Читать книгу Die besten 10 Liebesromane November 2021: Romanpaket - Glenn Stirling - Страница 66

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Kathrin war ein Lichtblick in der Abteilung. Ihr ging es beinahe stündlich besser, und gleichzeitig entwickelte sich ihr Temperament. Ina, aber auch alle anderen Ärzte und Schwestern der Abteilung, hatten richtigen Spaß an der Kleinen und besuchten sie auch außerhalb der üblichen Behandlungszeiten.

Für Frau Solmer war die Zimmergenossin beinahe ein Medikament, und zwar ein sehr heilsames. Auch Frau Solmer wirkte so fröhlich und aufgekratzt, dass sie von ihrer Tochter gefragt wurde: „Sag mal, Mutti, wenn man dich so sieht und hört, hat man das Gefühl, dir geht es hier im Krankenhaus besser als im Urlaub.“

Frau Solmer strahlte und meinte: „Da hast du völlig recht, Kind. Seit die kleine Kathrin bei mir im Zimmer liegt, scheint für mich die Sonne, solange Kathrin wach ist.“

Ganz besonders herzlichen Kontakt hatte Kathrin mit Ina. Wenn Ina nur auftauchte, dann jubelte die Kleine. Am liebsten wäre sie aus dem Bett gesprungen, aber weil sie noch am Infusionsschlauch hing, ging das nicht. Aber sie drängte, wollte immer öfter aufstehen. Und schließlich war sogar Oberarzt Dr. Kiesewetter davon zu überzeugen, dass es für das Kind besser war, wenigstens außerhalb der Infusionszeiten herumlaufen zu können, sofern es Kathrin nicht zu sehr anstrengte. Aber davon konnte gar keine Rede sein. Wie ein Wirbelwind tauchte sie in der Stationsküche auf, wollte sogar den Schwestern helfen, ging dahin und dorthin, und bald kannte sie jeder in der ganzen Station.

Und eines Nachmittags war sie auf einmal bei Ina im Arztzimmer, als Ina gerade ihre Eintragungen über die verabfolgten Medikamente machen musste und über ihr Buch gebeugt saß.

Es klopfte, Ina rief herein, ohne hinzusehen, und da war Kathrin schon bei ihr drin.

„Hallo, Frau Doktor“, sagte sie, „darf ich zu Ihnen kommen?“

Ina hatte ihr einmal angeboten, sie Tante Ina zu nennen, aber das, so behauptete Kathrin mit dem Stolz wie eine Erwachsene, täten nur kleine Kinder. Sie mit fünfeinhalb Jahren fühlte sich nicht mehr so klein.

„Natürlich darfst du“, sagte Ina, legte ihren Kugelschreiber beiseite, lehnte sich zurück und deutete auf den Stuhl, der neben dem Schreibtisch stand. „Da kannst du dich hinsetzen. Was hast du mir denn Wichtiges zu berichten?“ Sie lächelte, und Kathrin war ein einziges Strahlen. Die Kleine sah sich in dem Raum um, bevor sie sich setzte. Da stand aber nur ein Medikamentenschrank, da war eine Liege für Patienten, auf der aber auch Ina schon einmal lag und schlief, wenn sie nachts Bereitschaft hatte.

„Viel ist hier nicht los in Ihrem Zimmer, Frau Doktor“, stellte Kathrin fest. „Und gar keine schönen Bilder. Bei uns im Waisenhaus sind viel schönere Bilder.“

„Bei euch im Waisenhaus, ist es dort denn schön?“, wollte Ina wissen. „Willst du gern dahin zurück?“

Kathrin wurde schlagartig ernst. Und so klein sie war, kam ihre Antwort überlegt, als sie sagte:

„Es ist nicht so schön. Aber ich habe doch niemanden, ich bin ganz allein.“

„Weißt du noch, was mit deinen Eltern ist?“, fragte Ina. Sie hatte diese Frage immer vermieden, aber jetzt stellte sie sie. Kathrin setzte sich auf den Stuhl und schaute Ina an.

„Sie sind beide tot. Da bin ich noch ganz klein gewesen, ganz klitzeklein. Sie sind mit dem Auto gefahren, und es ist Glatteis gewesen. Da sind sie verunglückt.“

„Und du hast keine Oma und keinen Opa?“

Kathrin schüttelte den Kopf.

