Читать книгу Die besten 10 Liebesromane November 2021: Romanpaket - Glenn Stirling - Страница 68
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ОглавлениеSpäter, als Ina gerade nach Hause gehen wollte, da rief sie Oberarzt Dr. Kiesewetter zu sich.
„Frau Kollegin“, sagte er leicht aufgebracht, wie es meistens seine Art war, „wir haben im Augenblick nicht viele Betten frei. Um es genau zu sagen, gar keine. Wenn jetzt plötzlich wieder etwas passiert, brauchen wir freie Betten. So etwas kann jede Minute eintreten.“
„Und was soll ich dagegen tun?“, erwiderte Ina leicht gereizt und musterte Kiesewetter spöttisch. Er war alles andere als ihr Typ. Eigentlich war er niemandes Typ hier im Hause. Eine Schönheit stellte er nicht dar. Sein Kopf war ein wenig zu groß geraten, sein Körper schmächtig, und er galt bei den Schwestern als Intelligenzbestie, als sehr herrisch dazu. Bei den Kollegen wurde äußerstenfalls seine scharfe Logik geschätzt. Er war ein hervorragender Diagnostiker, das musste Ina bekennen. Im Feststellen einer Krankheit war er nicht zu schlagen. Was die Therapie anging, hatte sie sehr oft seine Pannen erlebt. Er experimentierte leidenschaftlich herum, und es kostete den Chef, aber auch, die Kollegen viel Mühe, ihn von solchen Experimenten abzuhalten. Die Art und Weise, alles wissenschaftlich zu sehen und letztendlich den Patienten als Objekt zu betrachten, missfiel nicht nur Ina. Aber manchmal zeigte er auch gute Seiten, das musste sie zugeben. Im Augenblick schien er wütend zu sein. Aber auch das war Ina nicht neu, sie nahm es mit Gelassenheit hin.
„Frau Bender“, begann er förmlich, „da ist dieses Kind, diese Kathrin Seeberg. Die Pilzvergiftung, Sie wissen Bescheid. Dieses Kind könnte längst entlassen werden. Wieso ist es überhaupt noch hier?“
„Dieses Kind, Herr Oberarzt, kommt aus einem Waisenhaus. Und dort ist ihm eine wirkliche Rekonvaleszenz, wie sie sein müsste, nicht geboten. Rein medizinisch wäre es möglich, Kathrin nach Hause zu schicken. Aber was ist das für ein Zuhause? In so einer Umwelt, wo ein Kind wie Kathrin, das sehr intelligent und seinem Alter voraus ist, ständig kämpfen muss. Kämpfen gegen die Älteren, die sich wunder was einbilden, weil sie älter sind, aber auch gegen die Erzieher und Schwestern, die sie nicht anerkennen, trotz dieses Wissens. Die sie sogar noch zu unterdrücken versuchen und maßregeln, weil sie weiter ist als die Gleichaltrigen. Und so ein Kind kann sich in einer derartigen Umwelt nicht so erholen, wie es sein müsste. Deshalb ist sie noch hier. Und ich bestehe darauf, ich würde notfalls auch mit dem Chef darüber reden, falls Sie dagegen sind.“
„Und wie ich dagegen bin!“, polterte er los. „Wir sind doch kein Erholungsheim! Das ist kein Sanatorium, Frau Kollegin. Dies ist das Hafenkrankenhaus von Hamburg.“
„Das ist mir nicht ganz unbekannt, Herr Oberarzt. Aber ich bestehe darauf, dass dieses Kind noch wenigstens eine Woche hierbleibt.“
„Eine ganze Woche?“ Er wurde dunkel im Gesicht, die Augen traten ihm fast aus den Höhlen. Er starrte sie an, als wollte er sie verschlingen. „Das darf doch wohl nicht Ihr Ernst sein?“
„Es ist mein voller Ernst.“
„Dann soll sie in die Kinderabteilung, diese Kleine.“
„Nein, sie bleibt bei uns. Und sie bleibt bei Frau Solmer - in diesem Zimmer. Darauf bestehe ich.“
„Sind Sie hier der Oberarzt oder ich?“, fauchte er sie an.
