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KAPITEL 3

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Agnes Mills war auf sehr deutliche Weise klargemacht worden, daß ihre Zeit vorüber war. Nachdem sie fünfundzwanzig Jahre unter demselben Dach gelebt hatte, hatte man ihr ihr Zuhause, das einzige, was von ihrer Vergangenheit noch übrig war, weggenommen. Agnes Mills wollte nicht glauben, daß so etwas geschehen konnte – die Salinos hatten sie darauf nie vorbereitet; im Gegenteil, sie hatten sogar versprochen, daß Rosalie sie nie auf die Straße setzen würde. Und obwohl sie wußte, wie egoistisch... und ja, auch unverschämt das Mädchen manchmal sein konnte, hatte Agnes ihnen geglaubt.

In der vergangenen Woche hatte sie auf der Suche nach einer Wohnung alle Anzeigen durchgesehen... nach Wohnungen, die sie sich leisten konnte. Natürlich, wäre da nicht der Scheck gewesen, den sie monatlich aus dem Salino-Treuhandvermögen erhielt – und der oft nicht einmal ausreichte, Strom und Gas zu bezahlen –, dann wäre nicht einmal das möglich gewesen. Aber wie die Dinge lagen, hatte sie eine kleine Anzahlung auf ein Ein-Zimmer-Appartement mit Kochnische leisten können, das in derselben Straße lag. Das Wissen beruhigte sie, wenigstens noch in der Nähe zu wohnen.

Doch bis sie umziehen würde, mußte Agnes Mills mit Victoria zurechtkommen, und wenn sie ehrlich sein sollte, die junge Frau verwirrte sie. Zweifellos war sie sehr schön, auf besondere Weise sogar bezaubernd, doch es war etwas Seltsames an ihr. Was Agnes beunruhigend fand. Es war nicht das, was sie sagte; es war vielmehr der Klang ihrer Stimme oder der Ausdruck in ihren Augen. Zum Beispiel die Art, wie sie diesen Künstler angesehen hatte, den sie für ein Porträt von sich bestellt hatte. Victoria hatte Agnes Mills aus dem Zimmer geschickt, als er gekommen war, doch sie hatte genug gesehen... Manche hätten den Blick vielleicht einfach nur für verführerisch gehalten – aber nein, Agnes Mills erkannte eine verführerische Botschaft, wenn sie diese sah.

Was Agnes Mills am meisten verwirrte, war die Angewohnheit dieser Frau, sich so lange auf die Lippen zu beißen, bis diese manchmal sogar anschwollen und aufplatzten. Wenn Rosalie aufgeregt gewesen war, hatte sie dasselbe getan.

Mrs. Mills faltete ihren letzten Pullover zusammen und legte ihn über die Fotoalben in eine der Pappschachteln. Sie schaute sich im Zimmer um und betrachtete all die Fotos, die mit Reißzwecken an den Wänden befestigt waren. Die würde sie als nächstes einpacken, doch vorher würde sie nach unten gehen und sich eine Kanne Tee kochen. Zitronentee hatte immer eine beruhigende Wirkung auf sie. Sie warf noch einmal einen Blick auf das Zimmer und seufzte tief. Morgen würde es so sein, als hätte sie nie hier gelebt.

Victoria verriegelte die Tür des Schlafzimmers im zweiten Stock und öffnete dann den Schrank. Sie stieg über die Schachtel auf dem Boden, griff nach oben und holte die Puppe vom Regal... Es tat ihr leid, sie in einem dunklen, muffigen Schrank einzuschließen, aber sobald Mrs. Mills gegangen war, würde das nicht mehr nötig sein. Sie zog einen Stuhl zum Fenster, setzte sich und plazierte die Puppe so auf dem Fensterbrett, daß diese sie ansah...

Ihre Hände waren kalt... eiskalt. Nervosität, vermutete Victoria. Sie ergriff die fingerlose Hand der Puppe und setzte sich wieder in den Stuhl zurück. Sie konnte nicht glauben, daß es wirklich geschehen würde... Rusty kam hierher, um sie zu sehen – etwas, was zuvor nur in ihren Träumen geschehen war. Eine Zeitlang hatte es so ausgesehen, als könnte sie ihn niemals erreichen, da dieses Mädchen immer abgenommen hatte, doch schließlich hatte sie es geschafft.

