Читать книгу Die Rache der Rosalie Salino - Gloria Murphy - Страница 4
KAPITEL 2
ОглавлениеHimmel, Rusty... bist du taub?« fragte Carol, als sie an der Schlafcouch vorbeirannte und den Hörer abnahm. Plötzlich klang ihre Stimme höflicher. »Hallo.« Sie wartete, sagte es noch einmal. Nichts. »Wer ist da?«
»Häng ein«, sagte Rusty, die tiefe Stimme durch das Kissen gedämpft.
»So sagen Sie doch etwas, bitte«, sagte Carol.
Immer noch nichts.
»Ich kann Sie nicht hören.«
Rusty drehte sich auf den Rücken. »Häng doch einfach ein!«
Carol seufzte, hängte ein und sah ihren Bruder an, der noch nicht fähig war, etwas wahrzunehmen. »Da war jemand am Telefon, doch die Verbindung scheint gestört zu sein.«
Schweigen.
»Vielleicht war es etwas Wichtiges. Ich hätte länger warten sollen.«
»Warum?«
»Um zu wissen, wer dran ist, natürlich.«
Schweigen, dann: »Wie spät ist es, Carol?«
Carol sah durch die Tür auf die Küchenuhr. »Schon fast fünf vor neun.« Sie ging zum Wohnzimmerfenster und zog die Vorhänge beiseite. »Sonnig, klar und kalt. Ein wunderbarer Tag.«
»Woher willst du wissen, daß es kalt ist?«
Eine Strähne von Carols honigblondem Haar fiel ihr ins Gesicht, und sie schob sie zur Seite. »Nur so eine Vermutung.
Mr. Lymans Designer-Jeans hängen auf der Leine, und sie sehen aus, als steckte er noch drinnen.«
Rusty schwang seine Beine über die Bettkante, setzte sich gähnend hin, die Arme auf den Knien abgestützt. »Samstag... Da hab’ ich mal die Möglichkeit auszuschlafen, und da kommt so ein Trottel daher und macht Telefonterror.«
Carol hob Rustys leere Bierdose auf und warf sie in den Abfalleimer in der Küche. »Das ist doch seltsam, oder? Warum ruft jemand immer wieder an –«
Sie hielt inne, und Rusty sah sie an. »Das ist schon mal passiert? Warum hast du nichts gesagt?«
Carol zuckte mit den Schultern. »Es war nicht so wichtig. Und außerdem, ich kenne dich doch. Du bist wie Vater, liest irgend etwas Verrücktes in der Zeitung und denkst sofort, das bin ich, und dann drehst du durch und übertreibst alles.«
Rusty stand auf. »Was waren das für Anrufe?«
»So wie diese zwei. Man meint, es ist jemand dran, aber entweder sagt er nichts, oder was er sagt, ist nicht zu verstehen.«
»Und was machst du... hältst du einen Monolog?«
»Ja, ganz genau.« Sie stemmte die Hände in die Hüften. »Was glaubst du wohl, was ich mache? Ich hänge natürlich ein.«
»Ja, natürlich. Hör mal, Carol, ich weiß, daß es dir schwerfällt, einfach einzuhängen, aber falls das noch einmal passiert, dann hängst du wirklich sofort ein. Man muß diesen Typen nicht noch ermutigen, wer immer das auch ist.«
Carol hatte ein schmutziges Handtuch aufgehoben und war auf dem Weg zum Wäschekorb im Badezimmer. Sie blieb stehen und drehte sich um. »Wie kommst du auf die Idee, daß es ein ›er‹ sein könnte?«
»Habe ich das gesagt?«
»Ja, das hast du.«
»Also von mir aus. Aber was soll das – wirfst du mir sexuelle Diskriminierung vor?«
»Nun, du hast manchmal chauvinistische Tendenzen.« Sie packte die Ecke des nassen Handtuchs, das sie in der Hand hielt, und schlug damit nach ihm.
Rusty hob die Hände, um einen weiteren Schlag abzuwehren. »Hör doch auf damit.«
Carol zog die fast farblosen Augenbrauen über den grünen Augen in die Höhe. »Was ist los? Verträgst du nichts mehr?«
Rusty schnellte nach vorne und entwand seiner Schwester das Handtuch. »Das ist nicht fair!« kreischte sie, sprang zur Seite und hob ein Kissen vom Boden auf. Sie warf es – das Kissen streifte seinen Kopf und landete dann auf der Küchentheke, wo es eine halbleere Pepsi-Dose umwarf. Die braune Flüssigkeit ergoß sich über das Linoleum.