„Nein. Wir haben ein Kind bei uns, ein Mädchen wie ich, das hat noch einen Opa. Manchmal kommt er sie besuchen, und er bringt immer Bonbons mit. Aber die Erzieherin hat ihm immer gesagt, er darf keine Bonbons mitbringen, weil Bonbons nicht gut sind für die Zähne. Aber ich mag Bonbons sehr.“

„Ich auch, aber sie sind trotzdem nicht gut für die Zähne“, sagte Ina. „Kommst du denn nächstes Jahr in die Schule?“

„Wir haben selbst eine Schule. Bei uns im Waisenhaus ist eine Schule. Und ich freue mich darauf. Ich kann jetzt schon schreiben und lesen, wissen Sie das? Und ich kann auch rechnen.“

„Rechnen?“, fragte Ina überrascht „Wie viel ist denn zehn mal zehn?“

Wie aus der Pistole geschossen platzte Kathrin heraus: „Hundert!“

„Das weißt du schon?“, staunte Ina. „Das ist ja wirklich allerhand! Nun sieh mal, und du sagst du kannst das lesen?“ Sie hielt ihr ein gedrucktes Merkblatt für den Fall von Feuer im Hause hin und sagte: „Da, die oberste Zeile, kannst du das lesen?“

Kathrin brauchte ihren rechten Zeigefinger zur Hilfestellung, und dann las sie Buchstabe für Buchstabe: „Brandbekämpfung, wichtige Hinweise.“

Ina fiel wirklich aus allen Wolken.

„Du bist fünfeinhalb Jahre, gehst nicht zur Schule und kannst so ein schweres Wort lesen wie Brandbekämpfung? Du bist ja wirklich ein Phänomen!“

„Was ist das, ein Phä... Phän...?“

„Ein Phänomen? Sagen wir mal, so etwas wie ein Wunderding. Aber du hast recht, ich sollte keine Fremdwörter gebrauchen. Du bist ein kleiner Pfiffikus. Du weißt doch, was ein Pfiffikus ist?“

„Das sagt Schwester Dora immer zu mir.“

„Und wer ist Schwester Dora?“, wollte Ina wissen.

„Die Schwester, die wir haben, bei uns im Waisenhaus. Sie ist nett. Sie ist eine Nonne, weißt du.“ Sie hatte versehentlich Ina geduzt, und es fiel ihr wohl selbst auf. Sie bekam einen roten Kopf, wurde ganz verlegen und murmelte: „Entschuldigen Sie, Frau Doktor.“

„Warum soll ich entschuldigen, weil du Du zu mir gesagt hast? Das kannst du immer tun. Und wenn du nicht Tante Ina zu mir sagen willst, dann kannst du auch Ina sagen, du brauchst nicht immer Frau Doktor sagen.“

„Hören Sie ... hörst du das nicht gerne?“, wollte Kathrin wissen.

Ina war immer wieder aufs Neue überrascht. Kathrin war wirklich mehr als ein Pfiffikus. Ein Kind in diesem Alter mit einer solchen Ausdrucksweise und .derartigen Fähigkeiten, das durfte doch einfach nicht verkümmern in einem Waisenhaus.

„Sag mal“, fragte Ina, „bei wem hast du denn Schreiben und Lesen gelernt, von Schwester Dora?“

Kathrin schüttelte energisch den Kopf.

„Aber nein doch! Nicht von Schwester Dora! Die betet nur immer mit uns. Nein, das habe ich von Maria. Maria geht schon lange in die Schule, sie ist schon zwölf.“

„Und sie ist deine Freundin?“

Kathrin nickte.

„Ja, sie ist immer lieb zu mir. Maria hat ein steifes Bein, und sie humpelt. Und die anderen ärgern sie. Aber ich ärgere sie nie. Und sie ist immer lieb zu mir. Sie hat mir gezeigt, wie sie schreibt und liest.“

„Du kannst also wirklich schreiben?“, fragte Ina zweifelnd.

„Gib mir einen Bleistift, und ich schreibe!“

Ina schob ihr ein Stück Papier hin und gab ihr den Kugelschreiber.

„Nun schreib mal: Ich bin bald wieder gesund.“

Es dauerte eine Weile, bis Kathrin das geschrieben hatte. Und dann waren auch vier Fehler in dem kurzen Text, aber das störte Ina nicht. Sie konnte ihre Bewunderung nicht mehr verhehlen.