„Sie sind es. Aber es gibt Dinge, auf die ich ein Recht habe. Und auf dieses Recht poche ich, Herr Oberarzt.“
„Dann gehen Sie mal zum Chef, der ist nicht da. Und morgen wird er auch nicht da sein. Ich aber will, dass das Kind morgen früh entlassen wird. Das ist der äußerste Termin, und Sie haben sich bitte daran zu halten, Frau Bender.“
„Und ich werde mich nicht daran halten“, begehrte sie auf. „Kathrin bleibt noch die ganze Woche hier. Darauf bestehe ich. Und ich werde auch mit dem Chef reden, wenn er wieder da ist. Bis dahin rührt sich nichts von der Stelle. Das sage ich Ihnen allen Ernstes, Herr Kiesewetter. Und da wir hier unter uns sind und unter vier Augen, will ich Ihnen noch etwas sagen. Ich kann auch ganz schön kämpfen, das dürften Sie im Grunde wissen. Und wenn Sie wirklich mit mir aneinandergeraten wollen, dann fliegen die Fetzen. Denken Sie nicht, weil ich eine Frau bin, schrecke ich vor Ihnen zurück. Das habe ich Ihnen schon einmal gesagt, und Sie haben die Konsequenzen kennengelernt. Sie würden sie auch diesmal kennenlernen. Kathrin bleibt die ganze Woche hier. Und wenn dann der Zustand so ist, dass ich es für gut erachte, sie zu entlassen, werde ich mit dem Chef reden, und dann wird sie entlassen oder eben auch nicht. Und damit basta! Haben Sie sonst noch etwas?“
Er blähte die Nasenflügel, und sie hatte das Gefühl, er würde gleich losbrüllen. Aber dann sagte er gar nichts, wandte sich ab und ging zur Tür. Dort allerdings drehte er sich noch einmal um. „Morgen früh ist Entlassungstermin. Ich hoffe, Sie haben mich jetzt ganz deutlich verstanden.“
Er war draußen, bevor Ina noch etwas sagen konnte. Aber sie war weder erschrocken, noch verängstigt. Sie dachte nicht im Traum daran, Kiesewetters Auflage zu erfüllen. Kathrin würde dableiben. Kiesewetters Anordnung scherte sie nichts. Das Kind wurde erst entlassen, wenn sie es für gut hielt.
Natürlich konnte er als Oberarzt eine Menge dagegen tun. Aber sie wollte es darauf ankommen lassen. Wenn es wirklich zur Sache geht, dachte sie, dann wird er sich wundern. Dann packe ich auch einmal aus. Aber vielleicht überlegt er sich das noch.
Sie fuhr nach Hause und dachte weder an Kiesewetter, noch an Kathrin, aber auch kaum an Nicole. Frank war da, und es waren seine letzten Urlaubstage. Wenn sie ihn schon nur zum Feierabend sehen konnte, dann wollte sie diese Zeit auch wirklich genießen.
Später ging sie mit ihm aus. Sie aßen in einem netten Lokal, und danach sagte Frank: „Du hast mir doch von der Kleinen erzählt, dass ich mit ihr einen Rundflug machen soll. Mir ist da eine prächtige Idee gekommen. Wir könnten nach Helgoland fliegen, dort eine Ehrenrunde drehen, dann hinüber nach Sylt, und über SchleswigHolstein zurück bis nach Hamburg. Die Hauptsache ist nur, dass wir einen Tag mit schönem Wetter erwischen. Im Moment sieht es nicht so toll aus.“
„Und was sagt der Wetterbericht? Du bist doch immer gut informiert“, erkundigte sich Ina.
„Für übermorgen soll’s ganz gut sein. Aber weißt du, diese langfristigen Wetterberichte sind reine Spekulationen. Warten wir’s also ab. Wann ist die Kleine soweit?“
„Ich wollte sie noch die ganze Woche dabehalten und hatte schon Krach mit Kiesewetter deshalb.“
Eine Weile schwiegen sie beide. Ina blickte gedankenverloren zum Fenster hinaus. Draußen goss es in Strömen. Hoffentlich, dachte sie, ist das zum Wochenende besser, wenn wir mit Kathrin fliegen wollen. Sie freut sich ja so sehr darauf. Das Kind ist so aufgeblüht, und ihr ganzes Wesen hat auch Frau Solmer so geholfen. Der geht es ja ebenfalls so gut, dass man sie entlassen kann. Ich werde beide zusammen entlassen, überlegte sie weiter.