Die Tatsache, daß er mit jemandem zusammenlebte, bereitete ihr natürlich Kummer... Aber es war nicht Elaine – diese Stimme hätte sie sofort erkannt. Doch Victoria mußte vernünftig sein. Sie konnte kaum erwarten, daß jemand, der so gut aussah wie Rusty, ein Eremitendasein führte, während sie weg war. Sie hatte sich bis jetzt noch nicht überlegt, wie sie das Mädchen loswerden könnte, doch sie war zuversichtlich, daß ihr etwas einfallen würde. Sie beugte sich nach vorne, drückte die Hand der Puppe und stellte sich dabei vor, daß ihre kleinen Finger um die ihren geschlungen waren. »Vertrau mir, Rosalie«, sagte sie zu der Puppe. »Rusty wird jetzt nicht mehr von uns fortgehen. Jetzt nicht mehr, nie mehr.«

Bradley erstreckte sich über fünfzehn Quadratmeilen, hatte zwanzigtausend Einwohner und grenzte an New Hampshire. Der Merrimack River floß genau durch die Stadtmitte und trennte Bradley von West Bradley, eine Gegend, deren Anwohner in einem Anfall von Snobismus diesen Teil für den besseren der beiden Stadtteile hielten. Obwohl Rusty im Westen lebte, so fand er doch die Seite jenseits der Brücke wesentlich interessanter. Größtenteils wegen der Architektur: da gab es Häuser im georgianischen Stil, im Stil der Kolonialzeit und einfache Farmgebäude, von denen einige aus dem frühen neunzehnten Jahrhundert stammten. Sicher, manche waren total heruntergekommen, aber es gab einen Trend, daß junge Paare aus der Stadt hierher zogen, für einen Spottpreis diese Bruchbuden aufkauften und sie dann selbst renovierten. Was hätte er nicht darum gegeben, auch in der Lage zu sein, zu kaufen, herzurichten und wieder verkaufen zu können.

Nach der High-School hatte Rusty ein paar Seminare bei den Geisteswissenschaftlern besucht, dazu ein gutes Dutzend Kurse in Architektur und Design an der Abenduniversität in Boston belegt, während er tagsüber eine Schreinerlehre absolvierte. Trotz des ständigen Drängens seines Vaters und trotz guter Zensuren hatte er sich dafür entschieden, keinen Collegeabschluß zu machen. Er brauchte keinen offiziellen »Wisch«, um bauen zu können, und obwohl diese Diskussion bei seinem Vater auf taube Ohren stieß, war Bauen genau das, was er bereits als Kind tun wollte. Letztes Jahr endlich war er sich seiner Fähigkeiten sicher genug gewesen, um sich selbständig zu machen. Und obwohl er noch keine größeren Aufträge an Land gezogen hatte, so konnte man auch nicht gerade sagen, daß er am Hungertuch nagte.

Er hielt den Transporter vor dem Haus Nummer siebzehn in der Valley Road an, stellte den Motor ab und betrachtete das baufällige Gebäude im Kolonialstil, das ungefähr fünfzehn Meter von der Straße zurückgesetzt in einem Garten lag. Er war sicher, hier schon einmal gewesen zu sein... aber er konnte sich nicht erinnern, wann. Er stieg aus dem Wagen und lehnte sich einen Moment dagegen, während sein Blick zu einem Fenster im zweiten Stock wanderte. Starrte ihn von dort oben jemand an? Er sah noch einmal hin und lächelte dann... Vielleicht sollte er sich mal die Augen untersuchen lassen... Bei näherem Hinsehen stellte sich heraus, daß es eine Stoffpuppe war, die auf dem Fensterbrett saß.

Eine Dame mit klaren blauen Augen in einem traurig wirkenden Gesicht öffnete ihm die Tür. Kam sie ihm auch bekannt vor?

»Bitte?« fragte die Dame laut, als wäre es nicht das erste Mal, daß sie das fragte.

»Entschuldigen Sie, Ma’am. Ich bin Rusty Erlich, ich bin mit Victoria Louise verabredet.«

Sie öffnete die Tür ganz. »Wollen Sie nicht hereinkommen?« Er trat in die Eingangshalle. In einem Alkoven an einer Wand gegenüber hing ein beeindruckender Spiegel mit verschnörkeltem Rahmen, und darunter verlief eine Bank über die gesamte Breite der Wand. Er betrachtete die kunstvolle Schnitzerei, die sich oben an den Wänden entlangzog. Die Zierleisten, die Türen... alles glänzte in weißem Lack. Zweifellos verbarg sich darunter solides Kiefernholz. Es wunderte ihn immer wieder: Warum ruinierte man die Schönheit natürlichen Holzes, indem man einen Kübel Farbe darüberkippte?

