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3. Kapitel

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»Auf dem Gebiet des Körperlichen zunächst dürfte die Behauptung eines Differenzirungsmangels der Frauen Geltung haben. Durch die ganze Natur hindurch ist das weibliche Geschlecht weniger modifizirt als das männliche; das Weibchen ist überall den Jungen der eigenen Spezies ähnlicher als das Männchen; bei den verschiedensten Menschenrassen haben Messungen ergeben, dass die Männer weit mehr von einander verschieden sind als die Frauen. Und dieses Verhältniss wiederholt sich am Individuum. Die Oberfläche des männlichen Körpers ist mehr differenzirt als die des weiblichen. Das Knochengerüst tritt energischer hervor, macht sich durch Hebungen und Senkungen bemerkbar, während bei dem Weibe die gleichmäßigeren Fettpolster den Körper als eine mehr ebene, nur in großen Zügen gehobne und gesenkte Fläche erscheinen lassen.«

(aus »Zur Psychologie der Frauen« von Georg Simmel, 1890)

Fuhlrotts Haar sträubte sich über seinem Kopf, grau und wirr, es sah aus, als wäre es gefroren. Der Winter war in diesem Jahr früh gekommen, schon im November war der erste Schnee gefallen und jetzt im Dezember waren die Pfützen auf den Elberfelder Straßen schwarz und hart wie Glas und die Dächer von einer weißlichen Eisschicht überzogen.

Rosalie schlang ihre Arme um ihren Körper und tat einen Schritt zur Seite, damit Fuhlrott rasch eintreten konnte und möglichst wenig von der eisigen Winterluft nach drinnen drang. Dabei war es egal, denn im Haus war es nicht viel wärmer als draußen auf der Straße. Selbst wenn der Ofen glühte, schien die Wärme direkt wieder durch die Wände zu entweichen, sie verflog in den zahllosen unbewohnten Räumen und löste sich unter den hohen Decken auf.

Fuhlrott zog seine Fäustlinge von den Händen und blies auf die rot gefrorenen Finger. In der Dunkelheit des Hausflurs bildete sein Atem eine weiße Wolke.

»Ein lausiges Wetter«, knurrte er. »Ist unser junger Freund denn schon eingetroffen?«

Unser junger Freund. Rosalie spürte, wie die Kälte in ihren Gliedern einer heißen Wut wich. Immer wenn sich die beiden Doktoren abends trafen, war jetzt auch der Apotheker dabei. Sie hatten ihn aufgenommen in ihren Männerbund, er war wie sie Mitglied im Naturwissenschaftlichen Verein, sie nahmen ihn ernst auf eine Weise, wie sie Rosalie nie ernst nehmen würden, obwohl sie nur wenige Jahre jünger war als Minter.

Er war ein Mann und sie eine Frau, das war der ganze Unterschied.

Fuhlrott, der nichts von ihren zornigen Gedanken ahnte, ging vor ihr die Treppe hinauf, er summte leise vor sich hin in Erwartung der anregenden Unterhaltung.

Als er das Kaminzimmer betrat, erhob sich Dr. Kuhn halb aus seinem Sessel.

»Ah, der Bildungsreisende ist wieder zurück«, rief er Fuhlrott entgegen, halb spöttisch, halb ehrerbietend. »Nun, was haben die Gespräche in Bonn ergeben?«

»Bestätigung«, rief Fuhlrott, während er zuerst Kuhn, dann Minter die Hand schüttelte, der auf dem Sofa saß, sein Bierglas schon vor sich. »Bestätigung in jeder Hinsicht.«

Er nahm in einem Sessel Platz, lächelte schief und ein wenig herablassend, als er sah, wie die beiden anderen sich erwartungsvoll nach vorn beugten.

Rosalie überlegte, ob sie den Abend allein in der Küche verbringen sollte oder gleich in ihrem eiskalten Schlafzimmer, die Bettdecke bis zum Kinn gezogen. »Einen Krug für unseren Gast«, sagte ihr Vater fröhlich, dabei wandte er sich nicht einmal nach ihr um, aber natürlich sprach er mit ihr.

Sie drehte sich um und ging in die Küche, wo Friedel Kartoffeln schälte. Sie summte leise bei der Arbeit und beachtete Rosalie, die einen Krug aus dem Schrank holte, gar nicht. Erst als der Becher aus Rosalies Händen glitt und auf dem Boden zersprang, fuhr Friedel zusammen und ließ vor lauter Schreck auch ihr Messer und die Kartoffel fallen.

Die Scherben flogen in alle Richtungen.

»Herr im Himmel«, jammerte Friedel, Rosalie dagegen fühlte eine große Befriedigung. Am liebsten hätte sie noch einen Krug aus dem Schrank genommen und gleich hinterher geworfen. Friedel bückte sich nach Kehrblech und Besen, aber Rosalie hielt sie zurück. »Lass nur, das mache ich.«

Sie sammelte die größeren Scherben in ihre Hand und schnitt sich dabei in die Finger. Im gelblichen Licht der Öllampe sah sie, wie der Schnitt dunkelrot wurde, und auch das erfüllte sie mit Befriedigung. Sie starrte auf das Blut, das nun aus dem Riss quoll und über ihren Zeigefinger lief und dann über die Hand.

