Читать книгу Die Rache der Rosalie Salino - Gloria Murphy - Страница 8
KAPITEL 6
ОглавлениеVictoria blätterte in dem schwarzen Buch, bis sie zu der Seite kam, über der Elaine Gray stand. Es war eine Seite, die sie sich oft angesehen hatte. Einige der Notizen waren durchgestrichen und durch neue Informationen ersetzt worden. Wie in einem Lebenslauf.
Die BRADLEY SUN hatte nur wenig mit der New York TIMES gemeinsam. Denn falls man wirklich an seriöser Berichterstattung interessiert war, hatte die Sun eigentlich gar nichts zu bieten. Aber das war auch nicht der Grund, warum Victoria in all diesen Jahren die Zeitung abonniert hatte – selbst während ihrer Zeit in New York. Die SUN war der Typ einer Wochenzeitung, die sich hauptsächlich auf Lokalnachrichten konzentrierte: wer im College angenommen worden war; welches neue Geschäft sich in der Stadt niedergelassen hatte; wer welchen Schönheitswettbewerb gewonnen hatte. Selten verging eine Woche, in der Victoria nicht zumindest eine interessante Information gefunden hätte, die sie über das Leben ihrer Klassenkameraden auf dem laufenden hielt.
Erst vor sechs Monaten hatte Elaine ihre eigene Boutique in einem Einkaufszentrum in Cranston eröffnet, das kaum fünf Meilen von Bradley entfernt, direkt hinter der Grenze zu New Hampshire lag. Elaine – zum bestgekleideten Mädchen und zur smartesten Partygängerin der Abschlußklasse gewählt – hatte an der Bradley High-School den Ton angegeben, was Mode und Unterhaltung betraf. Es überraschte Victoria also nicht, daß sie eine Boutique eröffnet hatte.
Victoria schloß das Buch und legte es in die Schublade des Nachttisches zurück. In New Hampshire waren die Läden am Sonntag geöffnet – heute wäre also ein guter Tag, um bei Lanees vorbeizusehen. Sie ging in die Dusche und drehte den Hahn auf. Das heiße Wasser schoß mit voller Kraft heraus, kaltes kam nur tröpfchenweise. Es ging doch nichts über eine heiße Dusche, um ungute Gefühle zu vertreiben. Nicht, daß sie oft solche Gefühle gehabt hätte – sie war stolz auf ihr positives Denken –, doch letzte Nacht, in der all diese Erinnerungen aufgewühlt worden waren, hatte es den Anschein gehabt, als sei sie wieder Rosalie...
Eine plötzlich Erkenntnis verbesserte ihre Laune. Heute zog Mrs. Mills endgültig aus. Sie durfte nicht vergessen, sich zu verabschieden.
Rusty hatte eben den Hörer aufgelegt, als Carol hereinkam. »Wen rufst du denn an?«
»Niemanden, den du kennst. Außerdem ist sie nicht da.« »Eine ›sie‹?«
Rusty ging zum Kühlschrank, holte Schinken, Zwiebeln, Tomaten, Zucchini, Käse, Eier und Butter heraus und legte alles auf die Küchentheke. »Was du hier siehst, ist der Anfang eines neuen Erlich-Super-Omelettes«, sagte er. »Möchtest du etwas davon? Wenn ja, dann sag’s mir gleich.«
»Die Zusammenstellung sieht reichlich üppig aus. Na, komm schon, Rusty, wen hast du angerufen?«
»Rae Lemkin. Bist du jetzt glücklich, daß du es weißt?«
»Hmm. Ich wußte nicht, daß es eine Frau in deinem Leben gibt. Als ich heute mit Daddy gesprochen habe, habe ich ihm genau das Gegenteil erzählt.«