Er bemerkte kaum, daß sich die Frau abgewandt hatte, aber jetzt ging sie wieder die Treppe hinunter, und eine junge Frau kam auf ihn zu, um ihn zu begrüßen. Sie sah gut aus... glattes, schwarzes Haar, das gerade bis auf die Schultern fiel, schwang leicht um ihren Kopf. Ihre geheimnisvollen, wie in Stein gemeißelten Gesichtszüge, die fast zu perfekt waren, wurden von herrlichen, weit auseinanderstehenden Augen gemildert. Grau? Sie kam näher auf ihn zu. Nein, nicht grau... blau.

Sie streckte ihm die Hand entgegen und sah ihm in die Augen. »Mr. Erlich, ich bin Victoria Louise.« Lange dunkle Wimpern senkten sich und hoben sich wieder.

»Rusty genügt.« Er ließ seine Hand wieder sinken, sah sich in der Halle um und blickte sie wieder an. »Wissen Sie, es ist seltsam, ich kenne dieses Haus, aber ich weiß nicht mehr, wann ich hier gewesen bin.«

»Tatsächlich? Sind Sie in dieser Gegend aufgewachsen?«

»Auf der anderen Seite der Brücke... Ich schließe daraus, daß Sie nicht von hier sind. Sie wären mir sonst bestimmt aufgefallen.«

»O nein, ich bin aus New York.« Sie lächelte. »Das heißt, ich war aus New York.«

»Wie hat es Sie hierher verschlagen? Nicht, daß es mich etwas angehen würde.«

»Nein, das ist schon in Ordnung, es macht mir nichts aus, wenn Sie fragen. Es ist einfach so passiert. Ich war vor ein paar Jahren im Sommer in New England zu Besuch und habe mich in die Gegend verliebt. Und was Bradley betrifft... vermutlich hat mich das Haus hier angezogen. Ich entdeckte die Annonce im BOSTON GLOBE, und dann sah ich es selbst...« Sie zuckte mit den Achseln. »Alte Häuser haben so etwas an sich.«

»Ich habe selbst eine große Schwäche für sie.«

»Glauben Sie nicht auch, daß sie Charakter haben... Persönlichkeit? Ich weiß, das klingt etwas verrückt, aber –« Sie hielt inne.

»Sprechen Sie doch weiter, was wollten Sie sagen?«

»Nun, ich glaube eben, daß alte Häuser ihre eigenen Erinnerungen haben. Alles, was sie im Laufe der Jahre gesehen und gehört haben, wird registriert und irgendwo gespeichert, und das alles wird Teil der Persönlichkeit des Hauses. Und im Gegenzug nimmt jeder Mensch, der neu einzieht, etwas von dem Haus an und tritt so mit den Menschen in Verbindung, die vor ihm darin gelebt haben.«

Rusty verschränkte die Arme vor seiner breiten Brust, beugte den Kopf zu ihr und nickte. »Ich weiß nicht so recht, das klingt mir etwas weit hergeholt. Aber vielleicht haben Sie recht.«

Victoria lächelte gewinnend. »Ich sehe schon, Sie sagen das nur so.«

»Nein, nein, überhaupt nicht.« Es herrschte kurzes Schweigen... »Aus Ihrem Telefonanruf schließe ich, daß Sie große Pläne mit dem Haus haben. Warum führen Sie mich nicht herum, ich werde mir Notizen von Ihren Wünschen machen und Ihnen dann Kostenvoranschläge ausarbeiten. Was halten Sie davon?« Er ließ die Arme wieder sinken und holte Block und Kugelschreiber aus der Brusttasche seines Hemdes.

Victoria sah ihn immer noch an, und ihre Augen blitzten verführerisch. »Hervorragend. Das klingt hervorragend. Ich hatte wirklich eine glückliche Hand, als ich heute morgen das Branchenbuch aufschlug.«

Herr im Himmel... sein Gesicht fühlte sich ganz heiß an. Wurde er rot? Das war ihm nicht mehr passiert, seit er ganze zwölf Jahre alt gewesen war.

Mrs. Mills hielt sich diskret im Hintergrund, doch von ihrem Platz am Eßzimmertisch aus, wo sie ihren Tee trank, konnte sie hören, was Victoria und der junge Mann sprachen. Er sah gut aus, war groß und muskulös, hatte goldblonde Strähnen im Haar und dichte Augenbrauen. Er sah aus, als verbrachte er viel Zeit draußen an der frischen Luft. Und so freundliche grüne Augen... Die Art von Augen, denen man vom ersten Augenblick an vertraute.

