Читать книгу Die Rache der Rosalie Salino - Gloria Murphy - Страница 3
KAPITEL 1
ОглавлениеVictoria grub die Zähne in ihre Unterlippe und hinterließ leichte Abdrücke... Es war eine der Angewohnheiten die sie als Kind angenommen hatte, und obwohl sie bemerkenswerte Willensstärke bewiesen hatte, andere schlechte Angewohnheiten ihrer Kindheit abzulegen, so kaute sie manchmal doch noch so heftig auf ihren Lippen, daß sie zu bluten anfingen.
Wäre da nicht die weißhaarige Dame gewesen, die sie über den schmalen Gang im Bus hinweg anstarrte, hätte sie nicht bemerkt, was sie tat. Sollte sie sich bei der Frau dafür bedanken oder einfach nur zurückstarren? Sie tat keines von beidem, sondern fuhr sich glättend mit der Zunge über die Lippe und wandte sich ab, um durch das dreckverschmierte Fenster in die Dunkelheit zu starren. Sie waren in Boston – der Charles River tauchte zu ihrer Linken auf. Sie schaute auf die Uhr. Die Busfahrt von Manhattan hatte fast fünf Stunden gedauert.
Obwohl sie versucht hatte, sich zu beruhigen, spürte sie dennoch eine leichte Nervosität. Sechs Jahre war sie fortgewesen, und nun fuhr sie nach Hause. Zu sich nach Hause... zu Rosalie nach Hause. Da war es wieder, sie dachte an Rosalie wie an einen anderen Menschen, als wären sie nicht ein und dieselbe Person. Der Arzt hatte gute Arbeit geleistet – sie hatte sich für einen der besten Schönheitschirurgen Manhattans entschieden –, doch manchmal fragte sie sich, ob er bei einem der vielen Male, die er sie operierte, nicht auch Teile ihres Gehirns entfernt hatte.
Victoria wühlte in ihrer grauen Schultertasche, zog einen Taschenspiegel heraus und betrachtete ihr Gesicht; dann drehte sie den Kopf zur Seite und musterte im Profil Nase und Kinn. Die ganze Zeit über war sie sich der Blicke bewußt, die von der anderen Gangseite her auf sie gerichtet waren.
»Das Kinn ist in Ordnung«, hatte der Arzt versucht, sie zu überzeugen, doch sie war hartnäckig geblieben. »Es ist nicht gut genug«, hatte sie gesagt. »Es ist klein und zu wenig ausgeprägt. Es muß etwas verstärkt werden, um zu meinem übrigen Gesicht zu passen.«
Sie hatte sich Hunderte von Fotos angesehen. »Als ob man sich in einem Versandkatalog ein neues Gesicht aussuchen würde«, hatte sie zu den Mädchen im Sekretariat gemeint. »Oder... als bastelte man eine Puppe.« Doch diese hatten ihren trockenen Humor nie zu würdigen gewußt.
»Wenn Sie mich fragen«, hatte eine der freimütigeren Angestellten geantwortet – die anderen zogen es immer vor, ihre Meinung über sie für sich zu behalten –, »ich begreife nicht ganz, wie Sie mit so einer Veränderung zurechtkommen. Ich meine, in den Spiegel zu sehen und von einer vollkommen fremden Person angestarrt zu werden. Es tut mir leid, aber für mich ist das irgendwie makaber.«
Doch so hatte Rosalie es nie empfunden. Sie hatte sich einfach den Operationen unterzogen und voilà: Rosalie Salino war tot, und Victoria Louise war geboren. Ein neues Gesicht, eine dunklere Haarfarbe, Kontaktlinsen und sogar Sprechunterricht, um ihrer Stimme mehr Tiefe, mehr Reife zu verleihen. Und als Krönung des Ganzen – ein neuer Körper. Sie hatte in weniger als einem Jahr fast dreißig Kilo abgenommen. Wenn Mutter sie jetzt doch nur sehen könnte.
Mutter... Sie war nie wirklich einverstanden gewesen, daß ihre Tochter nach dem Highschool-Abschluß nach New York ging, aber sie hatte auch nicht viel dagegen eingewandt. Victoria war fest entschlossen gewesen, das ganze Drama ihrer Kindheit hinter sich zu lassen, was ihr allerdings nie ganz gelungen war. Sie begriff schnell, daß häßlich und fett immer häßlich und fett bleibt, wohin man auch gehen mag.
Sie hatte stundenlang vor dem Fernsehapparat damit zugebracht, sich Werbesendungen anzusehen. »Selbst wenn Sie sich nicht mögen, wir mögen Sie. Wir zeigen Ihnen, wie sehr.« Doch erst als ihre Mutter vor weniger als einem Jahr an einem schweren Herzanfall gestorben war und Victoria das viele Geld erbte, hatte die Idee von ihr Besitz ergriffen, einen neuen Menschen aus sich zu machen. Nachdem sie sich einmal dazu entschlossen hatte, war es für sie selbstverständlich gewesen, daß sie nach Hause zurückkehren würde. Das Seltsame daran war, daß Victoria vielleicht niemals mehr zurückgekommen wäre, hätte ihre Mutter ihr nicht das Geld hinterlassen.