„Du bist wirklich ein kleines Genie!“, sagte sie lobend. „Wirklich, ich kenne kein Mädchen, das so alt ist wie du und schon so viel kann. Was wünschst du dir denn am meisten? Ich möchte dir etwas schenken.“

Kathrin platzte mit der Antwort heraus, als hätte sie die die ganze Zeit schon auf den Lippen gehabt: „Ich wünsch mir eine Mami, eine richtige Mami. Und die ich ganz alleine für mich habe.“ Kathrins Gesicht war hochrot, die Augen sprangen ihr fast aus den Höhlen. Sie schaute Ina so vehement an, dass die Sekunden brauchte, bis sie sich eine Antwort zurechtgelegt hatte. Mit traurigem Lächeln erwiderte sie: „O Kathrin, so etwas kann ich dir nicht schenken.“

Kathrin wurde mit einem Mal selbst traurig, senkte den Kopf, blickte auf ihre im Schoß liegenden Hände und sagte dann leise: „Ich weiß, Frau Doktor.“ Sie erschrak, schaute Ina kurz an und murmelte eine Entschuldigung. Dann wiederholte sie: „Ich weiß, Ina. Ich will auch nicht, dass du mir das schenkst. Aber ich wünsche es mir so sehr. Jeden Abend, wenn ich vor dem Schlafen bete, dann sage ich immer: Lieber Gott im Himmel, lass mich jetzt einschlafen, und wenn ich morgen früh aufwache, dann habe ich eine Mami.“

Ina schossen beinahe die Tränen in die Augen. Spontan stand sie auf, ging zu Kathrin, nahm ihren Kopf in die Hände und barg ihn an ihrer Brust, streichelte Kathrins seidiges Haar und sagte dann mit vibrierender Stimme: „Wenn du willst, Kathrin, und gar nicht mehr bei uns im Krankenhaus bist, sondern gesund wieder zurück in dein Waisenhaus gehst, dann kannst du mich immer besuchen. Und ich will dich auch besuchen.“

„Ich freue mich, wenn du mich besuchst. Und ich darf dich auch besuchen. Wenn man bei uns sagt, wo man hin möchte, und wenn die einverstanden sind, dann bringen sie uns sogar mit dem VW-Bus dorthin. Und abends werden wir wieder abgeholt.“

„Und hast du denn niemals jemand gehabt, wo sie dich hingefahren haben?“

Ina hatte Kathrin losgelassen und war einen Schritt zurückgetreten, setzte sich wieder auf ihren Stuhl und schaute unverwandt Kathrins Gesicht an.

„Einmal“, sagte Kathrin traurig. „Einmal, das ist schon lange her, da bin ich bei einer Familie gewesen. Aber da war es nicht schön. Man durfte gar nichts machen. Man musste immer stillsitzen und viel Kuchen essen und viel Kakao trinken. Ich mag keinen Kuchen, wenn er so trocken ist, und ich mag auch keinen Kakao.“

„Was trinkst du denn viel lieber?“, wollte Ina wissen.

„Limonade und Milch und am liebsten Coca Cola, aber das ist verboten. Im Waisenhaus dürfen wir das nicht. Die Schwestern sagen immer, man kann nicht schlafen. Und die Erzieherin hat gesagt, wer es heimlich trinkt, der wird bestraft.“

„Aber jetzt bist du erst einmal bei uns, Kathrin. Und wenn es dir hier gefällt, dann kannst du auch noch ein paar Tage hierbleiben. Vielleicht nehme ich dich mal mit zum Wochenende. Ich kenne einen Mann sehr gut. Er ist mein Freund, und der ist Pilot. Er fliegt ein großes Flugzeug. Aber manchmal fliegt er auch ein kleines; da nimmt er mich mit. Ich werde ihn fragen, ob er dich auch mitnimmt. Was meinst du? Bist du schon einmal in einem Flugzeug geflogen?“

Kathrin schüttelte den Kopf. Aus großen Augen schaute sie Ina an.

„Ein richtiges Flugzeug?“

„Ein richtiges Flugzeug. Ich werde mit Frank sprechen, so heißt mein Freund. Du kannst auch Frank zu ihm sagen. Er hat Kinder sehr gern.“

„Und du hast Kinder auch gern“, meinte Kathrin, eher feststellend als fragend.

Ina konnte gar nicht anders. Sie musste Kathrin noch einmal in die Arme nehmen und an sich pressen. Dann hob sie sie auf den Arm und sagte: „Und jetzt bringe ich dich zurück in dein Zimmer.“

„Aber ich brauche doch nicht mehr an den Tropf“, meinte Kathrin leicht protestierend.