»Um Gottes Willen.« Jetzt hatte auch Friedel die Wunde bemerkt. »Was machst du denn, Rosalie? Du lieber Herrgott im Himmel, ich will gleich Verbandszeug holen.« Sie eilte aus der Küche und stieß dabei fast mit Minter zusammen, der plötzlich im Türrahmen aufgetaucht war.

»Haben Sie sich verletzt?«, fragte er unnötigerweise.

»Es ist nichts«, sagte Rosalie. »Nur ein kleiner Kratzer. Friedel wird die Wunde versorgen. Bitte, nehmen Sie sich einen neuen Krug aus dem Schrank.« Und lassen Sie mich in Ruhe, vervollständigte sie den Satz im Geiste.

»Das ist ein tiefer Schnitt.« Minter trat näher. Er fasste die blutverschmierte Hand am Gelenk und betrachtete sie mit einer Mischung aus Interesse und Widerwillen.

Nun kam Friedel mit einer Mullbinde zurück in die Küche, die sie aus der Praxis geholt hatte.

»Geben Sie her«, sagte Minter und nahm der Magd die Binde aus den Händen. Dann verband er die Wunde, zuerst den Finger, dann die ganze Hand.

Friedel fegte murmelnd die Scherben zusammen und warf alles in den Ascheneimer. Dann wandte sie sich wieder ihren Kartoffeln zu. Minter hielt immer noch Rosalies Hand und sein Blick ruhte auf ihrem Gesicht. Er wirkte jetzt nicht mehr besorgt, sondern voller Neugierde, als versuchte er ihre Gedanken zu lesen. Sie zog ihre Finger aus seiner Hand und senkte die Augen. Hinter einem der Füße des Büfetts glitzerte eine vergessene Glasscherbe hell und boshaft.

»Warum sind Sie so wütend?«, flüsterte Minter.

Nun sah sie ihn doch wieder an. Er begegnete ihrem Blick, ohne zu blinzeln. Sie war sich auf einmal unsicher, ob sie ihn richtig verstanden hatte, ob er nicht etwas ganz anderes gefragt hatte. Ihr fiel auf jeden Fall keine Antwort ein und auch er sagte nichts. Stattdessen holte er einen Krug aus dem Schrank und nickte ihr dann zu, so verließen sie gemeinsam den Raum und gingen zurück ins Kaminzimmer.

»Professor Mayer ließ sich entschuldigen«, begann Fuhlrott seine Erzählung, nachdem Kuhn einen schnellen Blick auf den Verband geworfen und empfohlen hatte, alles einfach gut ausbluten zu lassen. »Er sei bettlägerig. Aber Schaaffhausen war da. Es war eine interessante Unterhaltung, wirklich äußerst interessant. Ich kann sagen, dass sich die Fahrt nach Bonn in jeder Beziehung gelohnt hat.«

»Was hat er gesagt?«, fragte Kuhn. »Nun erzählen Sie schon!«

»Die Kalotte erinnerte ihn an einen ähnlich groben Menschenschädel, über den ein gewisser Dr. Spring aus Lüttich publiziert hat. Ein Relikt, das aus der Höhle von Engis nahe Namur stammt. Ich habe mir den betreffenden Artikel angesehen, in der Tat ein aufschlussreicher Bericht. Sagt Ihnen die Sache etwas?« Er hatte die Frage an Minter gerichtet, der inzwischen wieder auf dem Sofa Platz genommen hatte. Rosalie saß neben ihm, wegen des Verbandes nähte sie nicht, sondern hielt ihre Hände im Schoß gefaltet.

Der Apotheker zuckte mit den Schultern. »Ich verbinde weder mit dem Namen noch mit dem Fundort etwas.«

»In der Höhle von Engis wurden die Überreste diluvialer Tiere zusammen mit einem Menschenschädel und anderen Knochenresten gefunden, außerdem behauene Steine, bei denen es sich um vorsintflutliches Werkzeug handeln könnte ...«

»Und dieser Spring ordnet den Schädel einem diluvialen Menschen zu?«, fragte Minter.

»Er schließt zumindest die Möglichkeit nicht aus, dass es sich um einen solchen handeln könnte. Immerhin lässt die Einbettung der menschlichen Überreste in nächster Nähe der Tierknochen auf eine zeitliche Verwandtschaft schließen.«

»Ich glaube, ich habe damals von der Sache gehört«, meinte Kuhn. »Und ich meine mich auch an die Veröffentlichung von Spring zu erinnern. Hat Buckland ihm nicht aufs Schärfste widersprochen und Cuvier ebenfalls?«

»Buckland«, sagte Fuhlrott, seine Stimme sank dabei um zwei oder drei Töne. »Er ist Geologe und Theologe, und ich habe mitunter den Eindruck, dass in seinem Falle die eine Wissenschaft die andere eher behindert als weiterbringt.«

»Oho«, machte Kuhn. »Das ist ein hartes Urteil. Er scheint doch durchaus aufgeschlossen neuen Thesen und Ideen gegenüber. Immerhin nimmt er wie Cuvier von der Bibelaussage Abstand, dass die Welt in sechs Tagen von Gott erschaffen wurde.«

»Nun, in jedem Fall habe ich mich dazu entschlossen, ihm einen Besuch abzustatten.« Fuhlrott verschränkte seine Hände, so dass sich die einzelnen Finger überkreuzten, dann schob er die Handgelenke nach oben. Die Fingerknochen knackten, als wären sie im Begriff durchzubrechen.

