noch hier, Kind? Weißt du nicht, wie spät es ist?«

Ganz offensichtlich war sie auf der Ofenbank eingeschlafen. Sie reckte sich und spürte jeden einzelnen Knochen in ihrem Körper. »Wie war die Sitzung?«, fragte sie. Ihre Zunge fühlte sich pelzig an.

»O, es war ein Desaster«, sagte ihr Vater und sah plötzlich nicht mehr besorgt aus, sondern wütend. »Sie wollen es einfach nicht hören, jedenfalls nicht von einem Fuhlrott. Ja, wenn es Ihnen eine anerkannte Kapazität der Wissenschaft verkündet hätte, ein Spring oder ein Lyell oder ein de Perthes oder meinetwegen auch ein Anatom wie Schaaffhausen, dann hätten sie sich unter Umständen herabgelassen, die Sache in Erwägung zu ziehen. Aber ein hiesiger Realschullehrer und eine solche bahnbrechende Entdeckung, das ist vermessen, das muss ein Irrtum sein.«

»Haben Sie Fuhlrott ausgelacht?«, fragte Rosalie und unterdrückte ein Gähnen.

»Aber nein, nicht doch, sie haben ihn angehört und seine Gipsabgüsse mit großem Ernst betrachtet und mit ihren Fingern betastet, aber es war so ein Ausdruck in den Gesichtern, so ein spöttischer Glanz in den Augen ...«

»Vielleicht täuschst du dich«, meinte Rosalie achselzuckend. Während sie geschlafen hatte, war das Feuer im Ofen endgültig heruntergebrannt und die Kälte war ihr in alle Gliedmaßen gekrochen. Sie kreuzte die Arme über der Brust und rieb sich mit den Händen über die Oberarme. »Immerhin ist es eine phänomenale Entdeckung, man kann es den Herren also kaum verübeln, wenn sie sie mit einer gewissen Skepsis betrachten.« Jetzt gähnte sie doch.

»Nein, das kann man nicht. Dennoch«, sagte Kuhn. »Ich war doch dabei, ich weiß doch, wovon ich spreche. Wenn wenigstens Minter sich zurückgehalten hätte, der verflixte Apotheker.«

»Minter?« Von einer Sekunde zur anderen verzog sich die Müdigkeit aus ihrem Kopf. »Ist er Fuhlrott etwa auch in den Rücken gefallen?«

»Genau das«, sagte Kuhn finster. »Auch wenn es mitnichten seine Absicht war. Durch seinen blödsinnigen Affenvergleich hat er alles zunichte gemacht.«

»Was hat er denn gesagt?«

»Er stellte zur Diskussion, ob die Gebeine eine Übergangsform darstellten in der Entwicklungsreihe vom Affen zum Menschen. Dabei versuchte er seine These durch den absurden Hinweis auf die neue Affenart zu untermauern, die zu Beginn des Jahres im Westen Afrikas entdeckt worden ist.«

»Eine neue Affenart?«

»Der Gorilla-Affe, eine besonders kräftige Spezies der Menschenaffen, die sich teilweise vornübergebeugt auf zwei Beinen fortbewegt und aus der sich der Mensch herausentwickelt haben soll, Minters Meinung nach. Er verglich die Schädelkalotte aus dem Neandertal mit dem grobschlächtigen Tierschädel, ohne einen solchen allerdings vorweisen zu können, ach, es ist reine Spekulation und unserer Sache wenig dienlich ...«

»Aber Schaaffhausen vertritt doch eine ganz ähnliche Theorie«, meinte Rosalie und zeigte auf die Broschur, die neben ihr auf der Ofenbank lag. »Er hält es für denkbar, dass wir einst aus der Tiergestalt hervorgegangen sind und findet nichts Verwerfliches an einem solchen Gedanken.«

»Mag sein, dass er es für denkbar hält. Aber es gibt keinerlei Beleg für eine solche Annahme und als Wissenschaftler braucht man nun einmal Beweise für jede Behauptung. Und die kann Minter nicht vorweisen, weil sie nicht existieren, weswegen er lieber den Mund gehalten hätte. Im Falle unseres Schädels haben Schaaffhausens Vermessungen jedenfalls ergeben, dass die Größe des Gehirns bei weitem die des Gehirns der großen Menschenaffen übertrifft und der Gehirnmasse der Australier am nächsten kommt. Auch die Schädelform, die Augenbrauenwülste, in der Minter eine Ähnlichkeit zum Affen erkennen will, ist heute noch bei manchen tief stehenden Negervölkern verbreitet. Es ist also schlüssig, dass es sich um die Überreste eines der frühesten Bewohner Europas handelt, von einer allerdings sehr frühen Entwicklungsstufe.«