Rusty nahm eine Schüssel und schlug drei Eier hinein. »Es gibt auch keine. Und wann hast du überhaupt mit Mammy und Daddy gesprochen?«
»Gestern. Wer ist Rae Lemkin und warum rufst du sie an?«
»Sie versucht, Bobby zu finden, er ist ihr Cousin. Okay? Was wollten denn Mammy und Daddy?«
»Nicht sehr viel. Daddy wollte wissen, ob du brav bist, oder ob du dich in Bars herumtreibst und solche Sachen eben.«
»Klingt ganz nach Daddy.«
»Sei nicht so empfindlich, Rusty.«
Rusty gab Schinken- und Käsewürfel und kleingeschnittenes Gemüse zu den Eiern und goß dann alles in eine eingefettete Bratpfanne. »Was wollte er denn sonst noch wissen?«
»Oh, wie dein Geschäft so läuft.«
»Was hast du ihm gesagt?«
»Daß es gutgeht. Ich bin eine gute Lügnerin.«
Rusty lächelte sie an. »Nun, wenn du eine gute Lügnerin bist, dann hast du ihn bestimmt auch davon überzeugt, daß du dich hier brav benimmst.«
Carol nickte. »Natürlich. Was soll er denn sonst denken.«
Franny kam in die Küche – mit ihren kurzen braunen Haaren, der fleischigen Nase und dem rundlichen, lächelnden Gesicht ähnelte sie Charlie Brown. »Hmm... was riecht hier denn so phantastisch?« fragte sie. »Der Duft hat mich aus meinem Tiefschlaf geweckt.«
Rusty sah erst zu Franny, dann auf sein Omelett. »Vergiß es, das hier ist schon weg. Im Kühlschrank sind noch Zutaten, wenn du dir eines machen willst.« Mit diesen Worten schaufelte er das Omelett auf einen Teller und trug es ins Wohnzimmer, wo er sich in einen Lehnstuhl setzte.
Carol rief aus der Küche seinen Namen: »Rusty, warum sucht Rae Lemkin nach Bobby?«
»Warum nicht?«
»Ich meine, warum kann sie ihn nicht finden... wird er vermißt?«
Schweigen, dann: »Carol, hast du eigentlich noch mehr von diesen seltsamen Anrufen bekommen?«
»Warum?«
»Ich wollte es nur wissen.«
»Ich verstehe nicht, warum das so –«
»Verdammt, Carol, das ist eine einfache Frage. Gib mir eine Antwort.«
»Nein, habe ich nicht. Gütiger Himmel – deswegen muß man doch nicht streiten.«
Eine Glocke läutete, als sich die Tür öffnete, und Elaine schaute auf, lächelte und ging dann zum Eingang des Ladens, um Victoria zu begrüßen. »Guten Morgen«, sagte sie.
Ohne auf Elaine zu achten, betrachtete Victoria die Schaufensterpuppe neben dem Eingang. »Hübsch«, meinte sie schließlich. »Obwohl ich glaube, daß Perlen besser als Straß zu dieser schwarzen Seide passen würden. Finden Sie nicht auch?«
Elaine stand da, und ihre Augen wanderten zwischen Victoria und der Schaufensterpuppe hin und her. Schließlich sagte sie: »Nun, ja. Da könnten Sie recht haben.« Dann: »Kann ich Ihnen helfen?«
»Ich hoffe doch. Ich suche etwas Besonderes, weiß aber noch nicht genau, was.«
»Für den Tag oder für abends?«
»Für den Abend. Etwas Elegantes, aber trotzdem lässig. Etwas, das auffällt, wenn Sie wissen, was ich meine.«
Elaine schüttelte ihre Locken, und ihr Lächeln wurde breiter. »Ich glaube, ich habe genau das Richtige.« Sie betrachtete Victoria einen Augenblick und schätzte sie ab. »Größe achtunddreißig, nehme ich an... richtig?«
Victoria hätte fast Größe vierundvierzig gesagt, konnte sich aber gerade noch beherrschen. Sie nickte.