»Wem? Buckland oder Cuvier?«

Fuhlrott schnaubte verächtlich. »Spring. In Lüttich. Es ist nicht weit von hier und die Funde können im dortigen Museum in Augenschein genommen werden ...«

»Wäre es nicht viel wichtiger, zuerst einmal ins Neandertal zu fahren?«, unterbrach ihn Rosalie. Die Frage war ihr die ganze Zeit schon durch den Kopf gegangen, seit Fuhlrott von den Relikten von Engis erzählt hatte. Vielleicht ließen sich in der Feldhofer Grotte, in der die Gebeine damals entdeckt worden waren, wichtige Erkenntnisse gewinnen. Unter Umständen verbargen sich auch dort Überreste von diluvialen Tieren im Lehmboden oder andere Relikte. In jedem Fall musste man schnell handeln, wenn man etwas erreichen wollte, die Knochen waren schon im Sommer gefunden worden und jetzt war es Dezember.

»Ins Neandertal?«, meinte Fuhlrott verständnislos. »Was sollten wir dort erwarten? Die Feldhofer Grotte ist längst gesprengt, zumindest der größte Teil.«

»Aber vielleicht ließe sich herausfinden, wohin die Lehmreste aus der Höhle gebracht worden sind. Unter Umständen verbirgt sich noch mehr Entdeckenswertes in dem Abraum.«

»Nun, die genaue Stelle lässt sich sicherlich nicht mehr ausmachen«, sagte Fuhlrott. »Im gesamten Tal werden Tag für Tag immense Mengen Gestein und Kalk abgebaut, die landschaftlichen Umwälzungen sind beträchtlich und in unserem Falle geht es um einige Handvoll Lehm. Nach einer so langen Zeitspanne wird sich niemand mehr daran erinnern, wohin man diese Sedimente gebracht hat.«

Sein Ton war herablassend, als ob er mit einem unverständigen Schüler redete, aber Rosalie nahm es gar nicht richtig zur Kenntnis.

Auch wenn der Abraum verschwunden war, dachte sie, vielleicht würden sich die Arbeiter wenigstens an die Verhältnisse in der Höhle, die ungefähren Fundumstände, erinnern. In welcher Tiefe die Relikte gelegen hatten und wie der Boden beschaffen war. Aber als sie den Gedanken aussprechen wollte, waren die Herren schon beim nächsten Thema, sie befanden sich bereits in Lüttich und bei der Frage, ob Fuhlrott noch vor oder lieber nach Weihnachten dorthin reisen sollte.

Es war spät in der Nacht, als sich Fuhlrott von ihrem Vater verabschiedete und Minter Rosalie die Hand reichte. Er nahm ihre Rechte, die immer noch in ihrem Verband steckte, und betrachtete sie nachdenklich. »Ihre Überlegung von vorhin war recht vernünftig«, sagte er leise.

»Wie bitte?«, fragte Rosalie überrascht. Machte der Apotheker sich über sie lustig?

»Nicht dumm«, sagte er. »Gar nicht dumm.«

»Finden Sie?« Nun klang ihre Stimme schärfer. »Warum haben Sie mich dann nicht unterstützt?«

Sie wollte sich abwenden, aber auch jetzt ließ er ihre Hand nicht los. »Ich dachte, Sie könnten für sich selbst reden. Aber offensichtlich habe ich mich getäuscht, da Sie Ihre Überlegungen beim ersten Widerspruch kampflos der allgemein vorherrschenden Überzeugung geopfert haben.«

Sie öffnete den Mund, um etwas zu entgegnen, ich bin ja bloß eine Frau, wollte sie sagen, wer sollte mich ernst nehmen, aber unter seinem ernsten Blick zerfiel ihre Antwort, bevor sie sie ausgesprochen hatte. Stattdessen sagte sie: »Wenn Sie also der Meinung sind, dass meine Idee gut war und richtig, warum kommen Sie dann nicht mit? Begleiten Sie mich ins Neandertal und lassen Sie uns die Arbeiter befragen, vielleicht finden wir etwas heraus, das die Wissenschaft weiterbringt.«

Diesmal schien er sich zu fragen, ob er richtig gehört hatte, und wenn ja, ob sie das, was sie ihm vorgeschlagen hatte, wirklich ernst meinte. Sie kämpfte gegen den fast unwiderstehlichen Drang, die Augen niederzuschlagen.

»Nächsten Freitag«, sagte er. »Passt Ihnen das?«

»Was habt ihr jungen Leute da zu tuscheln?«, dröhnte die laute Stimme ihres Vaters neben Rosalie. Sie fuhr zusammen und spürte, dass sie rot wurde, und wandte sich rasch ab, damit Minter es nicht bemerkte. Aber als sie zu Fuhlrott trat, um sich von ihm zu verabschieden, sah sie aus dem Augenwinkel, dass der Apotheker lächelte, und das ärgerte sie, aber gleichzeitig freute es sie auch.