Das Haus und mehr als zweihunderttausend Dollar... Sie hatte keine Ahnung gehabt und war vor Überraschung sprachlos gewesen, als der Anwalt ihrer Mutter ihr am Telefon die endgültige Summe nannte. Offensichtlich hatte Vaters Lebensversicherung sie nach seinem Tod gut versorgt hinterlassen, aber Mutter hatte keinen Penny angerührt. Statt dessen hatte sie weiterhin eine Untermieterin, Mrs. Mills, im Haus und lebte von der bescheidenen Miete.
Victoria steckte den Spiegel in ihre Tasche zurück, holte dann ein in schwarzes Leder gebundenes Buch aus ihrer Reisetasche und schlug es auf. Ihr Gesichtsausdruck wurde hart, als sie das Gruppenbild betrachtete, das sorgfältig ausgeschnitten und auf die erste Seite geklebt war. Elf Gesichter. Jedes gehörte zu einem ausgewählten Mitglied der Abschlußklasse der Bradley School von 1981. Der Captain des Footballteams, die Anführerin der Cheerleading Girls, die Ballkönigin des Abschlußballes – die ganze Hautevolee von Bradley war versammelt. Sie hatten sich um die massive Granitstatue, den Denker, gruppiert, die vor der Bradley-High-School stand. Unter dem Foto war in Druckbuchstaben zu lesen: »Eine Party... hat jemand was von einer Party gesagt?«
Victoria blickte auf, ihre Augen starrten ins Nichts. Ja, dachte sie, es wird eine Party stattfinden. Nur dieses Mal würde sie die Party geben, und die würde ganz anders sein als alle ihre bisherigen Parties. Dafür würde sie sorgen. Ihre Augen blieben an einem Gesicht in der Gruppe hängen, das rot umrandet war, und sofort wurde ihr Ausdruck sanfter. Für Rusty hatte sie andere Pläne...
Aus den Augenwinkeln sah Victoria, wie die alte Dame sich den Hals verrenkte – wobei alle Falten verschwanden – bei dem Versuch, einen Blick auf das zu erhaschen, was Victoria sich ansah. Victoria wandte sich um und schaute ihr ins Gesicht. »Wollen Sie einen Blick darauf werfen?« fragte sie und reichte ihr das Buch.
Die Frau schreckte zurück, und ihr Hals rutschte wieder zwischen ihre Schultern.
Es war neun Uhr, als der Greyhound-Bus in die St. James Street fuhr und in den Busbahnhof einbog. Victorias neugierige und jetzt ziemlich nervöse Reisegefährtin verließ hastig den Bus und eilte in die kühle Oktobernacht hinaus, sobald die Türen auseinanderglitten. Es war einfach gewesen, die Frau zurechtzuweisen; sie mußte sich nur ruhig, entschlossen und unmißverständlich verhalten, etwas, für das Victoria Jahre benötigt hatte, um es zu erlernen. Als Kind war sie immer zaghaft, war immer diejenige gewesen, die bei der geringsten Provokation sofort rot anlief oder plötzlich einen Kloß im Hals spürte. Bei Mrs. Mills natürlich, ihrer immer präsenten Untermieterin, war das Gegenteil der Fall: bereits die geringste Einmischung von Mrs. Mills versetzte Rosalie in Wut, und fast immer gab sie der Frau schnippische Antworten. Es erstaunte sie noch heute, daß Mrs. Mills nie beleidigt gewesen war.
Victoria hängte sich die Tasche über die eine Schulter und die Reisetasche über die andere. Sie ging schnell in die überfüllte Wartehalle und mußte kurz die Augen zusammenkneifen, als sich ihre neuen Kontaktlinsen auf das helle, reflektierende Licht einstellten.
In der Halle standen lange Reihen hölzerner Bänke, von denen die meisten besetzt waren: da saßen Betrunkene, Obdachlose, verschlampte junge Mütter mit sabbernden, triefnasigen Babys, Schwarze, Puertorikaner. Sehr viele Puertorikaner. Ein Busbahnhof war wie der andere – sie hätte besser fliegen sollen. Es würde noch eine Weile dauern, bis sie sich daran gewöhnt hatte, soviel Geld zu besitzen.