»Kommen Sie, ich zeige es Ihnen.« Elaine führte Victoria zu einem Kleiderständer, fing an, Kleiderbügel hin- und herzuschieben, nahm dann einen Seidenoverall in lebhaftem Blau vom Bügel und hielt ihn hoch. »Sehen Sie ihn sich an, er ist eben erst eingetroffen. Die Farbe ist genau richtig für Sie, und er ist sehr schick.« Der Overall hatte lange, flatternde Ärmel, war in der Taille weit geschnitten, hatte aber einen passenden, gedrehten Gürtel, der das Oberteil von den weich fließenden Hosen trennte. »Für welche Gelegenheit soll es denn sein?«
»Ich gebe eine Party.«
»Oh, wie schön. Kommen Sie, probieren Sie ihn an, ich bin schon ganz neugierig, wie er an Ihnen aussieht. Ich habe ein Gespür dafür, die richtigen Sachen herauszusuchen... Sie wissen schon, die Schönheit einer Frau zu betonen. Natürlich ist das bei Ihnen einfach. Manche Frauen dagegen...« Sie stöhnte und warf einen Blick zur Decke. »Nun, Sie wissen schon, was ich sagen will.«
»Was Sie sagen wollen, ist doch, daß manche Leute gräßlich aussehen, was immer sie auch anziehen. Sie und ich dagegen, wir sind der Traum jedes Modeschöpfers.«
Elaine blieb der Mund offen. »Sie sind aber wirklich sehr direkt, nicht wahr? Ich weiß nicht, ob ich so weit gehen würde, aber es ist ein Problem, manche Frauen gut anzuziehen.« Mit einer Geste auf das Kleidungsstück meinte sie: »Kommen Sie, ziehen Sie es an.«
Es sah wirklich umwerfend aus – Elaine brach in Begeisterungsrufe aus. Schließlich zog Victoria sich wieder ihre alten Kleider an und trug den Overall zur Kasse. »Sie waren wirklich sehr hilfreich, er ist genau das Richtige.«
»Nun, das freut mich. Glauben Sie mir, Ihre Gäste werden die Augen nicht von Ihnen lassen können. Vor allem die Herren.«
»Glauben Sie wirklich?«
»Ganz bestimmt. Zahlen Sie bar oder mit Scheck?«
»Mit Scheck.« Victoria öffnete ihre Tasche und holte die paar Schecks heraus, die sie auf der Bank bekommen hatte. »Das Problem ist nur, ich bin erst vor kurzem in diese Gegend gezogen, und meine Schecks sind noch nicht mit meinem Namen versehen. Aber ich habe einen neuen Führerschein aus Massachusetts, um mich auszuweisen. Mit einem dieser schrecklichen Paßbilder natürlich.« Sie holte ihren Führerschein heraus und legte ihn auf den Ladentisch.
Elaine sah ihn sich an. »Gar nicht so übel, meines ist noch schlimmer. Bradley, hmm? Da komme ich her.« Dann: »Sie sagten, Sie wären erst dorthin umgezogen?«
Victoria nickte. »Aus New York.«
»Das ist aber eine Umstellung. Nun, wie gefällt es Ihnen denn, in der finstersten Provinz zu leben?«
»Eigentlich gefällt es mir ganz gut. Eine Stadt kann schon sehr aufregend sein, aber irgendwann wird es zuviel. Zuviel Dreck und Kriminalität in dem ganzen Glanz.«
»Das kann ich mir denken. Sagen Sie, haben Sie Familie hier?«
»Nein, und auch nicht viele Freunde. Oh, ein paar Leute habe ich schon kennengelernt, die meisten sind Nachbarn und Kollegen. Ich hoffe, daß diese Party, die ich geben will, die Sache etwas in Schwung bringen wird. Wenn es etwas gibt, was ich wirklich kann, dann ist es, eine gute Party zu geben.«
»Das klingt mir ganz so, als wären Sie genau das, was Bradley braucht. Jemand, der die Leute auf Trab bringt.«
»Wirklich?«
»Leute in Kleinstädten neigen dazu, Kleinstadtparties zu feiern. Stinklangweilig eben.«
Victoria lachte. »Wissen Sie, da kommt mir eine Idee.«
»Welche denn?«
»Warum sagen Sie mir nicht Ihren Namen?«
»Oh, selbstverständlich.« Sie streckte die Hand aus. »Entschuldigen Sie. Ich heiße Elaine Gray.«
»Ist schon in Ordnung. Hören Sie, Elaine Gray, wie würde Ihnen eine kleine Party gefallen? Sie sind genau der Typ, den ich mit Vergnügen auf meine Gästeliste setze.«
Mrs. Mills hatte jeden einzelnen der zwölf Kartons allein zur Straße geschleppt... und war genausooft hin und her gelaufen. Obwohl Victoria freundlich genug gewesen war, die Kartons für sie die Treppen hinunterzutragen, hatte sie sich aber nicht erboten, sie noch zu ihrer neuen Wohnung zu transportieren. Und Agnes Mills hatte zuviel Stolz, um sie zu bitten.