»Mrs. Mills.«

Die Frau sah zu Victoria auf. Der junge Mann stand hinter ihr. »Ja?«

»Ich dachte, Sie hätten noch etwas einzupacken?«

»Oh, das meiste ist schon getan. Es fehlen nur noch die Fotos.«

»Dann sollten Sie sich vielleicht darum kümmern. Ich möchte nicht, daß Sie etwas vergessen.« Victoria beugte sich über den Tisch, legte ihre Hand auf die der Frau und übte einen kaum wahrnehmbaren Druck mit ihrem knochigen Handgelenk aus.

Mrs. Mills stand hastig auf und schlüpfte an den beiden vorbei, die Augen zu Boden gerichtet. Mit ihrer leicht schmerzenden Hand packte sie das Treppengeländer und begann den langen Aufstieg zu ihrem Schlafzimmer im dritten Stock.

Wenn Agnes Mills noch irgendwelche Zweifel gehabt haben sollte, jetzt gab es keine mehr: schöne Worte hin oder her... die Absichten des Mädchens waren alles andere als ehrenhaft. Und wieder tauchte die Frage auf, die so wenig Sinn zu ergeben schien, sie aber von dem Augenblick an, als das Mädchen zur Tür hereingekommen war, gequält hatte: wer war Victoria Louise, wo kam sie wirklich her und warum hatte sie das Haus an der Valley Street Nummer siebzehn gekauft?

Als sie endlich zur Fassade gekommen waren, hatte Rusty bereits zwei Seiten voller Reparaturmaßnahmen aufgeschrieben. Die Bausubstanz, entschied er, war in Ordnung, nur im Keller mußte ein Stützpfeiler eingezogen werden, um dem schiefen Wohnzimmerboden Halt zu geben. Es gab ein paar Dutzend Stellen, wo vom Holzschwamm befallene Bodenbretter auszuwechseln waren. Dann noch eine Handvoll Kleinigkeiten: Löcher mußten vergipst werden; ein paar Dutzend Fenster, Türen und Türknäufe mußten repariert oder ersetzt werden; drei Stufen im Treppenhaus mußten erneuert und Spindeln ausgetauscht werden. Zusätzlich würden alle Zierleisten im ersten und zweiten Stock wieder in ihren ursprünglichen Zustand versetzt werden, ebenso der eingebaute Geschirrschrank im Eßzimmer.

»Nun... was halten Sie davon?« fragte sie, nachdem sie mit ihm im Hof herumgegangen war. Sie verschränkte die Arme vor der Brust, als wollte sie sich selbst wärmen.

»Ich glaube, Sie sollten besser eine Jacke anziehen, bevor Sie sich noch erkälten.«

Sie lächelte. »Sie wissen schon, was ich meine, die Außenseite des Hauses.«

Er sah wieder zu den Schindeln hoch, »Also, von hier aus sieht es so aus, als brauchten Sie ein neues Dach. Ich würde vorschlagen, wir verschieben das, zusammen mit dem Außenanstrich, bis zum Frühjahr.«

Sie nickte.

»Da sind auch noch ein paar verrottete Bretter, die ersetzt werden müssen. Die Dachrinnen... die schmiedeeisernen Geländer... die angeschlagenen Zementstufen.« Er deutete mit seinem Block auf die Veranda vor dem Haus, von der aus zwei dicke, runde Säulen den Balkon darüber abstützten. »Die Säulen und Stufen müßte man reparieren, und das Geländer muß erneuert werden. Dann bekommt der Balkon mehr Stütze.«

»Ist das alles?«

Rusty schüttelte den Kopf und klemmte sich den Kugelschreiber hinters Ohr. »Ich muß schon sagen, Sie sind wirklich nicht leicht abzuschrecken.«

Victoria starrte ihn an. »O nein. Ich habe das alles hier seit langem geplant.«

Rusty riß sich von ihren Augen los und räusperte sich. »Nun, bevor Sie irgend etwas entscheiden, sollte ich Ihnen vielleicht besser das gesamte Material auflisten, die Preise berechnen und meine Arbeitszeit kalkulieren. Ich bringe Ihnen dann am Montag die exakten Zahlen. Ich werde mich auch mit einem Elektriker, den ich kenne, in Verbindung setzen, Sammy Regis, und er soll sich den Schaltkasten und die Leitungen ansehen.«

Er wollte gerade gehen, aber sie packte ihn am Arm und hielt ihn auf. »Nein, bleiben Sie, Sie können nicht gehen. Jetzt noch nicht. Sie haben unser wichtigstes Projekt noch nicht gesehen – das Spielzimmer.«

Auf dem Weg die Treppe hinunter bemerkte er einen Schlagstock, der an einem Nagel an der Wand hing. Unten angekommen, blieb er stehen. Auf der linken Seite, noch einige Stufen weiter unten, lag ein Kellergewölbe, das Rusty für einen Vorratsraum hielt.