„Nein, an den Tropf nicht. An den brauchst du gar nicht mehr, nur an die Dialyse. Das müssen wir noch ein paarmal machen. Wir müssen deine Nieren ganz sauber haben. Weißt du, von diesem Gift von den Pilzen, da sind immer noch Reste in dir drin. Und die Nieren haben sich auch entzündet. Das mit der Leber ist schon viel besser, deswegen brauchst du nicht mehr an den Tropf. Aber ich weiß, dass du richtig gesund wirst.“

„Ich bin doch schon richtig gesund.“

„Noch nicht so ganz. Ein paar Tage musst du noch bei uns bleiben. Und dann kannst du wieder zurück. Willst du denn sehr gerne zurück?“

„Nicht so gerne“, bekannte Kathrin. „Aber ich weiß ja nicht, wo ich sonst hin soll.“

Ina war eher erschüttert als glücklich. Die Worte der Kleinen hatten sie so aufgewühlt. Fünfeinhalb Jahre, dachte sie, und sie kann sich schon so ausdrücken, macht sich Gedanken über alle möglichen Dinge, und auf der anderen Seite ist sie doch so tapfer.

Als Ina mit Kathrin wieder ins Zimmer kam, sagte Frau Solmer sofort: „Na, Gott sei Dank! Mir hat richtig was gefehlt. Ich hab’ schon gedacht, ich müsste sie suchen.“

„Wen?“, fragte Ina. „Mich oder Kathrin?“

„Kathrin natürlich“, erklärte Frau Solmer.

Nach diesem erfreulichen Intermezzo ging Ina dann später noch einmal zu Nicole. Und hier gab es weniger Erfreuliches. Nicole ging es schlecht. Sie hatte Kreislaufprobleme. Ihr noch vor Tagen eingefallenes Gesicht wirkte aufgedunsen und stark gerötet. Als Ina näher hinschaute, entdeckte sie Flecken auf der Haut. Nicole hatte auch Fieber, sehr hohes Fieber. Sie schien Ina gar nicht zu erkennen. Ina blickte sich das Krankenblatt an und entdeckte die zur Sicherheit gegebene Penicillindosis. Nachdem sie das gelesen hatte, verließ sie sofort den Raum und suchte nach dem Oberarzt.

Als sie Dr. Sperling gefunden hatte, wandte sie sich an ihn mit der Frage: „Haben Sie einmal das Penicillin überprüft? Das sieht mir nach einem Penicillinschock aus. Typische allergische Erscheinungen auf der Haut.

„Wieso denn?“, meinte Dr. Sperling überrascht. „Ich habe das Penicillin doch abgesetzt.“

„Es ist aber noch vor einer Stunde gegeben worden. Ich habe doch die Eintragungen gesehen“, erklärte Ina.

„Himmeldonnerwetter, das darf doch nicht wahr sein! Das gibt es doch gar nicht!“ Dr. Sperling rannte sofort los und ließ Ina einfach stehen. Etwas später kam er zurück. Ina war noch da und hatte auf ihn gewartet.

„Was ist?“, fragte sie und blickte ihn gespannt an.

„Man darf es gar nicht erwähnen“, erwiderte Sperling. „Man hat ihr das weiter gegeben, gegen meine Anordnung. Da hat wieder irgendeiner gepennt. Ich habe ihr jetzt Kalzium gespritzt und das Präparat gewechselt. Die Allergie wird zurückgehen, das kennen wir ja. Aber sie war nun wirklich nicht nötig. Frau Kollegin, ich bin Ihnen sehr dankbar. Ich hätte das erst morgen bei der Visite gemerkt, weil ich vorher nicht mehr zu ihr gekommen wäre.“

„Aber vielleicht hätte es jemand anderer noch bemerkt. Ich verstehe bloß die Schwestern nicht.“

„Ja, mit den Schwestern ist es hier so eine Sache. Da haben wir Probleme, die Sie auf der Inneren Abteilung gar nicht kennen.“

Ina dachte bei sich: Ich muss wohl öfter mal herkommen. Das mit Nicole gefällt mir gar nicht. Und ich hatte geglaubt, sie fühlt sich besser und wir könnten einmal über alles reden. Stattdessen geht es ihr so schlecht.

Sie rief dann von zu Hause aus noch einmal in der gynäkologischen Station an, um sich nach Nicoles Befinden zu erkundigen. Da schien es Nicole aber doch wieder besser zu gehen. Und am nächsten Morgen war Ina etwas früher in den Dienst gekommen, damit sie nach Nicole schauen konnte. Nicole war fieberfrei, das Aufgedunsene in ihrem Gesicht war verschwunden. Nur ein Teil der Rötungen hatte sich noch nicht gegeben. Aber sie blickte Ina hellwach entgegen und lächelte sogar, als Ina sie begrüßte.

