Читать книгу Die besten 10 Liebesromane November 2021: Romanpaket - Glenn Stirling - Страница 72

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Nicole war von drei ihrer Bekannten gesucht worden, seit sie im Krankenhaus lag. Am Anfang kam Jessica Multtaupt öfter, dann ihre Schwester Janine ein einziges Mal. Und gerade mit ihr hatte sie doch sehr viel Kontakt gehabt. Anna von Frederici war öfter dagewesen. Und auch heute kam sie, ging mit Nicole, die schon zweimal am Tag aufstehen durfte, sogar sollte, auf den Flur hinaus in eine Nische, wo ein Tisch und zwei Stühle standen, die zufällig frei waren. Dort setzten sie sich hin, um sich zu unterhalten.

Anna von Frederici war eine Frau von anmutiger Schönheit. Dunkelhaarig, schlank und stets ein wenig blass. Sie wirkte gegen Nicole zierlich, ja zerbrechlich. Aber Nicole wusste von ihr, dass sie durchaus fest im Leben stand und zäher war, als man von ihr vermute. Sie war älter als Nicole, etwa dreißig, wie Nicole wusste, sehr unglücklich verheiratet.

Genau daran musste Nicole besonders lenken, und zwar deshalb, weil Annas Mann sehr reich war. Ein äußerst vermögender Mann, mächtig, mit einer protzigen Villa an der Elbchaussee. Bei den Fredericis wimmelte es von Personal, und beinahe jede Woche gaben sie eine Party, manchmal sogar Konzerte. Und trotzdem fühlte sich Anna von Frederici, wie Nicole sehr gut wusste, äußerst einsam. Sie hatte längst herausgefunden, dass ihr Mann sie bei jeder Gelegenheit mit anderen Frauen betrog, und er hatte auch, wenn Nicole hinkam, ihr ganz unverhohlen den Hof gemacht. Aber das war am Anfang ihrer Schwangerschaft gewesen. Und als er dann sah, dass sie sich in anderen Umständen befand, ließ er spontan von ihr ab.

Zwischen Anna und Nicole hatte sich wirklich so etwas wie eine Freundschaft gebildet. Und was das Wort Freundschaft anging, da legte Nicole seit etwa einem halben Jahr strengere Maßstäbe an. Dies war als Folge eines Gesprächs mit Ina zu sehen, die die Einstellung vertrat, dass Freundschaft etwas ganz Seltenes ist und die meisten Menschen eine gute Bekanntschaft mit Freundschaft verwechseln. Aber zu Anna empfand Nicole mittlerweile diese Bindung, und Anna schien es ähnlich zu gehen. Sie verstanden sich sehr gut, und sie hatten auch keine Geheimnisse voreinander. Anna wusste von Nicole, wie sehr diese unter der Trennung von Hansjörg litt. Und Anna selbst litt unter der Macht, unter dem Geld und der Einstellung ihres Mannes.

„Wie geht es denn?“, fragte Nicole.

Anna lächelte. Sie hatte einen schönen Mund, fein geschwungen. Jetzt verbreiterte er sich, und in den Augen Annas blitzte es auf. Dann sagte Anna: „Das müsste ich dich fragen.“

„Mir geht es sehr viel besser. Seit ich ihm den Brief geschrieben habe, geht es mir sehr viel besser. Ich weiß nicht, ob er mir antworten wird. Ich bin Ina richtig dankbar, dass sie mich dazu bewogen hat, den Brief zu schreiben.“

„Schade, dass ich Hansjörg nicht gekannt habe“, meinte Anna. „Vielleicht hätte ich dir diesen Rat auch geben können. Aber dazu hätte ich Hansjörg kennen müssen.“

„Und bei euch zu Hause?“, erkundigte sich Nicole leise. Anna sieht so traurig aus, dachte sie. Sie kommt mir so verzweifelt vor. Am Ende geht es ihr so wie mir. Wenn sie doch einen anderen hätte, einen Mann, der ihr das geben kann, was ihr bei Franz versagt bleibt.