»Das mag ja stimmen, aber es widerlegt Minter keineswegs.«

»Er hat keine Beweise«, ihr Vater klang plötzlich ungeduldig. »Und durch seine unsachlichen Anmerkungen hat die ganze Sitzung eine äußerst unerfreuliche Wendung genommen.«

»Du hast selbst gesagt, dass man die festgelegten Grenzen überdenken muss. Auch wenn man Gefahr läuft, dass einem sein Weltbild zusammenbricht.«

»Ja«, sagte Kuhn. »Aber das mit dem Affen geht dennoch zu weit, das musst du doch zugeben.«

Anfang April begann der Frühling. Am Sonntag, dem Tag, an dem Minter mit Rosalie sprechen wollte, war es bereits so warm und sonnig wie sonst erst im Mai.

Rosalie war fest entschlossen, den Apotheker nicht zu treffen. Sie wusste ja, was er ihr sagen wollte: dass es keinen Sinn hätte mit ihnen beiden und dass er sich sein ungebührliches Verhalten in der Höhle selbst nicht erklären konnte. Vielleicht gab es eine andere, die er liebte, der er sich verpflichtet fühlte, vielleicht auch nicht, in jedem Fall wollte sie nichts davon hören, es interessierte sie nicht, warum er sie nicht wollte. Es war schlimm genug, dass er sie nicht wollte.

Sie würde ihn kurz abfertigen, sachlich und kühl. Und ihn dann vergessen.

Nach der Kirche wusch sie sich die Haare und während sie trockneten, bügelte sie ihr weißes Kleid mit dem roten Jacquarddruck auf. Es war nicht mehr ganz modern, aber es ließ ihr Gesicht sanfter und mädchenhafter erscheinen, zumindest empfand sie es so. Das alles tat sie nicht, weil sie ihre Meinung geändert hatte, sondern weil sie in dem kurzen Moment, in dem sie ihm gegenüberstehen und ihn abweisen würde, mustergültig aussehen wollte. Schön und stark und kalt. So sollte er sie in Erinnerung behalten.

Um zwei ging die Türglocke. Sie zählte langsam bis zwanzig, bevor sie sich erhob, um nach unten zu gehen. Es tut mir leid, würde sie sagen. Ich werde nicht mit Ihnen kommen, es hat keinen Sinn. Und dann würde sie die Tür wieder schließen.

Sie fand, dass er sehr blass und nervös aussah, als er vor ihr stand. Er hielt seinen schwarzen Hut in Brusthöhe und drehte ihn ein Stück nach links, dann nach rechts, wie ein Kapitän sein Steuerrad. »Wie freue ich mich, Sie zu sehen, Rosalie«, sagte er und lächelte ein wenig unsicher, aber voller Wärme. »Gehen wir ein Stück spazieren?«

Da holte sie ihren Mantel und sie gingen los.

Sie spazierten die Laurentiusstraße hinunter und bogen dann ins Mäuerchen ein, zu ihrer Rechten glitzerte die Wupper in der Frühlingssonne und verbreitete einen abscheulichen Gestank, der im Hals kratzte, wenn man ihn einatmete. Minter verzog das Gesicht.

»Diese verfluchten Textilfabriken«, sagte er. »Die Farben und Bleichmittel machen den Fluss zur Kloake. In dieser Brühe schwimmt doch kein lebender Fisch mehr.«

Rosalie erinnerte sich plötzlich daran, wie sie als Kind noch in der Wupper gebadet hatte. Auch damals hatte es Baumwollfärbereien gegeben und vor der Stadt hatten die Bleicher die Stoffe in ihren stinkenden Bottichen eingeweicht, in die Sonne gelegt und anschließend im Fluss wieder ausgewaschen. Ihr Vater hatte ihr das Baden zwar verboten, zum einen, weil es sich für ein Mädchen nicht gehörte, in nassen Kleidern im Wasser herumzuhopsen, zum anderen, weil das Wasser damals schon Hautausschläge und Durchfall verursachte. Aber sie hatte nicht auf ihn gehört. Wie eigentlich immer.