Ein Mann mit einem schmutzigen T-Shirt, Hosenträgern und bloßen Füßen klopfte ihr auf die Schulter und deutete auf einen leeren Sitzplatz auf einer der Bänke. »Wollen Sie sich setzen?«
Sie war immer noch nicht daran gewöhnt, daß Männer ihr einen Platz anboten – selbst so zwielichtige Typen wie dieser –, aber sie lehnte höflich ab, trat einen Schritt zurück und wandte ihre Aufmerksamkeit wieder der Glastür zu. Ein Mann mit einer roten Kappe holte gerade die letzten Gepäckstücke aus dem Bauch des Busses und stellte sie in einer Reihe auf den Gehsteig. Sie öffnete die Tür und entdeckte sofort ihren Koffer und die braune Pappschachtel, griff in ihre Tasche und holte die Gepäckabschnitte hervor. Der Mann mit der roten Kappe nahm sie in Empfang und half ihr, das Gepäck zum nächsten Taxistand zu bringen. Bradley lag ganze vierzig Minuten nördlich von Boston, doch sie würde ein Taxi nehmen.
Valley Road Nummer siebzehn. Victoria stellte ihr Gepäck auf den Boden und beobachtete, wie das gelbe Taxi die Straße hinunterfuhr und verschwand. Nicht einmal zu Mutters Beerdigung konnte sie sich überwinden, hierher zurückzukommen. Langsam wandte sie sich um und zwang sich, das düstere, dreistöckige Haus zu betrachten, und für den Bruchteil einer Sekunde sah und spürte sie nichts mehr außer dem elektrisierenden Kribbeln, als sich die feinen Härchen in ihrem Nacken aufrichteten. Dann erschien ihr plötzlich alles wieder sehr vertraut: das Dach mit den vielen Giebeln, der schiefhängende Balkon im zweiten Stock, das geschnitzte Geländer der Veranda, das sich wie ein paar ausgemergelter Arme die Vordertreppe hinunterzog. Und die Fenster. Zweiundsiebzig Fenster insgesamt – Rosalie hatte sie einmal gezählt.
Victoria hob ihre Sachen auf und kletterte erst die angeschlagenen Stufen, die zum Haus führten, und dann die Verandastufen hinauf. Schließlich steckte sie den Schlüssel ins Schloß, stieß die Tür auf, schlüpfte hinein und schaltete das Licht in der Eingangshalle an. Nichts. Verdammt – der Strom! Sie hatte vergessen, ihn wieder anschließen zu lassen.
Nur von dem Schein unzähliger Streichhölzer geleitet, suchte Victoria sich ihren Weg zu dem Geschirrschrank im Eßzimmer. Sie ließ ihre Hände über die Regale wandern.
Kerzen… Mutter hatte hier doch immer Kerzen aufbewahrt. Sie mußten doch – sie hielt inne. Vom Treppenabsatz ertönte ein knarrendes Geräusch. Sie wirbelte herum und starrte in die Dunkelheit. »Wer ist da?« rief sie laut.
Stille.
Victoria drückte sich lauschend gegen die Wand... Immer noch nichts. Sie mußte sich das eingebildet haben, dachte sie. Alte Häuser, seltsame Geräusche – noch etwas, was sie vergessen hatte. Sie hatte sich wieder zum Geschirrschrank getastet, als sie den Lichtschein sah, der durch die Eßzimmertür fiel. Ihre Hand berührte einen Gegenstand – eine Weinkaraffe –, sie schloß ihre Finger darum, hob ihn hoch... und wartete. Der Lichtschein kam näher und warf formlose Schatten an die Wände... Dann tauchte eine dunkle Gestalt im Türrahmen auf.
Sie schluckte und fragte wieder: »Wer ist da?«
»Die Hausherrin, wer sonst.«
Kam ihr die Stimme bekannt vor? Victoria trat ihr entgegen. Als sie nur noch einen knappen Meter entfernt war, konnte sie das Gesicht erkennen: große, dunkelblaue Augen, die ein schmales, glattes Gesicht beherrschten. Hellbraunes Haar, vom Haaransatz aus mit grauen Strähnen durchzogen... Dieses Mal kannte Victoria bereits die Antwort, als sie fragte: »Wie heißen Sie?«
»Agnes Mills. Und wer sind Sie, wenn ich fragen darf?«
»Victoria Louise.« Victoria nahm der Frau die Laterne aus der Hand und beleuchtete damit, den Atem anhaltend, ihr eigenes Gesicht. Doch die Frau zeigte keine Anzeichen des Wiedererkennens. »Was tun Sie hier?« fragte Victoria schließlich.