Ina ahnte nicht, wie sehr Franks Gedanken den ihren glichen.
„Sag mal“, meinte er plötzlich, „diese Kleine, von der du so schwärmst, wäre das nicht etwas für Tante Hilde?“
Ina fuhr herum. „Wie meinst du das?“
„Sieh mal, Tante Hilde betrachtet dich noch immer als Kind. Und wenn du zwanzig Jahre älter bist und sie eine Greisin, wird sie noch immer in dir das Kind sehen. Das ist nun mal so. Sie hat dich von ganz klein gekannt.“
„Ach, du meinst, Tante Hilde sollte Kathrin aufziehen? O nein, ich glaube, sie könnte eine gute Oma für sie sein, genau wie Frau Solmer, die mit ihr im Zimmer liegt. Und Tante Hilde würde das auch ganz sicher bewerkstelligen, aber da ist Opa.“
„Aber dein Großvater ist doch sehr fortschrittlich. Vom Geist her ist er überhaupt kein alter Mann. Er kann mit jungen Leuten.“
Ina unterbrach ihn: „Ich weiß, was du meinst, Frank. Aber es ist nicht so, wie du denkst. Er kann mit jungen Leuten, junge Leute wie Thomas und seine Freunde, junge Leute wie du und ich, das sind für ihn junge Leute. Ein Mann, der beinahe zweiundachtzig ist, kann nicht anders denken. Aber Kinder, kleine Kinder gehen ihm auf die Nerven. Das sehe ich, wenn Thomas mit seiner kleinen Marie kommt. Als er das letzte Mal da war, da hat es Opa genau eine Stunde lang gefallen, dann hat er sich verdrückt, ist in sein Zimmer und später ganz aus dem Haus gegangen. Er hielt das nicht aus. So rüstig er sein mag, aber kleine Kinder strapazieren seine Nerven zu sehr. Und er kann es auch nicht so gut mit ihnen. Sie haben Angst vor ihm. Ich weiß nicht, ob das bei Kathrin auch so ist, aber ich könnte es mir vorstellen. Er ist einfach zu alt. Für so ein Kind ist ein alter Mensch, ein sehr alter Mensch wie mein Großvater, etwas Unheimliches.“
„Glaubst du wirklich?“, fragte Frank zweifelnd.
Sie nickte überzeugt: „Doch, das glaube ich mit Bestimmtheit. Mir ist es als Kind auch so gegangen. So ganz alte Leute, vor denen hatte ich Angst. Meine Großeltern waren ja im Alter wie Tante Hilde oder wie Frau Solmer, so Mitte Fünfzig bis Mitte Sechzig. Aber ein Mann von über achtzig, das ist etwas, vor dem Kinder Angst haben, kleine Kinder jedenfalls. Ich glaube nicht, dass dies eine große Liebe gibt. Und abgesehen davon, hat Tante Hilde eigentlich mit Opa zu tun. Er kann manchmal auch wie ein Kind sein, aber wie ein ganz störrisches.“
Frank machte ein betrübtes Gesicht.
„Du hast einmal gesagt, du möchtest am liebsten raus da, bringst es auf der anderen Seite aber nicht fertig. Und ich will dir Eines sagen, Ina. Wenn du dich nicht entschließen kannst, das irgendwie aufzugeben oder eine Änderung zu treffen, dann vernichtet das dein ganzes Leben, auch wenn du dir das nicht vorstellen kannst. Sieh mal, wenn wir beide heiraten würden, dann kannst du doch da nicht wohnen bleiben.“
Sie sah ihn ernst an.