„Du bist lieb“, sagte Nicole, als sich Ina auf den Stuhl neben dem Bett setzte. „Es ist schön, dass du gekommen bist.“ Ihre Stimme klang nicht mehr so schwach, auch nicht so spröde. Irgendwie hatte sie die Krise überwunden. Fast routinemäßig griff Ina nach dem Handgelenk, fühlte den Puls und sah Nicole nachdenklich an.

Nicoles Gesicht wirkte noch immer ein wenig verhärmt. Kein Wunder bei all dem, was hinter ihr lag. Aber an ihrem Schicksal war Nicole selbst mitschuldig gewesen, das wusste Ina sehr gut. Vor dem Tod ihrer Eltern, die kurz nacheinander starben, war Nicole unbeschwert gewesen, hatte ihre Rolle als angehende Fachärztin mit einer Leichtigkeit angesehen, die wie Spielerei wirken musste. Erst der Tod der Mutter war dann wie eine Ermahnung an sie gewesen, sich mehr zu bemühen. Und sie hatte das auch getan. Ihre Liebe zu dem chirurgischen Stationsarzt Dr. Hansjörg Clausberg bestimmte damals ihr Leben. Aber sie war es gewohnt, immer viel Geld zu haben, und sie war es auch gewohnt, die Leute nach ihrer Pfeife tanzen zu lassen, ob sie Männer oder Frauen waren. In eine Heirat hatte sie Hansjörg förmlich gedrängt. Seinen Weggang nach Erlangen in die Universitätsklinik, wo er Oberarzt werden sollte, hatte sie mit allen Mitteln zu verhindern gesucht und es auch geschafft, dass er nicht ging, nachdem ihr Vater gestorben war. Mit dem vielen geerbten Geld wollte sie sich und ihrem Mann eine Traumwelt aufbauen. Ina entsann sich sehr genau, wie sie das aus der Distanz seinerzeit beobachtet hatte. Es konnte nicht gutgehen, zumal Ina auch Hansjörgs Naturell kannte. Er war kein Mann, den man wie eine Marionette behandeln durfte. Er war ein Mensch, der gewohnt war, selbständig zu handeln, der den Wert des Geldes sehr genau kannte und dem Äußerlichkeiten überhaupt nichts bedeuteten. Bei Nicole war das alles immer ganz anders gewesen.

Sie hatte ihm eine traumhafte Praxis als Chirurg und Orthopäde eingerichtet, und er war als Durchgangsarzt ein sehr stark frequentierter Mediziner, und seine Praxis war immer voll gewesen. Und Nicole hatte sich wie eine Art Managerin gefühlt.

Eines Tages war Hansjörg dann nach einem Streit einfach weggegangen, in Jeans und Tennisschuhen, nur eine Jacke und seine Papiere bei sich. Er war verschwunden, um Zigaretten zu holen und nie mehr wiedergekommen.

Ina konnte sich noch genau erinnern, wie es danach weiterging. Hansjörg hatte eine alte Freundin besucht, mit der er lange vor seiner Ehe mit Nicole ein halbes Jahr zusammengelebt hatte. Und eines Tages war er mit dieser Freundin verschwunden. Erst viel später erhielt Nicole einen Brief aus Kanada. Es war ein böser Brief, voller Häme und Spott. Aber er war zugleich wie ein Skalpell, das alle Bindungen für Nicole durchtrennte. Sie tröstete sich mit einem anderen, irgendeinem Bekannten. Mehr wusste Ina allerdings nicht. Höchstens, dass die Praxis, die Dr. Hansjörg Clausberg betrieben hatte, die nach den allerneuesten und modernsten Erkenntnissen eingerichtet war, an ein Ärzteteam überging, das diese Praxis zu dritt betrieb. Von Nicole hatte Ina dann nichts mehr gehört.

Und nun lag sie vor ihr, und Ina konnte eigentlich nur Mitleid mit ihr empfinden.