»Ich lebe hier... allein... jetzt, da Mrs. Salino nicht mehr da ist.«
»Aber Mrs. Salinos Tochter hat mir das Haus verkauft.«
Die Augen der Frau wurden schmal. »Rosalie? Sie kennen Rosalie?«
»Nicht direkt. Ich habe sie einmal getroffen.«
»Wo ist sie?«
»In New York, aber –«
»Erzählen Sie mir von ihr«, bat die Frau. »Geht es ihr gut?«
»Ich fürchte, ich kann Ihnen nichts erzählen. Wie ich schon sagte, ich habe sie nur einmal gesehen, und auch das nur, um die Verträge zu unterschreiben.«
Die Frau schüttelte den Kopf. »Nein, das kann ich nicht glauben. Rosalie würde mich nie auf die Straße setzen. Sie würde dieses Haus nie verkaufen.«
Victoria öffnete ihre Tasche, faltete eine Übertragungsurkunde, die Victoria Louise als Eigentümerin auswies (und die sie selbst angefertigt hatte), auseinander und hielt sie Mrs. Mills hin. »Das Original ist natürlich bereits bei den Akten.«
Mrs. Mills studierte das Papier, seufzte dann tief und sah Victoria an. »Und ich... was soll ich denn anfangen?«
Victoria zuckte mit den Schultern. »Nun, ich hatte nicht erwartet... das heißt, ich werde Ihnen etwas Zeit geben, etwas Passendes zu finden. Vielleicht eine Woche...«
Die Frau reckte das Kinn vor, und ihre Stimme klang erstickt, als sie sagte: »Selbstverständlich... das wird genügen. Ich bin sicher, daß ich bis dahin etwas gefunden habe.«
Sie wandte sich um und ging, mit unsicheren Schritten und hochgezogenen Schultern, nach oben, plötzlich zwanzig Jahre älter als die fünfzig Jahre, die sie bereits war. Einen Moment lang fragte sich Victoria, ob die schwerfälligen Bewegungen der Frau nicht ein Versuch waren, ihr Mitgefühl zu erregen. Nun, wenn dem so war, bei ihr würde das nicht wirken.
Victoria biß sich auf die Lippe und fuhr mit den Zähnen darüber... Was hatte Mrs. Mills gesagt... Rosalie würde sie nie auf die Straße setzen? Warum sollte sie so etwas sagen... wieso dachte sie so etwas überhaupt? Sie hatte doch sicher nicht vergessen, wie schlecht Rosalie sie behandelt hatte...
Victoria zündete drei Kerzen an, befestigte sie mit einem Tropfen geschmolzenen Wachses an drei Untertassen und verteilte sie im Zimmer. Dann hängte sie ihre Reisetasche über die Schulter und ging nach unten. In das Spielzimmer.
Die Kerzen in der Hand wanderte sie durch den dumpfen Keller. Einige alte Stühle und ein Sofa standen herum... vergilbtes Polstermaterial quoll an den Rändern der Möbel heraus. Nein, das war nicht gerade ein Spielzimmer, wenigstens jetzt noch nicht. Doch bald würde es genau das Zimmer sein, das ihr Vater für sie geplant hatte. Sie erinnerte sich, wie er sie seine »kleine Prinzessin« genannt und ihr immer und immer wieder erzählt hatte, wie wunderschön das Spielzimmer werden würde, sobald es fertig wäre. Sie betrachtete eine schmale, holzverkleidete Wand am Ende des Kellers. Er war nur bis hierher gekommen, bevor er gestorben war...
Sie bückte sich, öffnete den Reißverschluß ihrer Reisetasche, holte das schwarze Buch heraus und musterte die elf lachenden Gesichter auf der ersten Seite. Sie schaute sich in dem Zimmer um und wußte noch genau, wo jeder einzelne der Jungen und Mädchen vor acht Jahren gestanden hatte, als Mutter sie mit einer Party zu ihrem sechzehnten Geburtstag überrascht hatte.
Victoria konnte sich sogar noch an ihre Mienen erinnern, als sie sich mit ihren grausamen Geschenken immer wieder über sie lustig gemacht hatten. Selbst Mutter wußte nicht, was wirklich geschehen war... nur sie wußte es. Und die anderen natürlich. Victoria holte tief Luft und atmete langsam aus. Nein, die geplante Party würde entschieden anders werden. Wieder sah sie sich das rotumrandete Gesicht an, das ausgeprägte Kinn und das lockige blonde Haar, und wieder preßten sich ihre Lippen auf die glänzende Oberfläche des Fotos.
Victoria griff erneut in die Tasche und zog eine zerschlissene Stoffpuppe hervor, die alle Geheimnisse ihrer Kindheit mit ihr geteilt hatte. Sie berührte die blauen Augen, deren Glas an einigen Stellen abgesplittert war, das schwarze Haar aus Garn und das winzige Loch in der Brust der Puppe und dachte daran, wie schön sie gewesen war, als sie noch Victoria Louise hieß. Doch das war schon sehr lange her. Jetzt war sie Victoria Louise, und Rosalie... Rosalie existierte nicht mehr.
Oder vielleicht doch?
»Bist du noch da, Rosalie?« fragte Victoria die Puppe, doch die Puppe gab keine Antwort.