„Du hast recht. Das ist auch ein peinigender Gedanke für mich. Ich muss oft darüber nachdenken. Ich weiß nicht, was ich machen soll. Ich kann sie nicht alleinlassen. Und ich wünsche auch nicht, dass Opa für immer weggeht, ich meine, dass er stirbt. Das würde eine Entscheidung bringen. Aber wer will die schon, dann auf eine solche Art. Ich hänge an ihm. Mir geht es da anders als einem kleinen Kind. Der Altersunterschied zwischen uns ist zwar auch sehr groß, er beträgt immerhin fünfzig Jahre. Aber ich habe mit ihm immer ein gutes Verhältnis gehabt. Und früher war er ja auch entsprechend jünger. So bockbeinig, wie er jetzt ist, war er früher ja nicht. Mit Thomas kommt er auch sehr gut aus.“
Frank schien nachzudenken. Und plötzlich sagte er: „Du, hör mal, ich hab’s! Dein Bruder hat doch seinerzeit bei euch im oberen Stock alles ausgebaut. Er hat da mit seiner Frau gewohnt, und schließlich hatten sie das Kind. Aber dann ist er nach Frankreich gegangen. Was macht ihr mit den Räumen?“
„Wie kommst du darauf? Willst du da einziehen?“ Sie lachte. „Ich fände es gut.“
„Angenommen, wir richten uns eine richtig abgeschlossene Wohnung ein, das wäre in euerem Haus ja gut möglich. Das Treppenhaus ist separat. Da machen wir dann einfach eine Tür hin, trennen das mit einer Holzwand ab. Wir haben eine Wohnung oben, dein Opa und deine Tante wohnen weiter unten. Bloß, dass wir oben eben keine Küche haben.“
„Doch, das wäre auch möglich“, unterbrach ihn Ina. „Thomas hat damals eine Installationswand eingerichtet und die ganzen Anschlüsse gebaut. Das war vielleicht ein Dreck, sage ich dir, wenn man im Nachhinein Rohre durch ein Haus zieht, in dem schon jemand wohnt. Aber es ist passiert, es ist alles fertig. Später haben wir eine Rigipswand davor gemacht, die können wir wegnehmen. Dann hätte ich da oben eine kleine Küche. Die Idee ist gar nicht schlecht. Ich bin übrigens auch schon darauf gekommen. Aber ich glaube nicht, dass sie meinem Opa und Tante Hilde sehr gefällt.“
„Aber das Haus gehört doch dir, wenn ich nicht irre.“
Ina nickte.
„Ja, das stimmt, auf dem Papier. Aber ich habe es nie so formell gesehen. Für mich ist es unser Haus, und damit meine ich Opa, Tante Hilde und mich.“
„Aber du bist jung“, sagte Frank. „Wir sollten einmal etwas verwirklichen, was wir wollen. Bis jetzt haben wir uns immer nach den alten Herrschaften gerichtet, nach deinem Opa und nach deiner Tante. Wie ist es, wenn die sich einmal nach uns richten. Bei deinem Bruder waren sie auch dazu bereit.“
„Da gibt es nur ein kleines Problem“, sagte Ina nachdenklich und spielte an ihrem Rubinring herum, den sie an der linken Hand trug. Frank hatte ihn ihr geschenkt, sie liebte ihn sehr.
„Und dieses Problem wäre?“, fragte er.
Sie hob den Kopf und schaute ihn an.
„Das Problem ist, Frank, dass mein Opa und meine Tante, besonders aber meine Tante, in einer Vorstellung leben, die früher sehr gültig war, ohne die man ein Zusammensein zweier Leute gar nicht denken konnte. Ich will sagen, sie erwarten, dass jemand, der zusammen wohnt und offiziell zusammen schläft, auch miteinander verheiratet ist.“
„Und was spricht dagegen, dass wir das tun?“
Diese Frage hatte Ina schon zweimal ganz ernsthaft von Männern hören müssen und sie jedes Mal abschlägig beschieden. Der Erste war ein Kollege gewesen, der sich dann später nach der Trennung von Ina selbständig gemacht hatte. Und der Zweite Dr. Bernd Kluge, auch ein Kollege, allerdings an einer anderen Klinik. Frank kannte ihn ja. Aber mit ihm sprach sie praktisch nie über Bernd. Er hatte sie auch heiraten wollen, und Ina wäre fast weich geworden. Nur weil sie die beiden, ihren Opa und ihre Tante, nicht hatte alleinlassen wollen, schob sie es immer wieder hinaus. Und nach dem Krach von Bernd, der vielleicht auch aufgrund dieser Tatsache entstanden war, sah sie es mit Erleichterung, nicht seine Frau zu sein. Sie versprach sich überhaupt nichts von einem Trauschein, weil er für sie nichts als ein Stück Papier war. Und eine Bindung auf derartige Weise schreckte sie zurück. Sie hatte immer Angst, dass die Liebe nachher in Alltäglichkeit überging, dass sie nicht fortbestand, dass alles zur Gewohnheit, zur Routine wurde.