Rusty griff nach der Dose. »Scheiße.«
»Aber, aber, Rusty, wer wird denn fluchen.« Sie rückte langsam von ihm weg... dann rannte sie los. Rusty hinter ihr her, der mit dem Handtuch nach ihr schlug. Sie erreichte das Badezimmer, rannte hinein und knallte ihm die Tür vor der Nase zu. Die Verriegelung rastete ein.
Rusty war bereits wieder in der Küche, als das Telefon klingelte. Er drehte sich danach um. Wieder klingelte es. Die Badezimmertür öffnete sich mit einem Knarren, und Carol schaute heraus. »Und... willst du nicht rangehen?«
»Doch, natürlich.« Er ging zum Telefon und nahm den Hörer ab. »Hallo.« Es war lauter als nötig.
»Mr. Erlich?«
»Ja, am Apparat.«
»Sind Sie der Mr. Erlich, der Schreinerarbeiten und Umbauten macht?«
»Genau. Mit wem spreche ich bitte?«
»Oh, Sie kennen mich nicht. Ich habe Ihren Namen aus dem Branchenbuch. Mein Name ist Victoria. Victoria Louise.«
Die Pfannkuchen, die Carol gemacht hatte, schmeckten hervorragend – so wie die von Mutter. Leider hatte Rusty zu viele davon gegessen, genauso wie bei Mutter. Er steckte den Schlüssel in die Zündung seines Chevy-Kleinlasters, drehte ihn herum, und der Wagen erwachte stotternd zum Leben... dank der vierhundert Dollar, die er eben erst für Reparaturen ausgegeben hatte. Er verschränkte die Finger und hoffte, der Wagen würde noch ein weiteres Jahr aushalten, Zeit genug, um in seinem Geschäft Fuß gefaßt zu haben.
Er legte den Rückwärtsgang ein, fuhr langsam an – es hatte keinen Sinn, das Getriebe schon in der Auffahrt zu Schrott zu fahren – und warf dann einen Blick zurück auf das dreistöckige Haus, wobei seine Augen auf das Küchenfenster seiner Wohnung im ersten Stock gerichtet waren. Carol stand dort in ihrem kurzen Flanellnachthemd – die langen Beine nackt – und stapelte das Frühstücksgeschirr im Spülbecken. Sie war groß und schlank und ähnelte immer weniger dem kleinen Wildfang, den er in ihrer Kindheit gnadenlos geärgert hatte. Ihre langen blonden Haare, die sie normalerweise zu einem dicken Zopf geflochten trug, fielen offen über ihren Rücken. Er schnaubte – er würde auf seinem Weg nach Hause ein paar billige Vorhänge für die Fenster kaufen. Über so etwas hatte er sich vor September keine Gedanken machen müssen, bis die Erkrankung seines Vaters seine Eltern gezwungen hatte, in ein trockeneres Klima umzuziehen, und er ganz allein auf eine Sechzehnjährige aufpassen mußte.
Er lächelte. Eigentlich war er froh, daß Carol darauf bestanden hatte, bei ihm zu bleiben und ihr letztes Schuljahr hier zu Ende zu bringen. Es hatte ihm nicht viel ausgemacht, daß seine Eltern beschlossen hatten wegzuziehen – mit Mutter war er ganz gut ausgekommen, aber zwischen ihm und seinem Vater hatte es immer Streitereien gegeben. Doch wenn seine kleine Schwester sich entschieden hätte, mit ihnen zu gehen, dann hätte er sie wirklich sehr vermißt.
Aber – und da war es, das große Aber – er machte sich über seine Verantwortung Gedanken, und das anfängliche Zögern seines Vaters, ihm Carols Wohlergehen anzuvertrauen, verbesserte die Sache nicht. Nicht, daß man Rusty extra an die Schwierigkeiten hätte erinnern müssen, in die High-School-Schüler geraten konnten. Es war noch nicht so lange her, daß er selbst auf der High-School gewesen war. Aber manchmal tauchten Probleme auf, selbst wenn man sehr gut aufpaßte.