Heute kam niemand mehr auf die Idee, im Fluss zu schwimmen. Von der Schossbleiche bis zur Hofaue reihte sich eine Textilfabrik an die andere. Jedes Unternehmen nutzte den Fluss, um seinen Unrat zu entsorgen, die Reste von Farben und Säuren und Giften, und drüben in Barmen sah es nicht anders aus.

»Es ist überall das Gleiche«, sagte sie. »Hier wie im Neandertal. Die modernen Zeiten zerstören die Natur.«

Minter nickte, aber er schien nicht bei der Sache zu sein. Vielleicht war es das Stichwort Neandertal, das ihn an den eigentlichen Grund ihres Spaziergangs erinnerte. Er runzelte die Stirn und beschleunigte seine Schritte, dann blieb er plötzlich stehen. »Hören Sie«, sagte er. »Das Missverständnis zwischen uns muss geklärt werden.«

Sie begegnete seinen Augen und fühlte, wie sich ihr Innerstes auflöste. Alles in ihr schmolz, auch ihr Gehirn, weshalb ihr keine Antwort einfiel, und wenn ihr etwas eingefallen wäre, hätte sie es nicht sagen können, denn ihre Zunge und die Muskeln, die sie bewegten, waren ebenfalls weich und nutzlos.

»Lassen Sie mich aufrichtig mit Ihnen sprechen«, sagte Minter. »Ich empfinde sehr viel für Sie, das haben Sie selbst bemerkt, das ist ja ganz offensichtlich ...«

Er machte eine Pause und rang nach Worten. Rosalie starrte auf ihre Schuhspitzen und wartete darauf, dass ihr Körper auf dem Bürgersteig zerfloss und in den Ritzen zwischen den Pflastersteinen versickerte.

»Aber es kann nicht sein, unsere Verbindung muss beendet werden«, fuhr er endlich fort. »Sie muss beendet werden, bevor sie richtig begonnen hat, auch wenn es mir in der Seele schmerzt.«

Unsere Verbindung muss beendet werden. Als ob nicht er und nicht sie, sondern irgendein Dritter die Beendigung der Verbindung erledigen sollte.

»Wenn es eine Möglichkeit gäbe«, sagte er, »irgendeine Möglichkeit, so wollte ich sie sofort ergreifen, aber ich sehe keine.«

Seine Augen glänzten, vielleicht waren es Tränen, vielleicht war es aber auch nur die Frühlingssonne, die sich in der dunklen Iris spiegelte.

»Es ist nämlich so, dass ich verheiratet bin«, erklärte er.

Es dauerte eine Weile, bis die letzten fünf Worte durch ihr aufgeweichtes Inneres in ihr Bewusstsein gespült worden waren. Als sie endlich begriff, spürte sie nichts. Kein Erstaunen, keine Trauer, keine Wut. In ihr war alles leer. Das war es also, da war die geheimnisvolle dritte Person, die ihre Verbindung für sie beenden würde. Seine Frau.

»Wo ist sie denn?«, fragte sie mit einer fremden, ruhigen Stimme. »Ihre Frau?«

»Zu Hause«, sagte Minter. »Jedenfalls heute.«

»Kommen Sie«, meinte er dann und setzte sich in Bewegung. Er bog am Wirmhof in Richtung Herzogstraße ein und sie folgte ihm, wie sie ihm auch vorhin gefolgt war.

Die folgenden Ereignisse nahm sie mit einer solchen Klarheit wahr, dass sie sich später an jeden Eindruck, jedes Detail erinnern konnte und alles genau hätte erzählen können, wenn sie danach gefragt worden wäre. Minter und sie gingen durch das düstere Treppenhaus, in dem es nach Grünkohl roch, der Schlüssel machte ein kratzendes Geräusch im Schloss und als er die Tür öffnete, knirschte es, so als rieben winzige Steine oder Sandkörner zwischen Türblatt und Boden. Es waren auch Kratzspuren auf den schwarz-weiß-gesprenkelten Fliesen zu sehen.

»Maria«, rief er leise. Er hängte seinen Mantel an einen Haken hinter der Tür und half Rosalie aus ihrem Mantel und hängte ihn daneben. Dann gab er ihr ein Zeichen, ihm zu folgen, und obwohl sie ganz normal auftraten, hatte sie das Gefühl, dass sie auf Zehenspitzen gingen.