Am Freitagmorgen holte Minter sie ab. Sie gingen über die Döppersbergbrücke zum Bahnhof und wie immer, wenn sie durch das stolze Eingangsportal des neuen Gebäudes ging mit seinem griechisch anmutenden Säulenaufbau, berührte sie das auf eine feierliche Weise, als betrete sie einen Tempel.

In der Eingangshalle verlor sich das Gefühl in der Hektik, im Gewirr der Leute, in den Schreien der Zeitungsburschen. Minter besorgte die Billetts am Schalter, dann bot er ihr seinen Arm an, aber sie übersah die Geste und starrte stattdessen auf die Uhr unter der Decke. »Zwanzig nach neun«, sagte sie. »Wann geht unser Zug?«

»In zehn Minuten«, erklärte Minter. »Bahnsteig drei.«

Sie gingen durch die Sperre zu den Gleisen und warteten schweigend zwischen Familien mit lärmenden Kindern, trauernden Liebespaaren, Geschäftsreisenden, Koffern, Hutschachteln und einem Vogelkäfig. Die Gleisanlagen wurden von bogenförmigen Stahlstreben überspannt, die ein Glasdach trugen, durch das man in einen wolkenlosen Himmel schaute. Als die Lokomotive in den Bahnhof einfuhr, sammelte sich der graue Dampf unter dem Dach und vernebelte ihren Blick.

Sie hatten ein Abteil ganz für sich allein. »Am Hochdahler Bahnhof nehmen wir eine Droschke«, erklärte Minter. »Bis zum Tal sind es vielleicht zehn Minuten.«

»Hoffentlich sind die betreffenden Arbeiter im Steinbruch, dass wir die Reise nicht umsonst gemacht haben«, sagte Rosalie.

Er lächelte und schien etwas entgegnen zu wollen, aber dann sagte er doch nichts.

Sie sah aus dem Fenster, vor dem eine graugrüne Wiese vorbeiglitt, dahinter Bäume, die ihre kahlen Äste fröstelnd in die leuchtend blaue Winterluft streckten. Dann ging das Grün plötzlich in Braun über und dann war auch das Feld zu Ende und sie fuhren durch den Wald.

»Wo haben Sie gewohnt, bevor Sie nach Elberfeld gekommen sind?«, fragte sie Minter, ohne den Blick von den Bäumen zu wenden.

»Ich komme aus Kleve. Das liegt auch im Bergischen, aber mehr den Niederlanden zu.«

»Und? Hat es Ihnen dort nicht gefallen oder warum sind Sie hierher gezogen?«

Er zuckte mit den Schultern. »Hier war die Apotheke zu haben und da habe ich zugegriffen.«

»Und jetzt gefällt es Ihnen hier?«

Er schwieg und sie bekam plötzlich Angst, dass er sagen könnte, es gefiele ihm nicht, und dass er plante, wieder wegzugehen. Sie löste ihren Blick vom Fenster und begegnete seinem Blick und fragte sich, ob er sie die ganze Zeit über angesehen hatte.

»Ja oder nein?«, fragte sie, als er immer noch nichts sagte. Er lachte und schien gleichzeitig nach einer Antwort zu suchen, obwohl die Frage nicht gerade schwierig gewesen war.

»Ja«, sagte er schließlich.

Als sie vor dem Tor des Steinbruchs aus der Droschke stiegen, stand die Wintersonne genau über den Felsen. Sie tauchte die Landschaft in ein grelles Licht und ließ alles, was im Schatten lag, noch dunkler, noch schroffer erscheinen. Dazwischen wand sich die Düssel wie ein glitzerndes Armband. Die Sprengarbeiten hatten große Teile der Klamm weggerissen, an diesen Stellen zogen sich die Steinwände halbkreisförmig zurück, aber obwohl die ursprüngliche Landschaft zerstört war, lag ihre frühere Schönheit noch in der Luft, eine wundersame Erinnerung.

Rosalie sah zu, wie Minter den Kutscher bezahlte und wie er dabei seine Augen zusammenkniff, weil ihn die Sonne blendete. Es war ein anderer Minter, er erinnerte sie nur vage an den Apotheker, der ihr tagsüber Pillen und Salben verkaufte und Hustenpastillen in Tüten füllte und abends mit ihrem Vater und Fuhlrott diskutierte.

»Wir möchten zu Herrn Pieper«, teilte er einem der Arbeiter mit, der sich hinter dem Tor auf seine Schaufel stützte und eine Zigarette rauchte.

»Pieper nix da«, gab der Mann in gebrochenem Deutsch zurück, während seine Augen dem Zigarettenrauch folgten, der sich in der kalten Winterluft rasch verflüchtigte.

»Und Herr Beckershoff?«

Der Arbeiter wies mit dem Kopf zu dem kleinen Gebäude, das sich in einiger Entfernung vor der Felswand zusammenduckte.

Minter nickte Rosalie zu und dann ging er vor ihr her zum Haus. Die Sonnenstrahlen legten einen harten Glanz auf sein schwarzes Haar.