„Was siehst du mich so an?“, fragte Nicole, und ihre Stimme hatte wieder an Festigkeit gewonnen. „Habe ich mich so sehr verändert?“

„Äußerlich nicht viel, diese Veränderung wird wieder verschwinden. Du wirst so strahlend aussehen wie früher“, sagte Ina und lächelte. „Aber die Verwandlung hat wohl innerlich stattgefunden.“

Ohne näher anzudeuten, von wem sie sprach, erwiderte Nicole: „Er hat sich nie mehr gemeldet. Und ich habe ihn nie vergessen.“

Ina wusste dennoch, wen sie meinte. Und Nicole fuhr fort: „Es hat Freundschaften gegeben, alte Bekannte. Es war nichts. Weißt du, wenn man einer Frau ansehen kann, dass sie schwanger ist, dann wollen Männer nichts mehr von einem wissen. Da muss bei einem Mann mehr sein als körperliche Leidenschaft. Da müsste auch Liebe dahinterstehen. Aber Liebe hat es nie gegeben, und ich mochte sie alle nicht mehr sehen. Ich habe sehr zurückgezogen gelebt, bis zu dieser Geschichte jetzt.“

„Du warst ganz allein? Was hast du eigentlich getrieben?“, fragte Ina.

„Ich hatte beschlossen“, erklärte Nicole und blickte an Ina vorbei an irgendeinen imaginären Punkt an der Wand, „die Schwangerschaft hinter mich zu bringen, und wenn das Kind da ist, wollte ich nur zwei Dinge tun: eine Praxis für Allgemeinmedizin übernehmen, und da hatte ich schon etwas in Aussicht, und zugleich mich meinem Kind zu widmen. Vielleicht wäre auch irgendwann wieder ein Mann gekommen. Aber weißt du, da ist bei mir etwas kaputt. Der Absturz war zu tief. Ich habe mir selbst etwas vorgemacht und geglaubt, ich könnte wieder so sein wie vorher.“ Sie wandte den Kopf zur Seite, und ihre Stimme klang plötzlich tränenerstickt, als sie weitersprach: „Ich habe ihn so sehr geliebt. Ich liebe ihn noch immer. Wenn er heute käme, ich würde ihm alles verzeihen.“

„Er ist nicht nur gegangen, weil ihr einen Streit hattet“, sagte Ina. Sie sprach sehr langsam und betonte jedes Wort, als sei es besonders wichtig. „Er ist gegangen, weil du ihn zur Verzweiflung getrieben hast. Das mit eurem Streit ist ein Tropfen gewesen, bei dem das Fass dann überlief. Er hat es einfach nicht mehr ertragen.“

„Woher weißt du das?“ Nicole sah Ina an, und in ihren Augen schimmerten Tränen.

„Er hat mir einen einzigen Brief geschrieben, einen sehr ausführlichen, einen sehr langen Brief. Das war etwa sechs Wochen, nachdem er verschwunden ist. Er hat mir zu erklären versucht, als sei er mir das schuldig, wieso er wegging. Er will auch nie mehr nach Deutschland zurückkommen, obgleich die Verhältnisse in Kanada nicht so sind, wie er sie sich erträumt hat.“

„Aber er hat diese Frau.“

„Diese Frau, wie du Verena Schwarz nennst, ist ihm vielleicht so etwas wie ein Trost gewesen. Sie war anders als du. Sie hat ihn nicht vereinnahmt, und sie hat auch nie die Mittel gehabt, um mit ihrem Geld eine gewisse Macht oder einen Druck auf ihn auszuüben. So etwas Ähnliches hat er mir auch geschrieben. Sie ist nicht seine große Liebe, seine große Liebe warst du. Vielleicht bist du es heute noch. Aber er hat mit allem abgeschlossen, jedenfalls behauptet er es. Und er beteuert auch, selbst unter widrigen Verhältnissen glücklicher zu sein als in einem goldenen Käfig, den du ihm geboten hast, wobei du offensichtlich sehr oft drauf hingewiesen haben musst, wie golden der Käfig ist und wem er den zu verdanken hat. Ich kann mir nicht vorstellen, dass ich das ertragen könnte. Jeder Mensch hat seinen Stolz; er hat ihn auch.“

„Es klingt nicht sehr nett, was du mir sagst.“ Nicole wischte sich die Tränen ab. „Ich bin am Boden zerstört, und jetzt trampeln alle auf mir herum.“

„Nein, ich trample nicht auf dir herum“, widersprach Ina. „Ich möchte dir helfen. Ich möchte dir wirklich helfen, Nicole. Jetzt hast du vielleicht erkannt, dass Geld nicht alles ist. Man kann Geld auch nicht essen, man kann von Geld nicht geliebt werden. Man kann sich ein paar Dinge kaufen, die schön sind, das ist richtig. Aber die eigentlichen Dinge im Leben, die sind völlig umsonst, Nicole. Die kosten gar nichts. Liebe, Glück, Sonnenschein und so vieles andere mehr. Du hast nur keinen Respekt davor gehabt. Du hast gedacht, wenn du die Macht hast, solltest du sie auch ausüben. Das wird er nicht verstehen, das würde ich auch nicht verstehen.“

Nicole hatte noch nie Unerfreuliches lange aushalten können. Das war Ina längst klar. Und so versuchte sie auch jetzt das Thema zu wechseln, indem sie nach Frank fragte. Doch Ina blieb beharrlich.