„Nun sag schon, was ist mit dir?“, drängte Nicole „Mach es dir doch leicht, erzähle mir alles! Vielleicht finden wir gemeinsam einen Weg. Es hat mir so geholfen, dass du immer gekommen bist.“

Annas hübsches Gesicht bekam einen bitteren Zug. Sie wandte sich ab, blickte zum Fenster hinaus und sagte, ohne Nicole anzusehen: „Was gibt es viel zu reden? Er nimmt überhaupt keine Rücksicht mehr, gibt sich nicht einmal Mühe, vor mir das irgendwie zu verbergen. Gestern Abend hat er seine Freundin sogar mitgebracht. Ich muss zugeben, dass sie sehr hübsch war. Er stellte sie als eine enge Mitarbeiterin vor, als wäre ich so blöd und wüsste nicht, mit wem er arbeitet und wer sich von seinen Angestellten im engeren Kreis um ihn befindet. Außerdem würde er nie ein Techtelmechtel mit einer Angestellten anfangen. Sie war keine Angestellte, aber durchaus keine dumme Frau. Ihr ist das alles sehr peinlich gewesen.“

Nicole beobachtete Anna, während sie redete. In dem weißen Pulli, den Anna trug, kamen die weiblichen Rundungen ihres Oberkörpers gut zur Geltung. Der Faltenrock, hellbeige, umschmeichelte die schlanken Beine Annas und gab Anna diese feminine Note. Sie war überhaupt so ein Typ, der äußerst weiblich wirkte. Wieso, fragte sich Nicole insgeheim, ist sie nicht umschwärmt von Verehrern? Wenn ich ein Mann wäre, ich würde auf Anna fliegen.

Anna erzählte weiter von diesem unerfreulichen Zusammentreffen gestern Abend, von den Lügen ihres Mannes und davon, dass sie alles so satt hatte. Plötzlich schaute sie Nicole an.

„Ich werde gehen. Lange halte ich es nicht mehr aus. Wenn wir Kinder hätten, wäre es sehr schwer.“

„Es ist auch so sehr schwer. Weißt du, wie die Einsamkeit schmeckt? Sie ist unerträglich“, erklärte Nicole. „Es ist furchtbar. Man zerstört mit wenigen Worten sehr viel. Und dann lässt sich nichts mehr reparieren. Ich habe mein Verhältnis mit Hansjörg total kaputtgemacht. Ich bin jetzt sicher, dass es auf mein Konto geht. Monatelang habe ich mir eingeredet, ich müsste es ihm anlasten. Aber Ina hat mir ja dazu geholfen, mit mir selbst ehrlich zu sein.“

Anna sagte nichts, sie schaute Nicole nur prüfend an. Und die sprach weiter: „Diese Einsamkeit, die bringt einen fast um. Weißt du, wie es ist, wenn man dann allein abends im Bett liegt, wenn man eine zärtliche Hand spüren möchte und da nichts ist, was einen streichelt, was einen liebkost. Und wenn du dich danach sehnst, nach einem Mann, nach der Liebe. Du könntest wahnsinnig werden, so allein.“

Anna räusperte sich.

„Ich nehme an, damit sprichst du dein eigenes Verhältnis an. Aber bei mir ist doch schon lange nichts mehr. Ich habe einen Mann, ich bin bei meinem Mann, aber dieser Mann kommt vielleicht einmal im Monat zu mir. Und dann möchte ich ihn am liebsten gar nicht haben. Meistens hat er noch getrunken, und ich kann mir vorstellen, dass er mit seinen Gedanken gar nicht bei mir ist, wenn er zu mir kommt, dass er sich eine andere vorstellt, mich also selbst dabei betrügt, wenn er mich zu lieben meint.“

„O Gott“, stöhnte Nicole. „Und wie soll es weitergehen? Was würdest du denn tun? Ich weiß nichts von dir. Ich glaubte, dich sehr gut zu kennen und weiß doch nichts von dir. Welchen Beruf hast du überhaupt gelernt?“