Ihr Herz schlug schneller, als sie sah, wie sich die Tür am Ende des Flurs öffnete, nur einen Spalt breit und aus dem Spalt schob sich ein junges Mädchen, sie war vielleicht sechzehn, höchstens achtzehn. Rosalie kannte sie, Maria Wandler, sie waren zusammen zur Volksschule gegangen, aber Maria war eine oder zwei Klassen unter ihr gewesen.

»Sie ist ganz ruhig«, sagte Maria.

»Danke«, sagte Minter. »Du kannst dann auch gehen, ich komme nun allein zurecht.«

»Maria hilft mir, wenn Afra hier ist«, erklärte er, als sie weg war. »Ich habe sie allerdings gebeten, nicht darüber zu reden.«

Afra, dachte Rosalie. Sie sah seine helle Hand auf dem dunklen Holz der Tür, die immer noch angelehnt war. Das hohe grünliche Rechteck in der Wand, ein Fenster hinter zugezogenen Vorhängen. Und dann, als sich ihre Augen an das Halbdunkel gewöhnt hatten, ein Bett und eine junge Frau in einem weißen Nachthemd.

»Ich bin es, Afra«, sagte Minter. Er ließ Rosalie mitten im Raum stehen und ging zum Fenster. Zog die Vorhänge auf und öffnete das Fenster. Rosalie atmete auf, als die kühle, frische Luft hereindrang. »Ich habe Besuch mitgebracht.«

Er trat mit Rosalie zum Bett. Afra hatte helles, lockiges Haar und feine Gesichtszüge, eine schmale, gerade Nase, zart geschwungene Augenbrauen und fast weiße Wimpern über graugrünen Augen. Sie war einmal schön gewesen, aber jetzt war sie es nicht mehr. Ihr Mund stand halb offen, die Unterlippe hing schlaff nach unten und während Rosalie sie ansah, glitt ein silbriger Speichelfaden aus ihrem Mund und rann ihr Kinn entlang. Minter nahm ein Tuch von der Kommode und wischte ihn ab, ganz behutsam.

»Ein schweres Nervenfieber vor vier Jahren«, sagte er. »Seitdem ist sie, wie sie ist.« Sie waren ans Fenster getreten und atmeten frische Luft, während Afra im Bett saß und auf ihre Hände stierte, als fragte sie sich, zu wem sie gehörten.

»Wo ist sie denn untergebracht, wenn sie nicht hier ist?«, fragte Rosalie.

»In Endenich, in einer Nervenheilanstalt«, erklärte Minter. »Ich hole sie alle paar Wochen den Sonntag über hierher, zuweilen auch an Feiertagen, aber es ist sehr schwierig. Wenn sie ruhig ist wie jetzt, ist es natürlich kein Problem, aber mitunter wird sie sehr ungehalten, fast gewalttätig. Dann lässt sie sich von Maria kaum beruhigen.« Er fuhr sich mit der Hand durch die Locken und hielt mitten in der Bewegung inne, als fehlte ihm die Kraft, fortzufahren.

Rosalie dachte an das Klopfen und Hämmern, das sie in der Apotheke gehört hatte, als sie Minter das erste Mal gesehen hatte und noch einmal mit Dorothea. »Und niemand weiß von ihr?«, fragte sie dann. »Niemand außer Maria?«

»Die Frau, die den Haushalt macht, kennt sie. Ansonsten lebe ich recht zurückgezogen.« Minter schwieg einen Moment lang, dann schüttelte er den Kopf. »Nein. Niemand.«

Und wie lange wird es dauern, bis sie stirbt, dachte Rosalie. Aber diese Frage konnte sie Minter natürlich nicht stellen, nicht hier in diesem Raum und auch sonst nicht.

»Keiner weiß, wie lang es so gehen kann«, sagte Minter, der ihren Gedanken erraten hatte. »Sie kann heute noch sterben. Sie kann uns alle überleben.«

Rosalie nickte und starrte in den Hinterhof vor dem Fenster. Unten hatte jemand Blechdosen und Eimer mit Erde gefüllt, um darin Blumen oder Gemüse zu pflanzen. Eine Gießkanne stand neben den Gefäßen, als könnte der Gärtner die Aussaat der Pflanzen gar nicht mehr erwarten.

»Es kann nicht weitergehen«, sagte Minter. »Zwischen Ihnen und mir.«

Aber sie wussten beide, dass das nicht stimmte. Und dass ihre Geschichte nicht am Ende war, sondern soeben erst begonnen hatte.

Das Medaillon

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