„Wir reden jetzt nicht von Frank, Nicole. Und wir machen es uns nicht leicht. Glaube mir, es fällt mir schwer, mit dir über all das zu sprechen, weil ich weiß, dass es dich schmerzt. Aber einmal solltest du doch etwas ausdiskutieren und durchstehen können.“

„Wie meinst du das?“, fragte Nicole, die sich inzwischen wieder gefangen hatte. Der Trotz kam in ihr auf. Ein kindlicher Trotz.

„Ich meine, dass du ihm schreiben solltest. Aber das nur, wenn du begriffen hast, dass es so nicht geht. Wenn du ihn noch immer liebst, und ich glaube, dass er dich auch noch immer liebt, dann solltest du deine Ansichten wandeln, wenn du das überhaupt kannst. Und du solltest eine Aufgabe haben, wenn du hier herauskommst, dann ist für dich ein Neuanfang möglich. Der Anlass dazu ist zwar traurig, sehr traurig. Aber du darfst den Kopf nicht in den Sand stecken, es muss weitergehen. Du wolltest eine Praxis eröffnen. Da frage ich dich, ob du auch wirklich die Erfahrung dazu hast. In dem Moment, wo du eine Praxis eröffnest, steht zwar ein schönes Schild an der Tür mit deinem Namen und all dem, was ein Arzt bieten kann. Aber gleichzeitig, und das steht nicht auf dem Schild, hast du eine wahnsinnige Verantwortung. Glaubst du wirklich, dass deine Kenntnisse ausreichen, um kranken Menschen sinnvoll zu helfen?“

Nicole wollte erst eine barsche Antwort geben, dann senkte sie aber den Kopf und schien über die Worte Inas nachzudenken. Vielleicht kam sie dabei zum Schluss, dass Ina irgendwie recht hatte. Jedenfalls hob sie wieder den Köpf und sah Ina an, lächelte verlegen und meinte: „Naja, so toll ist es mit meinen Kenntnissen nicht.“

Ina schwieg. Sie wollte nicht noch Salz in die Wunde streuen. Aber sie wusste, dass Nicole alles andere als eine gute Ärztin gewesen war, jedenfalls in der Zeit, da sie im Hafenkrankenhaus als Assistentin gearbeitet hatte. Es war der Wunsch ihres Vaters gewesen, Ärztin zu werden. Vielleicht ein Spleen von ihm, und sie hätte sich die Rolle wie eine Schauspielerin zu eigen gemacht. Aber das betraf im Grunde nur die Äußerlichkeiten, der Doktor vor dem Namen, der weiße Kittel, das Gehabe, was Ina auf den Tod nicht ausstehen konnte und auch bei Kollegen sehr hasste. Diese Halbgötter in Weiß! Es kam auf etwas ganz anderes an: auf Wissen und Können und nicht auf das Drumherum. Und da war bei Nicole nicht viel, was das Wissen anging und noch weniger beim Können.

„Und was schlägst du vor?“, wollte Nicole wissen.

Das ist typisch für sie, dachte Ina. Wenn etwas schiefgeht, dann sagt sie, es tut mir leid, und wenn sie nicht weiter weiß, dann möchte sie Vorschläge von anderen.

„Es wäre interessanter, Nicole, was du wirklich möchtest, und von dem du selbst weißt, dass du es auch kannst. Zum Beispiel, wenn du jetzt sagen würdest: ,Ich gehe wieder in die Klinik, arbeite als Assistentin und setze meine Facharztausbildung zur Kinderärztin fort. Und eines Tages werde ich Kinderärztin sein und lasse mich darin als Kinderärztin nieder. Schließlich habe ich das gewollt.‘ Siehst du, Nicole, das wäre so ein Vorschlag. Aber du müsstest ihn selbst machen, dir ihn nicht von anderen anhören, wie eine neue Rolle, in die du dich hineinsetzt, in die du dich hineindenkst, die du aber immer nur spielst und niemals als Berufung betrachtest.“