Der Steinbruchbesitzer empfing sie in einem dunklen, engen Büro, er hatte einen mächtigen Kinnbart und kleine, schmale Augen, aus denen er sie misstrauisch musterte. Als Minter die Knochen erwähnte, wurde sein Gesichtsausdruck von einer Sekunde zur anderen freundlicher. »Die Skelettteile, selbstverständlich erinnere ich mich an sie«, sagte er. »Hat ja in allen Zeitungen gestanden, dass wir da unter Umständen auf ein ganz tolles Ding gestoßen sind.«

Er ging zum Fenster und schaute hinaus in den Steinbruch, der immer noch von dem übernatürlichen Winterlicht angestrahlt wurde. »Dachte schon, dass Sie zu diesen Künstlergestalten gehören, diesen Verrückten aus Düsseldorf. Tauchen hier auf und lamentieren, dass wir Gottes schöne Natur zerstören und ihre pittoresken Bildmotive. Früher, ja, da war die Welt in Ordnung, als sie die Schlucht für sich hatten und in den Höhlen ihre Feste gefeiert haben und Gedichte aufsagten und Bilder malten. Aber die Zeiten haben sich geändert, die Industrie schreitet mit wackeren Schritten voran und fordert ihre Opfer von jedem. Und die Künstlerleute haben leicht reden, die tragen ja keine Verantwortung, die haben weder Familien noch Angestellte.«

Minter warf Rosalie einen Blick zu, halb amüsiert, halb mitleidig. Sie dachte an ihren Vater, der die Zerstörung der Felslandschaft durch den rücksichtslosen Kalkabbau genauso beklagte wie die sorglosen Künstler, von denen Beckershoff gesprochen hatte.

»Nun, aber deswegen sind Sie ja nicht gekommen, Sie interessieren sich ja für die Gebeine«, fuhr der Steinbruchbesitzer fort. Er wandte sich vom Fenster ab und Minter zu. »Da will ich mal schauen, ob ich die Männer auftreiben kann, die damals die kleine Höhle ausgeräumt haben.«

Es waren drei Arbeiter, die er kurz darauf in sein Büro brachte, einer von ihnen war der Mann, den sie vorhin am Werkstor gesehen hatten, und Rosalie fragte sich unwillkürlich, ob Beckershoff nicht einfach die erstbesten Männer geholt hatte, auf die er getroffen war.

»Zwei davon sind Italiener«, sagte Beckershoff, er klang dabei fast entschuldigend. »Sie werden Sie kaum verstehen können, aber zumindest Joseph kann Deutsch.« Er wies auf den größten der drei Arbeiter, einen stämmigen Kerl mit zerzaustem Vollbart.

Minter räusperte sich. »Sie haben im August die Knochenfunde gemacht?«, begann er. Die beiden Italiener trugen schwarze Schnauzbärte, die in der warmen Ofenluft im Büro zu zittern schienen. Sie musterten Minter mit einer Mischung aus Ungeduld und Unsicherheit.

»Ich möchte, dass Sie uns genau davon berichten.« Minter holte ein Notizbuch und einen Stift aus der Manteltasche und Rosalie sah, wie sich die Augen der Arbeiter weiteten. »Sagen Sie mir bitte, wie Sie heißen. Und dann erzählen Sie uns von der Entdeckung, alles, jede Einzelheit.«

Der Vollbart nannte seinen Namen und die seiner Kollegen und wartete, bis Minter sie aufgeschrieben hatte, dann hakte er seine Daumen in die vorderen Hosentaschen und schwieg.

»In welcher der Höhlen haben Sie die Skelettteile gefunden?«, fragte Minter.

»In der kleinen Höhle.«

»Der Feldhofer Grotte?«, fragte Minter.

Der Bärtige nickte.

»Berichten Sie also.«

Er räusperte sich erneut. »Wir sollten den Lehm weghacken und aus der Höhle schaufeln, weil sonst der Kalk nicht abgebaut werden kann.«

»Die Erde würde den Kalk verunreinigen«, erklärte Beckershoff, der ein wenig abseits stand, an seinen Schreibtisch gelehnt, und dem Mann zuhörte wie ein strenger Lehrer seinen Schülern.

»Wir haben also den Lehm entfernt«, fuhr der Arbeiter fort.

»Womit?«, fragte Minter.

»Spitzhacken. Es war verdammt mühselig.« Erst als die beiden Italiener verlegen lachten, wurde ihm bewusst, dass er in Gegenwart einer Dame geflucht hatte. Sie verstehen jedes Wort, dachte Rosalie, während sich die Haut des ersten Arbeiters zwischen Bart und Augen dunkelrot verfärbte. »War steinhart, der Boden, aber dann war die oberste Schicht erst mal weg und dann wurde es leichter.«

»Und dann?«

»Und dann kamen die Gebeine.«

»In welcher Tiefe?«

»Ungefähr so«, sagte der Arbeiter und zog seine Hände auseinander, erst in eine Entfernung von vier, fünf Spannen, dann wurde der Abstand größer und dann gingen die Hände wieder aufeinander zu. Minter seufzte und schrieb ein paar Zahlen in sein Notizbuch.