„Eine lange Geschichte. Mein Vater war bei der Post. Und für ihn hat es festgestanden, dass ich auch zur Post komme. Ich bin in die Schule gegangen, Realschule, weißt du, habe mittlere Reife gemacht und mich bei der Post beworben. Dann habe ich da gelernt, und eines Tages saß ich am Schalter. Es hat so ausgesehen, als würde ich den Rest meines Lebens da verbringen. Und um den stumpfen Dienstbetrieb etwas vergessen zu können, bin ich in einer Tanzgruppe gewesen. Wir wohnten auf dem Lande im Niedersächsischen. Eine kleine Stadt, aber diese Tanzgruppe war gut. Es hat mir wahnsinnig viel Spaß gemacht. Wir tanzten alles, Volkstänze, aber auch die klassischen Gesellschaftstänze. Und wir zogen auch in andere Städte, machten Wettbewerbe mit. Und eines Tages kamen wir nach Hannover. Da war eine Ausscheidung für einen Landeswettbewerb. Und dort hat mich Goldini entdeckt, ein Modemacher aus Italien. Er suchte für eine Vorführung dringend ein Modell. Ihm waren zwei seiner Mannequins krank geworden. Er fragte mich, ob ich in einem Schnellkurs das lernen wollte. Er würde mich mitnehmen auf die sogenannte Durchreise nach Berlin, diese Modevorführung, und ich sagte Ja, hatte sowieso Urlaub und hatte mir dann von erfahreneren Mannequins zeigen lassen, was ich zu tun hatte.“ Sie lachte. „Mit Büchern auf dem Kopf gehen und so. Aber das begriff ich schnell, das war mir gar nicht so fremd. Wir hatten für unsere Tänze ähnliche Sachen geübt, es klappte also. Sie nahmen mich mit nach Berlin, schickten mich auf den Laufsteg, und ich hatte nicht einmal Lampenfieber. Es hat mir Spaß gemacht, die verrücktesten Kleider vorzuführen. Ich habe mich nur immer wieder gefragt, wer die tragen soll. Ich hätte solche Kleider nie gekauft. Aber es waren wahnsinnig viele Interessenten da. Dann auch in Düsseldorf, wo wir hinfuhren. Und danach brauchte er mich nicht mehr. Da bin ich auf die Idee gekommen, so nebenbei solche Sachen zu machen. Ich habe das auch getan, mal für ein Modehaus in Hamburg, mal für eins in Bremen. Einmal bin ich sogar in Wien gewesen.“ Sie lachte wieder. „Es war hochinteressant. Aber dann eben wieder in Hamburg, und anschließend war eine Party. Da habe ich dann meinen Mann kennengelernt. Weißt du, ich war ja im Grunde ein armes Luder. Was ich da so nebenbei verdiente, war nicht schlecht, aber im Grunde doch nicht so viel, dass man im Luxus schwelgen konnte. Und ich kam aus einer bescheidenen Haushaltsführung, die bei uns zu Hause herrschte. Freunde und Verehrer hatte ich genug. Aber nach einer Pleite mit einem jungen Mann war ich etwas verschreckt und benahm mich weit vorsichtiger im Umgang mit Männern. Und dann kam eben strahlend wie ein Sieger, reich und von Luxus umgeben, Franz von Frederici. Er nahm ein paar von uns mit, auch unseren Chef, den er gut kannte. Wir fuhren in seine Villa an der Elbchaussee. Ich war unheimlich beeindruckt. Und ich merkte auch, dass er sich sehr für mich interessierte. Naja, wie es so kommt. Wir sind dann irgendwohin gefahren, und es war berauschend schön. Ich habe seine Mutter kennengelernt, eine alte nette Dame. Schade, dass sie tot ist. Mit ihr habe ich mich sehr gut verstanden. Die hat sich um meine einfache Herkunft überhaupt nicht gekümmert, er allerdings auch nie. Aber ich habe schon bald begriffen, dass er eigentlich nur etwas zum Vorzeigen geheiratet hat, zum Repräsentieren. Über meine Herkunft musste fortan geschwiegen werden. Bei meinen Eltern ist er die ganze Zeit zweimal gewesen, und das mehr oder weniger heimlich, so, als würde er sich schämen, mit einfachen Leuten Kontakt zu halten. Und ich durfte auch nicht reden, dass ich einfacher Leute Kind war. Das hat mich stets gestört, das stört mich noch heute. Und er wiederum hat sich von Anfang an überall vergnügt. Es dauerte eine Weile, bis ich dahinter kam, bis ich aus diesem Traum erwacht bin, in dem ich mich befand. Ich habe mir ja eingebildet, eine Prinzessin zu sein, ein Glückskind, das mit einem Mal im Schlaraffenland sitzt. Dieses Schlaraffenland stimmt, das habe ich wirklich. Aber sonst ...“

