Читать книгу Wohl in meiner Haut - Gisela Enders - Страница 9
Ausgrenzung wird früh erlernt
ОглавлениеDie Stigmatisierung beginnt leider bereits recht früh – schon in der Kindheit. Die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass es für ein dickes Kind keinen Schutzraum gibt. Angefangen bei der großen Politik, die in dicken Kindern den Anfang von umfangreichen Krankheiten sieht und diese gerne in Abnehmcamps schicken. Ärzte sehen im dicken Kind ein Problem, auch bei Besuchen zu anderen Krankheiten wird dem ohnehin kranken und damit geschwächten Kind – welches eigentlich Empathie braucht – noch mitgegeben, dass es unbedingt beim Essen aufpassen muss. Lehrerinnen kommen mit einfachen Lösungsvorschlägen und vielen Vermutungen über die Unfähigkeit der Eltern daher. Kinder untereinander können in vielfältiger Hinsicht grausam sein. Bei dicken Kindern sind sie es bestimmt. Es wird gehänselt, was das Zeug hält. Wenn das dicke Kind großes Glück hat, dann ist wenigstens das Elternhaus ein Ort der Liebe und Geborgenheit. Aber natürlich wirken alle oben genannten Einflüsse auch auf die Eltern. In der guten Absicht, dem Kind ein gesundes, glückliches Leben zu ermöglichen, wird in den meisten Fällen auch hier die Essensmenge beschränkt, am Kind rumgenörgelt und wenig Anerkennung gegönnt.
Die Nachricht in jungen Jahren: Nur wenn du abnimmst, darfst du zu uns gehören!
Die Pubertät ist für dicke Jugendliche wahrscheinlich eine der schwersten Zeiten in ihrem Leben. Neben der Veränderung des eigenen Körpers vom Kind zur Frau oder zum Mann, müssen sie sich auch noch damit auseinandersetzen, auch nur annähernd die körperliche Norm zu erfüllen. In den meisten Fällen werden junge Menschen in diesem Alter nicht liebevoll durch die eigenen Eltern unterstützt, sondern doppeldeutige Botschaften verstärken den sich entwickelnden Selbsthass.
Susanne, heute 17 Jahre, berichtet zu dem Umgang mit ihren Eltern folgendes:
„Eigentlich habe ich ein gutes Verhältnis zu meinen Eltern. Es wäre sicherlich noch besser, wenn ich es endlich schaffen würde, abzunehmen. Nicht, dass ich richtig Druck bekommen würde, aber mein Vater sagte neulich, ich hätte eigentlich ein schönes Gesicht. Er hat es wohl positiv gemeint, aber er hat mir damit auch gesagt, dass mein restlicher Körper nicht schön ist, weil er nämlich zu dick ist. Meine Mutter ist manchmal deutlicher. Sie geht zum Beispiel häufig mit mir Kleidung einkaufen. Sie begründet es damit, dass ich dann in den Umkleidekabinen sehen müsste, wie ich aussehe und dass mir viele schöne Sachen eben nicht passen, weil ich zu dick bin. Solche Aussagen machen mich immer wütend und traurig. Aber vielleicht hat sie Recht?“
Susanne ist durch die eigenen Eltern schwer verunsichert und sie wird lange brauchen, bis sie (hoffentlich) ihren Körper akzeptieren lernen wird. Wir wissen nicht, welches Leid sie noch ertragen wird, und ob sie aus der Pubertät Essstörungen oder „nur“ ein völlig unterentwickeltes Selbstbewusstsein mitnimmt. Dabei ist es gerade in der Pubertät so wichtig, von den eigenen Eltern und dem Umfeld Akzeptanz und Liebe entgegengebracht zu bekommen. Viele Jugendliche erleben auch zum ersten Mal das eigene hilflose Versagen bei Diäten. Zeitschriften, Lehrerinnen, Ärzte und die Eltern versprechen munter drauf los, dass bei reduzierter Ernährung und entsprechender Bewegung die Pfunde nur so purzeln werden. Tun sie zunächst auch. Aber spätestens bei der zweiten Diät greift der Jo-Jo-Effekt, die Jugendlichen nehmen einfach wieder zu. Natürlich sagt ihnen keiner, dass dies ein ganz normaler biologischer Vorgang ist. Nein, das Umfeld ist enttäuscht, schweigt oder macht Vorwürfe. Zurück bleiben eigene Gefühle des Versagens und der Machtlosigkeit. Negative Gefühle gegen den eigenen Körper, der eigentlich nur das Beste für einen will.
Dicke Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene erleben auch zum ersten Mal die Verknüpfung unterschiedlicher Assoziationen mit ihrem dicken Körper. Sie ist dick und überdurchschnittlich intelligent, er ist dick und sehr musisch, sie ist dick und ein ausgesprochen hübsches Mädchen... Alles Assoziationen, die uns eher fremd erscheinen. Das Gegenteil ist in der Regel der Fall. Dick und doof, dick und faul, dick und träge. Wenn dicke Jugendliche Pech haben, wird ihnen entsprechend wenig zugetraut und sie werden längst nicht so positiv gefördert, wie andere junge Menschen. In der Kombination mit dem eigenen Schuldgefühl und der Energie, die es kostet, die nächste Diät zu planen und durchzuhalten, ist dies ein Mix, welcher nicht besonders förderlich für die Bildung und einen optimalen, selbstbewussten Start ins Erwachsenenleben ist.
Nach dem Schulabschluss steht die spannende Frage der beruflichen Laufbahn auf der Tagesordnung. Wieviel traue ich mir zu, welchen Beruf kann ich mir vorstellen und wo schränke ich mich ein? Stewardess, Sportler und Schauspielerin fallen so gut wie gleich weg. Bei vielen anderen Berufen fehlt zu diesem Zeitpunkt das eigene Selbstvertrauen und die Förderung durch andere Personen, die dem jungen Menschen zureden, dass er oder sie auch nach den Sternen greifen darf. Natürlich ist dies auch bei anderen jungen Menschen nicht zwangsläufig der Fall – dennoch ist zu vermuten, dass viele dicke junge Menschen bis zu diesem Zeitpunkt nicht das ausreichende Selbstbewusstsein aufgebaut haben, um sich große berufliche Ziele zu stecken und den entsprechenden Ausbildungsweg einzuschlagen.