»Danach haben Sie die Skelettteile zur Seite geschafft?«

»Wir haben sie aus der Höhle geschaufelt, nach unten geworfen, zusammen mit dem Dreck«, erklärte der erste wieder. »Wir dachten, es ist irgendein altes Tier, das da liegt, ein Bär, irgendwas.« Er zuckte verächtlich mit den Schultern. »Und dann kam Herr Beckershoff und hat den Schädel gesehen und dann hat er uns gesagt, dass die Knochen aufbewahrt werden sollen. Für den Lehrer.« Er starrte auf die Spitzen seiner lehmverklumpten Stiefel, vielleicht dachte er, um wie viel einfacher alles wäre, wenn Beckershoff nicht ausgerechnet in jenem Moment zu ihnen gestoßen wäre. Wenn die Knochen jetzt mit dem Lehm in irgendeiner Grube lägen, aufs Neue begraben.

»Und Sie haben alle Fragmente aus dem Lehm entfernt?«, fragte Minter. »Alle Knochenteile, da sind Sie sich sicher?«

Die drei Männer nickten im Gleichtakt auf und ab, als hätten sie die Bewegung vorher zusammen einstudiert. »Tutti quanti«, sagte der Italiener, den sie am Eingang gesehen hatten, es war das erste Mal, dass er sich zu Wort meldete.

»Alles«, übersetzte sein Kollege. Dann sahen sie auf die Uhr über der Tür und Minter seufzte wieder.

»Wo genau wurde der Aushub hingebracht?«, fragte er.

»Das wissen wir nicht mehr«, erklärte der Älteste. »Ein Teil hierhin, ein anderer dorthin.«

»Gut«, sagte Minter, aber sein Gesichtsausdruck sagte etwas anderes. »Ich denke, wir sind dann fertig.«

Die drei Männer bewegten sich sofort in Richtung Tür, ihre Gesichter waren dabei vollkommen ausdruckslos und Rosalie fragte sich, wie alt sie wohl sein mochten, bestimmt um einiges jünger, als sie wirkten. Die Arbeit im Steinbruch war Knochenarbeit und auch wenn Herr Beckershoff vorher von der Verantwortung für seine Arbeiter gesprochen hatte, bezweifelte sie, dass er sie übermäßig schonte. Wenn einer nicht mehr konnte, dann übernahm eben ein anderer, ein Jüngerer, seine Arbeit. Die Industrie schreitet mit wackeren Schritten voran, dachte sie. Auch über Leichen. Und dieser Gedanke brachte sie plötzlich auf eine Idee.

»Halt!«, rief sie. Die Männer waren schon fast durch die Tür, mitten in der Bewegung hielten sie inne und drehten sich um. »Nur eine Frage noch, bitte, wenn Sie entschuldigen«, sagte Rosalie.

»Aber sicher«, meinte Minter statt der Männer. »Natürlich.«

»Die Gebeine«, sagte Rosalie. »Lagen sie über den ganzen Höhlenboden verstreut oder waren sie wie ein Skelett angeordnet, der Schädel zuoberst und so fort?«

Die Männer sahen Beckershoff an, sie schienen nicht sicher zu sein, ob sie auf Rosalies Frage antworten sollten. »Na los doch, wird´s bald.« Der Steinbruchbesitzer schnalzte mit der Zunge, als seien die drei Ackergäule, die er antreiben musste.

»Wie ein Skelett«, sagte der Vollbart daraufhin. »Oben der Kopf und dann der Rest.«

»Dann müssen in dem Aushub noch mehr Fragmente sein«, rief Minter. »Sie haben nur einen Teil geborgen, nur einen winzigen Teil des Ganzen.«

Die großen, schmutzigen Schuhe der Männer machten schlurfende Geräusche auf dem Holzboden. Minter sah Rosalie an, sie zuckte mit den Schultern.

»Vielen Dank«, sagte Minter.

Sie hatten die Feldhofer Grotte besichtigt, zumindest den kleinen, hinteren Teil, der noch übrig war, und die Arbeiter hatten ihnen gezeigt, wie das Skelett ihrer Erinnerung nach gelegen hatte, auf dem Rücken, den Kopf zum Höhlenausgang.

Dann hatten sie sich umgesehen, ein wenig ratlos. »Ich bin weder Archäologe noch Geologe«, sagte Minter achselzuckend. »Ich habe keine Ahnung, worauf ich achten sollte.«

Unten im Steinbruch verabschiedete sich Beckershoff von ihnen und weil es noch früh war, beschlossen sie, zu Fuß zum Bahnhof zurückzugehen. »Vielleicht gibt es einen Wanderpfad, der idyllischer ist als die Straße«, meinte Minter.

Sie steuerten einen der kleinen Bauernhöfe an, an dem sie mit der Droschke vorbeigekommen waren. Die Bauersfrau beschrieb ihnen den Weg erst umständlich und fuchtelte dabei mit den Händen in der Luft herum, in die eine Richtung und dann in die andere, aber am Ende holte sie ihren Sohn. »Zeig den Herrschaften aus der Stadt den Fußweg nach Hochdahl, Johannes.«

Der Junge war neun oder zehn und schien wenig begeistert, aber als Minter ein paar Groschen aus der Tasche holte und damit herumklimperte, nickte er begeistert und rannte dann so schnell los, dass sie Mühe hatten, ihm zu folgen. Von der Straße aus bog er in einen schmalen Trampelpfad in den Wald ein, der zuerst eben verlief und dann steil nach oben. Johannes kletterte wie ein Wiesel voran, Minter folgte ihm mit erstaunlicher Behändigkeit und Rosalie verwünschte ihren weiten, langen Rock, mit dem sie ständig an niedrigen Ästen, Dornen und Gestrüpp hängen blieb. Immer wütender riss sie sich los, mit einer solchen Wucht, dass sie ein paar Male fast gefallen wäre. Ihre Hände krallten sich in den Waldboden, an moosige Baumstämme, um feuchte Steine. Minter und der Junge entfernten sich immer weiter von ihr, bis Minter es endlich bemerkte, hatten sie das Ende des Abhangs fast erreicht. Auf den letzten Metern streckte er ihr seine Hand entgegen und wirkte schuldbewusst, als sie sie ignorierte. Der Junge erwartete sie oben, er trat aufgeregt von einem Fuß auf den anderen und grinste, als sie ihn endlich erreicht hatten.