»Das ist ein Weinkeller«, erklärte Victoria. »Offensichtlich hat einer der Vorbesitzer seinen eigenen Wein hergestellt und hier aufbewahrt.«

»Interessant. Hat man Ihnen ein paar Kostproben hinterlassen?«

»Nein, natürlich nicht... Ich werde meinen eigenen Vorrat anlegen müssen.«

Rusty trat durch eine Tür zu seiner Rechten, sah sich in dem dunklen, muffigen Keller um und bemerkte die eine Wand, die bereits mit Holz verkleidet war. Die Möbel sahen aus, als würden sie gleich zusammenbrechen. Plötzlich wandte er sich an Victoria. »Jetzt weiß ich es wieder. Natürlich war ich früher schon einmal in diesem Haus, und zwar genau hier unten. Ich kam als Teenager hierher zu einer Party.«

Ihre Augen nahmen wieder die rauchgraue Färbung an, die ihm beim ersten Mal aufgefallen war. »So... war es eine schöne Party?«

»Soweit ich mich erinnern kann, nicht besonders.«

»Aha, und warum nicht?«

Er dachte einen Moment lang darüber nach, dann preßten sich seine Lippen zu einer dünnen Linie zusammen. »Oh, Sie wissen doch, wie so etwas ist, manche Parties laufen eben und manche nicht.« Dann: »Was haben Sie mit diesem Raum vor?«

Sie sah sich um. »Also, zum einen möchte ich die beiden kleinen Fenster zumauern lassen.«

»Wieso? Sie werden dadurch kein Tageslicht mehr haben.«

»Soviel Licht kommt da nun auch wieder nicht herein. Außerdem gefallen sie mir nicht.«

Er zuckte mit den Achseln und notierte es auf seinem Block. »Wir können sie mit Zement auffüllen und dann mit Platten abdecken. Sonst noch etwas?«

»Ich möchte eine Bar mit vielen Regalen. Und ein Bad mit Duschkabine.«

»Weiter.«

»Ich möchte, daß der Raum absolut schalldicht wird.«

Er lächelte. »Klingt ja fast so, als wollten Sie hier wilde Feste feiern.«

Sie warf den Kopf zurück, und ihr dunkles Haar fiel auf ihren Rücken. »Das könnte man vielleicht sagen. In erster Linie will ich niemanden stören. In New York hatte ich fast immer das Gefühl, bei meinen Nachbarn in der Wohnung zu leben. Und ich bin sicher, ihnen ging es ebenso.«

»Darüber müssen Sie sich wirklich keine Sorgen machen, der Zement hier unten wird ein guter Lärmschutz sein. Die Nachbarn werden nicht einen Ton hören.«

»Gut. Und was ist mit oben?«

»Was soll damit sein?«

»Nun, wird man den Lärm oben auch hören können?«

»Was soll das schon ausmachen? Ich nehme doch an, Sie werden hier unten und viel zu beschäftigt sein, um darauf zu achten.«

»Ja, sicher, aber ich möchte es so: es soll absolut schalldicht werden. Wollen Sie damit sagen, daß das nicht möglich ist?«

Er schüttelte den Kopf. »Nein, nein, das meine ich nicht. Ich kann die Decken isolieren und zwischen die Träger der darüberliegenden Böden Lärmschutzmaterial einziehen. Dann kommen noch Dämmplatten darüber.«

»Und das wird dann jedes Geräusch schlucken?«

Er fuhr mit den Knöcheln seiner Hand über die Tür. »Ich werde auch diese Tür austauschen. Etwas Solideres einbauen. Das sollte dann genügen.«

»Was ist mit einem sicheren Schloß? Ich will von beiden Seiten mit einem Schlüssel absperren können.«

»Ein Schlüssel ist wirklich nicht nötig, besonders von innen« – doch als er ihren Blick sah – »wie Sie möchten. Wie haben Sie sich denn die Wände vorgestellt?«

»Nun, ich weiß nicht so recht. Was würden Sie denn vorschlagen?«

»Es gibt vieles, was Sie vielleicht gerne haben möchten. Es wäre mir lieber, Sie würden sich selbst etwas aussuchen. Schließlich sind Sie diejenige, die hier wohnen wird.«

»Aber ich möchte, daß Sie etwas aussuchen. Etwas, was Ihnen gefällt.«

Er starrte sie an, musterte sie. »Warum?« fragte er schließlich.