„Ich weiß nicht, ob es gut ist, wenn wir heiraten. Vielleicht brauchen wir noch etwas Zeit.“
Er lachte, dass die Kellnerin, die gerade vorbeikam, erschrocken zusammenzuckte und fast ihr Tablett fallengelassen hätte.
„Du liebe Güte, noch länger?“, fragte er.
Sie blickte ihn unsicher an.
„Ich weiß, was du denkst. Verzeih mir!“ Sie legte ihre Hand auf die seine. „Ich weiß, dass ich in diesem Punkt irgendwie verrückt bin. Aber damit musst du leben. Ich muss mit meiner Tante reden. Vielleicht sieht sie es gar nicht mehr so streng.“
Er zuckte die Schultern, lehnte sich zurück und blickte nach draußen. Es goss immer noch. Dann warf er einen Blick auf seine Armbanduhr.
„Ich glaube, wir müssen gehen. Ich hatte noch etwas zu erledigen, das sagte ich dir vorhin. Es ist bald soweit.“
Er ist beleidigt, dachte sie. Mit meiner Antwort habe ich ihn verschnupft, sonst hätte er niemals zum Aufbruch gedrängt, im Gegenteil, ich hätte ihn daran erinnern müssen. Aber sie fand weder die Worte, noch einen Weg, um ihn wieder zu besänftigen. So verließen sie das Lokal und trennten sich eine halbe Stunde später. Sie verabschiedeten sich nicht unfreundlich, aber doch nicht annähernd so herzlich wie sonst. Die Verstimmung war deutlich, besonders bei ihm.
Als er in seinem Wagen davonfuhr, winkte sie ihm noch nach und musste sich gleichzeitig dabei eingestehen, dass es auch schon Routine und weiter nichts als reine Höflichkeit war. Dieses Nachwinken kam ihr nicht von Herzen.
Die Erkenntnis versetzte sie in eine traurige Stimmung. Sie fuhr nach Hause und war froh, weder Tante Hilde, noch Opa zu treffen, als sie nach oben ging. Dann legte sie sich hin, nahm ein Buch, blätterte darin, aber sie las nicht wirklich. Nach kurzer Zeit legte sie es beiseite, verschränkte die Arme unter dem Nacken und starrte zur Decke.
Wie, fragte sie sich, soll es mit Frank weitergehen? Ich liebe ihn. Ich liebe ihn von ganzem Herzen. Ich bin sehr glücklich mit ihm. Soll ich ihn denn wirklich heiraten? Sein Vorschlag ist doch gar nicht so übel. Und irgendwann könnten wir ja woanders hinziehen. Und irgendwann regelt sich vielleicht alles von allein. Nein ... daran darf ich nicht denken. Das würde bedeuten, dass Opa nicht mehr lebte. Das will ich nicht. Ich liebe ihn so sehr. Vielleicht wird er neunzig oder älter, so etwas ist ja nicht ausgeschlossen. Er könnte mir noch manchen guten Rat geben. Das hat er auch schon immer getan. Nein, ich will keine automatische Regelung. Lieber ziehen wir aus und mieten uns irgendwo eine Wohnung. Heiraten, das würde bedeuten, dass wir immer zusammensein müssen. Aber wir sind doch sowieso nicht immer zusammen. Wenn er mit dem Flugzeug unterwegs ist, manchmal eine Woche und länger, wenn es sein Dienst nicht anders zulässt, dann bin ich auch allein. Und wenn er dann wiederkommt, hat er vierzehn Tage Zeit, die ich nicht für ihn aufbringen kann. Mein Gott, warum sollten wir nicht heiraten?