»Ich kann Ihnen auch noch etwas anderes zeigen«, sagte er, dabei starrte er auf die Tasche, aus der Minter die Groschen geholt hatte.

»Was soll das sein?«, fragte Minter. »Ein toter Fuchs? Oder ein hohler Baum?«

»Eine richtige Höhle.«

»Eine Höhle? Drüben beim Steinbruch?«

»Nein, hier, gleich in der Nähe«, sagte Johannes, aber mehr sagte er nicht. Erst als Minter in seine Tasche griff und ihm einen Groschen reichte, fuhr er fort. »Es ist ein beschwerlicher Weg und wenn das Frauenzimmer möchte, kann es ja hier auf uns warten.«

»Das Frauenzimmer kommt mit«, meinte Rosalie finster. »Also, wo ist diese Höhle?«

Sie rutschten die Hälfte des Abhangs, den sie so mühsam erklommen hatten, wieder hinunter. Diesmal hielt Minter sich hinter Rosalie, obwohl es ihr lieber gewesen wäre, wenn er vor ihr gegangen wäre, damit er sie auffangen konnte, wenn sie ausrutschte. Irgendwann blieb der Junge auf einer Art natürlichen Terrasse stehen.

»Hier«, sagte er und deutete mit dem Kopf nach unten und erst jetzt sahen sie den Spalt in der Erde, er war von Efeu überwuchert, aber breit genug für einen erwachsenen Menschen, wenn er nicht zu kräftig gebaut war.

»Das soll eine Höhle sein?«, fragte Minter. »Das sieht eher aus wie ein Tierbau.«

»Sicher ist das eine Höhle«, sagte Johannes und dann tat er einen großen Schritt nach vorn und war plötzlich verschwunden, es war, als hätte ihn die schwarze Tiefe aufgesaugt.

»Johannes!«, schrie Rosalie erschrocken.

»Hier.« Seine Stimme kam ganz aus der Nähe. Sie beugte sich über den Spalt und sah ihn ein paar Fuß unter sich kauern. »Man kommt ganz tief hinein«, meinte er. »Am Anfang ist es eng und ungemütlich, aber dann kann man sogar herumgehen.«

»Das muss ich mir anschauen«, murmelte Minter.

Er verschwand mit den Füßen voran im Erdreich, es war wie eine umgekehrte Geburt. Als Rosalie seinen Kopf nicht mehr sehen konnte, beschloss sie, ihm zu folgen. Sie setzte den Gedanken sofort in die Tat um, weil sie wusste, dass sie ihre Meinung ändern würde, wenn sie länger darüber nachdachte.

Wie die beiden anderen sprang sie in die Tiefe und schob sich dann weiter Richtung Dunkelheit. Zuerst die Füße, dann die Waden, die Schenkel. Ihr Rock stülpte sich dabei nach oben, sie konnte es gar nicht verhindern. Es ist verrückt, was wir hier tun, dachte sie. Wenn Vater mich hier sehen könnte oder Dorothea, wenn uns hier etwas passiert, wird uns niemand finden, keiner wird wissen, wo wir sind. Dann verschwand ihr Kopf in der schwarzen Enge und nur wenn sie ihr Gesicht nach oben drehte, sah sie einen leuchtend blauen Ausschnitt, der kleiner wurde mit jedem Fuß, den sie tiefer sank, und je kleiner der Himmelsausschnitt wurde, desto mächtiger wurde ihre Angst.

Ich sterbe, dachte sie. Sie schloss die Augen, damit sie die Dunkelheit nicht mehr sah. Dann ging es plötzlich nicht mehr weiter, ihr Becken steckte fest, weil sich ihr Rock in einem dicken Wulst zusammengeschoben hatte, ihr wurde heiß und kalt zugleich und sie würgte vor Panik. »Rosalie«, hörte sie Minters Stimme von unten. »Warum sind Sie nicht oben geblieben? Sind Sie von Sinnen?«

Ja, wollte sie antworten, aber sie brachte keinen Ton heraus, und dann spürte sie plötzlich Hände an ihren Beinen, die sie hielten und nach unten zogen.

Sie war in der Höhle, in einer alles umfassenden Dunkelheit, und ihr gegenüber stand Minter und seine Hände umfingen sie und sie hatte überhaupt keine Angst mehr. Irgendwo in der Dunkelheit tropfte Wasser auf Stein, in seiner ruhigen Regelmäßigkeit verband das Geräusch den Schlag ihrer Herzen zu einem Gleichtakt. Dann hörte Rosalie ein Rascheln und ein Ratschen, eine Flamme zerriss die Finsternis und im selben Moment ließ Minter sie los.