Nicole hatte aufmerksam zugehört, und ihr drängte sich jetzt ein Vergleich auf. Der Vergleich, dass sie seinerzeit in ihrer kurzen Ehe mit Hansjörg in der Rolle von Annas Mann war, Hansjörg wiederum die Partie von Anna gespielt hat. Aber er hatte sich gewehrt, und als das nichts nutzte, war er einfach gegangen.

Nicole versuchte Verständnis für Annas Mann aufzubringen, aber sie hatte es nicht. Und in diesem Moment wurde ihr klar, dass vermutlich niemand die Rolle gut finden konnte, die sie in der Ehe mit Hansjörg gespielt hatte. Nur ein Unterschied war da, von ihr war Hansjörg nicht betrogen worden, wie es Annas Mann tat.

„Und wenn du einfach von ihm weggehst? Vielleicht kannst du bei der Post wieder anfangen oder als Mannequin arbeiten. Die Figur hast du doch noch. Du siehst fantastisch aus.“

Anna winkte bescheiden ab.

„Die Figur habe ich wirklich noch, und ich tue etwas dafür. Zwei Stunden Gymnastik am Tag. Ich denke mir, dass es für meinen Körper gut sein muss. Aber ich tue es nicht, um irgendwo als Mannequin aufzutreten. Ich weiß nicht, ob ich den Anschluss wiederbekäme. Und bei der Post?“ Sie lachte glockenhell. Dann wurde sie wieder ernst und sagte: „Bei der Post habe ich keine Chance. Was glaubst du denn, wie viele Leute in der heutigen Zeit da arbeiten möchten. Ich bin einfach zu lange davon weg.“

Nicole wusste, dass Anna mittlerweile sechs Jahre mit Franz von Frederici verheiratet war, sechs lange Jahre.

„Und du hast nie versucht, auszubrechen in diesen sechs Jahren?“, fragte Nicole.

Anna zuckte die Schultern.

„Gedacht daran habe ich viel, aber wo soll ich hingehen? Man gewöhnt sich so schnell an das Schöne, und ich habe mich daran gewöhnt Und ich habe begriffen, dass für mich im Augenblick nichts anders gibt. Die Freiheit vielleicht, aber die Freiheit wird zum Alptraum, wenn du dabei nicht existieren kannst. Was nützt sie dir dann?“

„Und wenn du einfach von ihm weggehst und zu mir ziehst?“, fragte Nicole einer plötzlichen Eingebung nachgebend. „Wenn du zu mir kommst, wir beide könnten uns gegenseitig unterstützen.“

Für Anna kam das überraschend. Aber es war eine Überlegung, der sie nicht so abgeneigt war. „Eine verrückte Idee von dir, aber nicht schlecht“, meinte sie. „Ich habe es satt. Nur bin ich dann von dir abhängig.“

„Aber ich würde dir das nie dauernd ...“ Nicole sprach nicht weiter. Ihr fiel ein, dass gerade sie es gewesen war, die Hansjörg immer wieder gesagt hatte, wem er die Praxis und all dies zu verdanken habe. Und daran war ihre Ehe dann zerbrochen.

Anna ahnte, wieso Nicole plötzlich ihren Worten innegehalten hatte. Sie lächelte verständnisvoll. Es ist gar nicht so einfach. Man will Gutes tun, aber nach einer Weile sieht man die Dinge doch ganz anders.

„Lass mal, ich komme schon irgendwie zurecht. Vielleicht reiche ich doch doch die Scheidung ein. Und etwas wird er mir schon zahlen, das gebietet ihm sein Stolz.“

„Warum redest du nicht einmal mit ihm, sagst ihm, wie verzweifelt du bist“, meinte Nicole, die eingesehen hatte, das ihr Vorschlag am Ende doch nichts taugte.