Ihr fiel die kleine Kathrin wieder ein. So ein Kind, dachte sie, müsste eine Heimat, ein richtiges Zuhause haben. Menschen, die sich darum kümmern. Ein so intelligentes, aufgewecktes Kind, das kann doch nicht in einem Waisenhaus bleiben. Da müsste sich doch irgendjemand finden.
Sie musste zugeben, dass sie die Kleine selbst sehr gern hatte. Aber da fiel ihr Bastian ein, ein kleines Kind, das ihr jemand überlassen hatte. Eine sehr ähnliche Situation, bloß dass dieses Kind eben noch viel kleiner war. Und dann hatte sie sich doch davon trennen müssen. Ein harter Schnitt, der immer noch schmerzte, wenn sie nur daran dachte.
Wenn ich ein Kind habe, ob es nun meins ist oder nicht, dachte sie, muss ich meinen Beruf einschränken oder aufgeben. Ich hänge aber an meinem Beruf. Ich habe den stets anders gesehen als Nicole. Die wollte nur ihre Rolle spielen. Aber ich bin in meinem Beruf glücklich gewesen, ich bin es noch heute. Ich möchte ihn nicht an den Nagel hängen. Vielleicht um den Preis eines eigenen Kindes. Dann ginge es gar nicht anders. Aber ich würde es mir nicht selbst auferlegen. Es gibt so viele Kinder auf der Welt, so wie Kathrin, die keine Eltern haben. Sollte man nicht denen erst einmal helfen, denen ein Zuhause geben?
Sie überlegte hin und her, aber sie kam zu keinem Entschluss. Sie wollte Kathrin helfen, aber sie sah keine Möglichkeit dazu. Schließlich verschob sie das, weil sie doch zu keiner Lösung kam. Sie dachte wieder an Frank, fragte sich, ob sie ihn nicht doch heiraten sollte. Er war ganz anders als Bernd, ruhiger, steter und vor allen Dingen zuverlässiger. Sie war ganz sicher, dass er sie sehr liebte, und ihr ging es ja mit ihm nicht anders. Sie wollte ihn nicht mehr verlieren. Das mit Bernd hatte wehgetan, aber eine Trennung von Frank würde sie vernichten.
Diese kleine Verstimmung von heute, darüber machte sie sich keine Sorgen. Frank war weder nachtragend, noch rachsüchtig. Das ließ sich wieder beibiegen. Nein, so etwas war nicht ernsthaft. Aber wenn sie eine Heirat weiterhin ablehnen würde, könnte es ernsthaft werden. Und sicherlich hatte die Trennung von Bernd nicht zuletzt auch deshalb stattgefunden.
Ich beschäftige mich viel zu viel mit der Klinik, dachte sie. Ich sollte auch einmal an mich denken, an mich und meine Zukunft. In diesem Punkt hat Frank recht.
Aber dann musste sie sich wieder an Kathrin erinnern, diese kleine, aufgeweckte Kathrin, die doch nach ihrer Meinung so gut wie keine Zukunft besaß. Wie würde es weitergehen für sie? Irgendwann würde sie unterrichtet, aber danach geriet sie in eine Szene, die ihren Fähigkeiten ganz sicher nicht gerecht wurde. Aber da bestand ein gewisser Automatismus. Sie konnte aus dem gar nicht mehr heraus, was ihr vorgegeben war. Es sei denn, da war jemand, der sie jetzt schon aus allem herausriss und sie auf einen neuen, auf einen weit besseren Weg brachte.
Aber so sehr auch Ina darüber nachdachte, konnte sie es doch mit ihrem Beruf nicht vereinbaren. Sie wusste nicht weiter und nahm sich vor, mit Frank noch einmal darüber zu reden. Doch dass sie der Kleinen helfen wollte, war für sie ein fester, unumstößlicher Beschluss.