»Weil Sie sich mit Holz auskennen... wissen, wie es aussieht, wenn es verarbeitet ist.«

Rusty sah sich wieder in dem Raum um. »Nun, wenn ich entscheiden würde, dann würde ich mich nach dem Stil des Hauses richten. Eine Holzvertäfelung wäre schön.«

Sie nickte.

»Die Bretter werden zwei bis drei Zoll breit sein, mit kleinen Erhebungen in der Mitte, die wie Rippen aussehen. Wir könnten die Wände über den Dämmplatten bis zur halben Höhe täfeln und dann einen Handlauf – eine Art Zierleiste – ungefähr in dieser Höhe anbringen.« Er beugte sich vor und deutete die Stelle an. »Und darüber könnten wir tapezieren... vielleicht im Kolonialstil. Und Stuck an der Decke wäre vielleicht auch ganz schön.« Ihr keine Gelegenheit zu einer Antwort gebend, fuhr er fort: »Hören Sie mal, warum gehen Sie nicht selbst zum Holzhändler und sehen sich dort die Auswahl an. So könnten Sie ganz sicher sein –«

»Nein, nein, das wird nicht nötig sein. Was Sie da beschreiben, klingt wundervoll. Wirklich. Ich verlasse mich vollkommen auf Ihr Urteil.«

»Vielleicht sollten Sie das besser nicht. Mein Geschmack muß nicht der Ihre sein. Es ist schließlich Ihr Raum.«

Sie starrte ihn ein paar Sekunden an und erwiderte dann, ohne auf das einzugehen, was er eben gesagt hatte: »Erzählen Sie mir, wie das Mädchen war?«

»Welches Mädchen?«

»Das mit der Party.«

Rusty zögerte. »Habe ich gesagt, daß es ein Mädchen war?«

»Nein? Ich dachte, Sie hätten. Vielleicht nicht, ist möglich, daß ich es nur angenommen habe. Aber sind es nicht normalerweise Mädchen, die Parties geben?«

»Ich weiß nicht, ich habe nie darüber nachgedacht.«

»Nun, erzählen Sie mir von ihr.«

»Da gibt es nicht viel zu erzählen, sie war eben ein Mädchen aus der Schule. Ich weiß nicht einmal mehr ihren Namen. Warum interessiert Sie das so?«

»Das gehört alles zur Geschichte dieses Hauses. Wer weiß, vielleicht hat dieses Haus etwas von dem Mädchen angenommen.«

»Sie haben diese Theorie tatsächlich ernst gemeint...«

Victoria runzelte die Stirn. »Ich möchte nur etwas über die Vergangenheit des Hauses erfahren. Was ist daran so seltsam?«

»Nun, lassen Sie sich von mir beruhigen«, sagte Rusty. »Wenn Sie Angst vor einem Mörder haben sollten, der die Leute mit der Axt abschlachtete und unter diesem Dach lebte, dann vergessen Sie das. Soweit ich mich erinnere, war das Mädchen, von dem wir reden, ziemlich schüchtern, um nicht zu sagen, duckmäuserisch. Bestimmt keine Bedrohung.«

Sobald Victoria ihr Schlafzimmer betrat, griff sie nach dem Buch, das jetzt an der Schublade des Nachttisches lag. Sie schlug es auf und betrachtete das Foto, bis sie den dunklen Haarschopf fand, der das volle Gesicht von Sam Regis einrahmte.

Rusty hatte sich ganz freiwillig erboten, den Kontakt zu ihm herzustellen. Das würde ihr die Mühe ersparen... Wie wunderbar sich alles ergab.

Victoria holte die Puppe vom Regal und drückte sie an sich, als sie das Foto noch einmal betrachtete. Sie erinnerte sich gut an Sam, besonders an den Klang seines heiseren, grausamen Lachens, das einfach nicht aufhören wollte... »Selbst als du zu weinen angefangen hast, Rosalie«, sagte sie zu der Puppe.

Die Rache der Rosalie Salino

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