Anna zuckte die Schultern.

„Ich hatte es schon zweimal versucht. Er stellt sich taub. Er tut, als bestünden meine Bedenken gar nicht zu Recht. Es gibt, wie er behauptet, gar keine andere Frau, die er mehr schätzte als mich. All dies mit den anderen sei nichts Ernstes, eine Spielerei, eine Laune. Und ich sollte doch nicht alles so eng sehen, so kleinlich sein. In diesem Punkt hat er eine Ausdrucksweise wie junge Leute. Ich komme mit ihm im Gespräch nicht weiter. Früher haben wir uns sehr gut unterhalten, aber doch nur eine kurze Zeit.“

„Es ist jammervoll, wie schwer sich die Menschen das Leben machen“, meinte Nicole. „Sie tun so, als seien sie alle unsterblich, und in Wirklichkeit verderben sie sich die schönsten Jahre mit Streit, Zank, Eifersucht und all diesen Dingen. Ich selbst kann mich nicht ausschließen“, fügte sie lächelnd hinzu. „Ich bin vielleicht noch schlimmer gewesen als andere. Ganz sicher war ich das sogar. Heute tut mir vieles leid. Vor kurzem noch, da dachte ich, ich müsste sterben, wie ich so hier lag, mit den Schläuchen in der Nase oder die eine Nacht in der Intensivstation. Das ist schrecklich gewesen. Ich glaube, da hat sich bei mir innerlich eine Menge verändert. Ich sehe die Dinge heute anders als früher.“

„Hab nur Geduld!“, sagte Anna tröstend. „Er wird auf deinen Brief antworten, da bin ich sicher. Und bis dahin besuche ich dich. Ich werde jeden Tag kommen, wenn du das nur willst.“

„Und ob ich das will.“

„Weißt du“, sagte Anna, „du solltest irgendeine Aufgabe haben, etwas, das dich beschäftigt. Geld hast du genug, das weiß ich ja. Aber du solltest dieses Geld sinnvoll anwenden.“

„Du redest wie Hansjörg. Er hat mir geschrieben, damals von Kanada, diesen letzten Brief, dass mein vieles Geld sinnvoll angewandt sei, wenn ich dies zur Erziehung meines Kindes anwende. Es war auch sein Kind, aber jetzt habe ich dieses Kind nicht mehr, werde nie mehr ein eigenes Kind haben.“

„Aber vielleicht solltest du überhaupt kein Kind haben“, meinte Anna.

Nicole schüttelte den Kopf.

„Ich glaube auch, dass ich keine gute Mutter wäre. Ich muss erst einmal mit mir selbst ins Reine kommen, und vor allen Dingen muss ich Hansjörg wiederfinden. Ich hoffe so sehr, dass er kommt. Ich träume von ihm, nicht nur im Schlaf. In meiner Fantasie hält er mich immer öfter in den Armen. Ich empfinde dann Dinge ...“ Sie konnte nicht weitersprechen, die Tränen stiegen in ihr auf, und Anna, die es sah, erhob sich, strich ihr tröstend übers Haar und sagte dann: „Es ist für mich Zeit, dass ich gehe. Du solltest nicht so trübsinnige Gedanken haben. Ein paar Tage vielleicht, dann wird er sich melden. Und dann entscheidet es sich. Wenn er von dir nichts mehr wissen will, dann wirst du einen anderen finden. Das wirst du ganz sicher, du musst es nur wollen. Aber nicht irgendeinen.“

„Aber ich habe es doch versucht.“

„Da bist du schwanger gewesen“, sagte Anna „Ich verstehe in diesem Punkt auch die Männer. Eine schwangere Frau mit einem Kind im Leib von einem anderen ... Also, ich kann das verstehen.“

„Aber wenn ein Mann einen liebt, wäre ihm das doch egal.“

„Aber nicht, wenn du ihn gerade kennenlernst. Und wahrscheinlich haben dich die, die du da alle kanntest, gar nicht wirklich geliebt“, sagte Anna „Also, ich gehe jetzt. Mache es gut!“