»Hier, das ist also meine Höhle«, sagte Johannes. Er warf das Streichholz weit von sich. Es beschrieb einen leuchtenden kleinen Bogen und dann landete es und verlosch. »Wollen Sie sie erkunden?«, fragte er in die Dunkelheit hinein.

»Rosalie«, sagte Minter und erst nach einigen Augenblicken merkte sie, dass es eine Frage gewesen war.

»Nein«, sagte sie. In dem Moment, in dem Minter sie losgelassen hatte, war auch die Panik wiedergekommen. »Ich gehe ... wieder nach oben.«

Einen Moment lang befürchtete sie, dass sie den Ausgang nicht mehr finden würden, aber als sie sich umdrehte, erkannte sie ihn sofort, einen hellgrauen Schlitz in der Finsternis. Der Rückweg war ganz einfach, obwohl es jetzt nach oben ging, aber ihr Gesicht war nun dem Licht zugewandt. Sie zog sich ans Tageslicht und hinter ihr tauchte Minter auf und schließlich auch der Junge. Minters Gesicht war ganz ruhig und freundlich, als wäre dort unten nichts zwischen ihnen geschehen, als wäre es ganz normal, dass er sie festgehalten hatte. Vielleicht war es der Junge, wahrscheinlich wollte er sich vor ihm nichts anmerken lassen, dachte sie und fühlte sich bestätigt, als Minter auf seine Uhr schaute und feststellte, dass es nun doch später sei als gedacht und dass sie wieder zum Steinbruch zurückgehen sollten, um dort eine Droschke zu nehmen.

»Bekomme ich denn dann meine Belohnung trotzdem?«, fragte Johannes ängstlich.

»Was ich einmal versprochen habe, das halte ich auch«, sagte Minter und starrte dabei angestrengt auf den Waldboden.

Auch als der Junge nicht mehr bei ihnen war, in der Droschke und im Zug nach Elberfeld, blieb Minter stumm und unnahbar. Ihr Abteil war voll, sie quetschten sich zu viert in eine Holzbank, in der eigentlich nur drei Platz hatten. Minter saß Rosalie gegenüber und manchmal begegneten sich ihre Blicke und dann lächelte Minter und wandte die Augen ab. Irgendwann lehnte Rosalie ihren Kopf gegen die schmutzige Fensterscheibe, sie schloss die Augen und tat, als ob sie schlief, aber in Wirklichkeit dachte sie an die Dunkelheit in der Höhle und an Minters Hände und fragte sich, was sie falsch gemacht hatte, warum er jetzt so stumm und abweisend war.

Erst als der Zug im Hauptbahnhof einfuhr, öffnete sie die Augen wieder und ihr Blick fiel auf ihren Rock und sie sah, wie schmutzig sie war, die Kleider, die Hände, alles starrte vor Lehm. Und Minter war genauso schmutzig wie sie.

Zu Hause weichte sie den Rock gleich in Seifenlauge ein und bearbeitete ihn dann mit einer Wurzelbürste, dennoch blieben gelblich-braune Flecken zurück. Sie plättete ihn und hängte ihn auf einen Bügel in den Schrank, obwohl sie genau wusste, dass sie ihn nie mehr tragen würde.

Das nasskalte Winterwetter führte zu einem Hochbetrieb in der Praxis, das Wartezimmer ihres Vaters war schon morgens um acht voller hustender, niesender, röchelnder Patienten und Rosalie, die ihrem Vater zur Hand ging, die die Kranken aufrief, wenn sie an der Reihe waren, und die Spucknäpfe auswusch und das Geld in Empfang nahm, wunderte sich jeden Tag aufs Neue darüber, dass sie und ihr Vater noch gesund waren.

Ständig mussten Hustensäfte, Tinkturen und Pulver aus der Apotheke geholt werden, aber Rosalie schickte immer den Nachbarsjungen, nur einmal war sie selbst gegangen. Es war zwei Tage nach ihrem Ausflug gewesen und sie hatte die Hoffnung gehabt, dass sich klären würde, was auch immer zwischen ihr und Minter geschehen war.

Als sie die Apotheke betrat und ihn hinter der Ladentheke sah, spürte sie ihr Herz in ihrem ganzen Körper, in ihrem Brustkorb, in ihrem Hals und tief in ihrem Leib. Er dagegen schien sie gar nicht zu bemerken, erst als sie an der Reihe war, blickte er sie an.

»Guten Tag, Rosalie«, sagte er freundlich. »Was kann ich für Sie tun?« Ihr Herzschlag war jetzt auch im Kopf und dröhnte so laut in ihren Ohren, dass sie nichts entgegnen konnte, weil sie ihre eigene Stimme nicht gehört hätte, also reichte sie ihm einfach nur ihr Rezept.

Er warf einen Blick darauf und verschwand im Nebenraum und dann packte er alles in ihren Korb, der auf der Theke stand, und sie bezahlte und grüßte und ging. Draußen lief sie schneller, immer schneller und schneller, sie spürte den Wind in ihrem Gesicht und die Regentropfen, dabei regnete es gar nicht.

Das Medaillon

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