Rusty dachte an seine eigenen Jahre auf der High-School zurück – keine Drogen, aber sehr viel Alkohol und viele Parties. Doch im Vergleich mit den meisten anderen hätten ihn seine Kumpane von damals wohl noch als harmlos bezeichnet, überlegte er. Alle hatten die Zeit gut überstanden. Nur einmal hatte es im Suff einen Unfall gegeben – sie hatten zu acht im Wagen gesessen, einer davon war er gewesen. Zum Glück hatte es keine schlimmeren Blessuren als Verstauchungen und blaue Flecken gegeben.
Er dachte wieder an die Telefonanrufe, als er seinen Lieferwagen auf den Parkplatz von Line Lumber, der Holzfachhandlung, fuhr. War es nur irgendein Freund von Carol, der ihr einen Streich spielen wollte oder war es... ja, was? Ganz offensichtlich nahm er die Sache zu ernst.
Rae Lemkin hatte bereits den ganzen Morgen im Laden mit Einkäufen verbracht und betrachtete nun prüfend ihren Einkaufswagen. Sie liebte die Dinge, die man selbst zusammenbasteln konnte, und sie verbrachte Stunden damit, sich in der Eisenwarenabteilung umzusehen. Aber heute hatte sie sich nicht nur umgesehen. Neben die sechs Regalträger, derentwegen sie eigentlich zu Line Lumber gekommen war, hatte sie drei fast eineinhalb Meter lange Kiefernholzbretter gestapelt – perfekte Bücherregale für ihre neue Wohnung –, dazu eine Dose mit Holzbeize, Winkeleisen, ein paar weiße Lichtschalter, die zu ihren frischgestrichenen Wänden passen würden, und einen Stereoschrank zum Selberbauen, der, der Abbildung auf der Verpackung nach zu schließen, für sechsundzwanzig Dollar ein wahrer Gelegenheitskauf sein mußte.
Nachdem sie sich entschlossen hatte, sich in Unkosten zu stürzen und alles zu kaufen, schob sie den Wagen den Mittelgang hinunter auf die Kasse zu. »Passen Sie doch auf!« rief Rusty genau in dem Moment, als sich die Winkeleisen in seine Beine bohrten.
Rae sprang an die Seite des Wagens. »Oh, es tut mir leid, ich hatte nicht die Absicht... Habe ich Sie verletzt?«
Rusty rieb sich die Beine und schüttelte den Kopf. »Mist. Haben Sie schon mal daran gedacht, die Bretter so zu stapeln, daß Sie noch sehen können, wohin Sie gehen?«
Rae lief rot an, und sofort traten die wenigen Sommersprossen auf ihrer Nase hervor. Sie schob die Kiefernholzbretter auf die eine Seite des Wagens. »Es tut mir leid... Habe ich Ihnen wirklich nicht weh getan?«
Rusty richtete sich auf, und seine Stimme klang schon weniger scharf. »Ich nehme an, ich werde es überleben.«
»Gut. Würden Sie mich dann bitte durchlassen?«
Rusty trat zögernd zur Seite. »He, warten Sie eine Minute. Es gibt keinen Grund, unfreundlich zu werden. Ich bin schließlich derjenige, der fast überrannt worden ist, stimmt’s?«
»Und ich habe mich entschuldigt.«
Rusty zuckte mit den Achseln. »Ja, das haben Sie.«
Schweigen.
Er beugte den Kopf zur Seite, blinzelte und musterte sie: kräftiges, rotes Haar war nach hinten gekämmt und achtlos mit einer dunkelroten Klammer auf dem Hinterkopf festgesteckt. Sie hatte die helle Haut der Rothaarigen, sogar einige wenige Sommersprossen auf dem rechten Fleck, aber es war die Farbe der Augen, die ihn überraschte... braun wie Haselnüsse. »Ich kenne dich doch«, sagte er.