Sie küssten sich auf die Wangen, und Anna ging. Nicole kehrte in ihr Zimmer zurück, zog den Morgenrock aus und legte sich wieder ins Bett. Sie versuchte zu schlafen, aber sie konnte es nicht. Ihre Gedanken kreisten um Hansjörg. Und wieder spielte ihr die Fantasie den Streich, dass sie glaubte, bei ihm zu sein, sich von ihm in den Armen gehalten fühlte, und dass er dann zu ihr kam, dass sie sich liebten, so heiß und leidenschaftlich wie damals in diesem alten Hotel an jenem Wochenende. Oder später noch einmal in ihrer Wohnung, dieses eine Mal, als das Kind entstanden war. Das hatte sie damals ganz genau gefühlt, war sicher gewesen, dass sie ein Kind empfangen hatte. Und dieses eine Mal war das schönste Erlebnis ihres Lebens gewesen.

Die Schwester kam herein wie jeden Nachmittag zum Fiebermessen. Freundlich lächelte sie Nicole an, und Nicole mühte sich, nett zur Schwester zu sein, die sich so anstrengte, Nicole das Leben leicht zu machen.

Aber kaum war die Schwester weg, versank Nicole wieder in dumpfes Brüten. Ihr Selbstmitleid kam wieder auf. Doch dann wurde es ihr bewusst, dass sie sich selbst bejammerte, und sie versuchte das wegzuwischen, dachte an Inas Ermahnung, sich eine Aufgabe zu stellen. Aber in Wirklichkeit konnte sie das gar nicht bewältigen. Immer wieder sehnte sie sich danach, dass Hansjörg einen Brief schrieb. Und sie hoffte inständig, dass er morgen schon käme.

Schon früh beizeiten war sie am nächsten Tage wach. Die Post, das wusste sie, wurde meistens nach der Visite verteilt. In dieser Abteilung war die Visite früh oft schon um neun, manchmal noch früher. Auch heute kam der Chefarzt, setzte sich zu ihr ans Bett und nahm sich viel Zeit für sie. Aber sie dachte nur an die Post und hoffte, dass er bald mit seinem Gefolge verschwinden würde. Und dann fieberte sie dem Augenblick entgegen, dass eine der Schwestern die Post brachte.

Und als die Schwester schließlich kam, waren es nur zwei Briefe von Behörden, die das Haus betrafen, das ihr gehörte, und sonst nichts. Kein Brief von Hansjörg. Der einzige Brief, auf den sie wirklich gewartet hatte.

Später kam Ina zu ihr. Sie unterhielten sich lange. Aber Ina musste wieder an die Arbeit, und das Warten ging weiter. Nicole, die nun noch mehr aufstehen konnte, versuchte sich abzulenken. Einmal durch Lesen, aber ihr fehlte ganz einfach die Konzentration dafür. Dann wieder wanderte sie auf dem Gang umher. Doch all das ließ die Zeit nur zäh vergehen.

Anna kam wieder, das war am Nachmittag, Sie blieb zwei Stunden bei Nicole. Sie plauderten über alles mögliche. Anna gab sich Mühe, Nicole aufzuheitern. Dass sie keinen Brief von Hansjörg bekommen hatte, sah sie ihr an der Nasenspitze an. Stattdessen erzählte sie von allen möglichen Belanglosigkeiten aus ihrem eigenen Alltag, sprach auch von Franz, ihrem Mann und einer Party, die heute Abend bei ihnen zu Hause stattfinden sollte.

„Wenn ich wieder eine Party habe, kommst du auch, das habe ich mir fest vorgenommen. Dann habe ich wenigstens jemanden, mit dem ich mich abgeben kann. Alle anderen hängen mir zum Hals heraus. Es gibt da ein paar nette Bekannte, aber ich denke immer, dass sie wissen, wie es um Franz und mich steht. Sie wissen einfach zu viel von uns, und ich errate ihre Gedanken, auch wenn sie die nie aussprechen würden. Und das alleine genügt mir. Ich möchte weglaufen.“