„Wenn du es nicht wärst, die das sagt“, erwiderte Nicole leicht verstört, „würde ich glauben, dass es unheimlich gemein und gehässig ist.“

„Es ist weder gemein, noch gehässig, du hast das schon richtig erkannt. Das sagt dir jemand, der es gut mit dir meint“, erwiderte Ina ungerührt. Sie wusste, dass man mit Nicole Fraktur reden musste. Mit schönen Worten allein kam man bei ihr nicht weiter. Natürlich hörte sich Nicole viel lieber nette Worte an. Im Grunde war sie ein sehr freundlicher, fröhlicher Mensch und konnte Kritik nicht sonderlich gut vertragen. Auch traurige Dinge und manchmal auch sehr harte, wie sie an Kliniken unvermeidlich waren, schob sie am liebsten von sich. Einmal hatte sie bei einer sehr langwierigen und schweren Operation zusehen müssen, die auch noch an einem unfallverletzten Kind stattfand. Das hatte sie so geschockt, darüber war sie wochenlang nicht hinweggekommen. Und dies hier, dachte Ina, ist auch eine Operation. Eine Operation mit unsichtbaren Skalpellen, aber sie ist unvermeidlich. Irgendwann muss Nicole begreifen, dass das Leben nicht nur eine Show, eine Vorstellung, ein Spiel ist.

„Hör mal zu, Nicole, du hast jetzt viel Zeit zum Nachdenken. Du brauchst deswegen den Kopf nicht hängenzulassen. Aber du musst einen Weg für die Zukunft finden, einen, der dich ausfüllt und eine Aufgabe, die du ausfüllst. Halbherzigkeiten kann man nie lange ausführen. Man muss hinter einer Sache stehen und nicht so wie du herumtändeln und spielen. Du musst dir erst einmal überlegen, was du wirklich machen willst und was dir Spaß bereiten würde, und ob du überhaupt in der Lage bist, das zu beherrschen. Und wenn du alle diese Fragen mit Ja beantworten kannst, dann solltest du dir einen Weg suchen, das auch ausüben zu können. Denk über alles nach! Und wenn du das tust und dir schlüssig geworden bist, könnten wir weiterreden. Ich verspreche dir, dass ich dir helfe. Aber eines solltest du dir für alle Zeiten abgewöhnen: Denke nicht, dass man mit Geld alles regeln kann! Und glaube nicht, dass du wertvoller wirst, nur weil du Geld hast! Du bist so wenig und so viel wie alle anderen Menschen auch. Du weißt doch, was letztlich ein Mensch ist, ob er nun eine Million auf dem Konto hat oder einen Berg Schulden. Wenn sie manchmal vor uns liegen in ihrer Not, krank und auf fremde Hilfe angewiesen, dann sind sie doch im Grunde alle gleich. Und im Tode sind sie das sowieso. Denk einmal über diese Dinge nach! Und dann überlege dir, ob du nicht deinen Stolz überwinden und den Kontakt mit Hansjörg wieder aufnehmen solltest! Er ist ein Mann, der mit dir durch dick und dünn geht, vorausgesetzt du behandelst ihn nicht wie einen Leibeigenen.“

Nicole lächelte verzerrt.

„Du hast mich jetzt ganz schön geohrfeigt.“

„Wenn es etwas gebracht hat, tut es mir nicht einmal leid“, sagte Ina und erhob sich, lächelte Nicole dann aufmunternd zu und meinte: „Wenn du wirklich willst, dann schaffst du es auch! Genau wie du es schaffen wirst, wieder richtig gesund zu werden. Aber dazu bist du meiner Meinung nach schon auf dem besten Weg. Und denke daran, wir sind nicht nur auf der Welt, um uns selbst Freude zu machen. Es macht viel mehr Spaß, auch anderen Freude zu bereiten. Geben ist seliger denn nehmen.“ Ina nickte ihr noch einmal zu, dann wandte sie sich ab. An der Tür drehte sie sich noch einmal zu Nicole um, die machte ein sehr ernstes und nachdenkliches Gesicht.

Als Ina draußen war, bereute sie fast, so hart mit Nicole gewesen zu sein. Vielleicht, dachte sie, ist es noch etwas zu früh dafür. Aber dann schüttelte sie den Kopf. Nein, überlegte sie weiter, es ist richtig gewesen. Wenn es ihr noch besser geht, ist sie für diese Dinge nicht mehr ansprechbar. Dann herrscht wieder Jubel, Trubel, Heiterkeit. Ich glaube doch, dass es der richtige Moment war. Aber wer kann das wissen?

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