»Das glaube ich nicht.«
»Nein, wirklich, ich bin sicher, daß ich dich schon einmal gesehen habe. Ich bin Rusty Erlich.«
Sie nickte. »Ich glaube, wir kennen uns tatsächlich.« Dann: »Ich bin Rae Lemkin, du warst auf der High-School mit meinem Cousin, Bobby Cole, befreundet.«
Rusty lächelte. »Jetzt fällt es mir wieder ein. Ich habe dich nur ein- oder zweimal getroffen.«
Schweigen, dann: »Wo ist Bobby denn zur Zeit? Ich habe ihn schon länger nicht mehr gesehen. Normalerweise treffe ich ihn während der Woche... zum Abendessen oder so.«
Rae zuckte mit den Schultern. »Das weiß ich selbst nicht. Seit ich umgezogen bin, versuche ich auch, ihn zu erreichen.«
»Also, wenn du ihn erreichst, sag ihm, daß er mich anrufen soll. Ich habe vielleicht einen Job für ihn. Ein paar Leute wollen Bilder von ihrem Haus. Nichts Besonderes natürlich, aber es bringt Geld.«
»Hast du die tolle Neuigkeit schon gehört? Ein Bild von Bobby ist bei Raneers angenommen worden. Es soll die beste Galerie in Boston sein.«
»Du meinst seinen Marathonläufer. Ja, ich habe davon gehört.« Dann: »Was machst du denn jetzt? Du hast doch mal bei Bobbys Familie gewohnt, bist hier sogar zur Schule gegangen, richtig?«
»Ich bin 1981 nach Bradley gekommen, im Abschlußjahr.«
»Warum habe ich dich dann nie gesehen?«
»Wahrscheinlich waren wir mit verschiedenen Leuten befreundet.«
Er sah sie einen Moment an und betrachtete dann den Wagen. »Renovierst du?«
»Ich richte mir gerade eine Wohnung ein. War ’ne Zeitlang weg.«
»Aha... wo warst du denn?«
»In der Schule, dann einige Zeit als Krankenschwester am Beth-Israel-Krankenhaus in Boston. Nach dem Ausbau des Valley-Krankenhauses und bei dem Mangel an Krankenschwestern beschloß ich, nach Bradley zurückzukommen. Außerdem habe ich meine Familie vermißt.«
Er strich mit der Hand über die Pappschachtel im Wagen.
»Wer wird dieses Schränkchen zusammenbauen?«
»Ich.«
»Das ist gar nicht so einfach, wie es aussieht, mußt du wissen.«
»Ich weiß schon, daß du nicht viel von meinen Fähigkeiten als Fahrerin eines Einkaufswagens hältst, aber ich kann ganz gut mit Schraubenzieher und Hammer umgehen.«
»Nun, wenn du nicht mehr weiter weißt –«
»Mach dir mal keine Sorgen«, unterbrach sie ihn, »das wird nicht passieren.«
Rae beobachtete Rusty, wie er die Abteilung mit den Nägeln ansteuerte. In Wahrheit hatte sie vom ersten Augenblick an gewußt, wer er war. Warum hatte sie es denn nicht einfach gesagt? Es sah ihr gar nicht ähnlich... Typisch dagegen für sie war ihr Unabhängigkeitsstreben, das ganz plötzlich und aus heiterem Himmel auflodern konnte. Er wollte ihr seine Hilfe anbieten, und sie wies ihn einfach zurück. Sie hatte nicht so abweisend sein wollen – schließlich war er ein Freund von Bobby. Aber sie wußte, wie man ein einfaches Schränkchen zusammenbaute. Sie mußte lächeln: sie war nicht umsonst durch die Hölle gegangen, die es bedeutete, das einzige Mädchen im Werkunterricht an der High-School gewesen zu sein.
Sie zog ihre Brieftasche hervor und hoffte, daß sie genügend Bargeld dabeihatte. Wenn nicht, konnte sie immer noch mit ihrer Kreditkarte bezahlen, aber sie haßte es, diese Dinger zu benutzen. Sie blätterte ein paar Fotos durch, die in Plastikfolie steckten, und hielt einen Augenblick lang bei einem neuen Bild ihres Cousins inne. Bobbys zurückweichender Haaransatz wurde immer auffallender. Ihr fiel wieder ein, daß sie ihn nicht erreichen konnte. Sie hatte vor dem Umzug mehrere Male mit ihm gesprochen – er hatte sogar die Wohnung für sie gefunden. Es war tatsächlich seltsam, daß er inzwischen noch nicht bei ihr vorbeigekommen war oder sie angerufen hatte.
Nun, sobald sie zu Hause sein würde, würde sie versuchen, Tante Sara zu erreichen, um herauszufinden, wo Bobby sich verkrochen hatte.