„Das möchte ich auch“, sagte Nicole. „Wenn er nicht schreibt oder wenn er mir erklärt, dass es nie wieder etwas mit uns wird, dann gehe ich von hier weg. Dann bleibe ich nicht in Hamburg. Hättest du nicht Lust mitzukommen? Am liebsten möchte ich nach Braunschweig zurück. Ich habe ja noch das Haus meiner Eltern: Es ist wunderbar eingerichtet, sehr feudal. Früher habe ich auf diese Dinge Wert gelegt, jetzt gar nicht mehr. Glück braucht keinen luxuriösen Rahmen, das ist mir inzwischen klargeworden. Ina hatte mir das schon früher gesagt, aber ich mochte es nie glauben. Nun weiß ich, dass sie recht hat.“

„Sie hat recht“, bestätigte Anna. „Mir ist es so ergangen wie dir, eigentlich noch viel intensiver, denn ich kam ja aus einfachen Verhältnissen und meinte, dass Reichtum, Luxus, Wohlstand Dinge seien, die einem das ganze Leben schöner machen. Dass dies alles etwas mit Glück zu tun hat. Heute weiß ich, dass das absolut nicht der Fall ist. Glück muss im Herzen wohnen und nicht in einer tollen Einrichtung. Es sind die Menschen, die das Glück ausmachen, weniger die Gegenstände. An denen kann man sich erfreuen, aber Glück ist etwas ganz anderes.“

„Hast du dir nie überlegt“, fragte Nicole leise, „dir einen Liebhaber anzuschaffen? Wenn er dich betrügt, betrüg ihn doch auch. Vielleicht erträgst du dann alles besser.“

Der bittere Zug um Annas Mundwinkel vertiefte sich.

„Wenn das so einfach wäre. Nur für das Körperliche ... nein, das würde mir nicht genügen. Ich müsste ihn lieben. Und ich kenne keinen von unseren Bekannten, bis auf eine Ausnahme, den ich lieben könnte. Und diese Ausnahme ist verheiratet. Diese Ausnahme ist der Bruder von Franz. Ich weiß nicht, welche Schwierigkeiten auftauchen würden, und so groß ist meine Liebe auch nicht für ihn. Ich bilde mir da möglicherweise auch zu viel ein.“

Da tauchte Ina auf. Anna und Ina kannten sich nur vom Sehen. Nicole machte die beiden miteinander bekannt, und sie unterhielten sich.

„Ich muss gleich gehen“, sagte Ina. „Ich wollte nur einmal kurz bei dir vorbeischauen, Nicole. Aber du hast ja glücklicherweise jetzt Besuch.“

„Der Besuch muss gehen, genau wie Sie, Frau Doktor“, meinte Anna.

„Schade! Könnt ihr mich nicht einmal zusammen besuchen?“, meinte Nicole.

Ina lachte.

„Das lässt sich nicht immer so einrichten, wie du denkst. Das müsstest du eigentlich verstehen, du warst ja selbst einmal hier.“

„Es wird sich schon einmal ergeben, wenn du entlassen bist“, erklärte Anna. „Vielleicht machen wir ganz einfach mal einen Ausflug irgendwohin, wir drei.“ Sie sah Ina an und strahlte dabei so gewinnend, dass Ina nickte.

„Warum nicht“, erwiderte sie, „ich bin zu allen Schandtaten bereit.“

„Und wann werde ich entlassen?“, wollte Nicole wissen.

Ina zuckte die Schultern.

„Ich bin nicht dein Arzt. Aber soviel ich gehört habe, lassen sie dich vielleicht schon übernächste Woche gehen. Und da ist auch Frank nicht da. Vielleicht können wir da wirklich mal etwas festmachen, wo wir zu dritt irgendwo hinfahren.“

„Eine richtige Wanderung“, meinte Nicole.

„Aber noch nicht für dich“, stellte Ina fest. „Zu einer Wanderung fehlt dir einmal die Kraft und zweitens ...“

Sie kam nicht dazu, weiterzusprechen. Eine Schwester trat ein mit einem Brief in der Hand.

„Frau Klemm-Clausberg, hier ist ein Eilbrief. Er ist vorhin angekommen. Ich habe ihn sofort zu Ihnen gebracht.“ Die Schwester lächelte. „Ich weiß ja, dass Sie auf einen Brief aus Amerika warten, und dieser Brief ist aus Amerika ...“

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