Sie hatte die Schlafzimmermöbel im Haus zurückgelassen; sie wollte sich nicht nachsagen lassen, sie hätte etwas genommen, was nicht ihr gehörte. Jetzt sah sie sich in dem winzigen Appartement um, in dem nicht mehr als ein Einzelbett, zwei Stehlampen, drei Stühle mit rotem Plastikbezug, ein resopalbezogener Tisch und eine Frisierkommode ohne Griffe standen. Es würde nicht leicht werden, sich an dieses neue Zuhause zu gewöhnen, nicht nach dem geräumigen, vertrauten Haus, das sie verlassen hatte.
Aber alles zu seiner Zeit. Sie schob den Karton mit den Fotos an die Wand, dann einen der Stühle. Sie nahm einige Fotos und Reißzwecken heraus, kletterte auf den Stuhl und hielt sich dabei mit einer Hand an der Wand fest, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren. Sobald die Fotos an der Wand hingen, würde es mehr nach einem Zuhause aussehen.
Rusty parkte den Lieferwagen vor dem dreistöckigen Gebäude. Bobby wohnte im obersten Stockwerk, in einem großen Mansardenzimmer, das ihm auch als Atelier diente. Er schaute die lange Straße entlang – zwei Wagen standen da, einer war ein Chevy, Baujahr 1979, Bobbys Wagen. Schnell stieg er die zwei Stockwerke hinauf und klopfte. Nichts.
»Bobby... ich bin es, Rusty«, rief er laut.
Immer noch nichts.
Er klopfte lauter. »Wenn du da bist, Bobby, mach doch auf.«
Schließlich ging er ein Stockwerk tiefer und klopfte dort an die Tür. Ein mageres Kind mit fettiger Haut und dunklen, leeren Augen öffnete. »Ja?«
»Ich suche den Hausmeister. Weißt du, wo ich ihn finden kann?«
»Papa!« rief das Kind.
Abgesehen von den Bartstoppeln und den gestreiften Hosenträgern, die seine schlotternden Jeans festhielten, war der Vater das genaue Ebenbild seines Sohnes. »Was ist los?« fragte er.
»Sind Sie der Hausmeister?«
Er nickte.
»Ich bin Russ Erlich, ein Freund von Bobby Cole.«
Der Mann verzog keine Miene.
»Sie wissen schon, der Mieter ganz oben. In dem Studio-Appartement.«
»Natürlich weiß ich das. Glauben Sie vielleicht, ich bin blöd und weiß nicht, wer hier wohnt?«
»Nun, ich suche ihn. Ein paar Freunde von ihm haben schon versucht, ihn zu erreichen.«
»Was wollen Sie dann von mir?«
»Also, mir ist aufgefallen, daß sein Wagen draußen steht, der 79er Chevy. Wenn sein Wagen hier ist, dann müßte er eigentlich auch da sein, denke ich.«
»Dann klopfen Sie doch an seiner Tür.«
»Das habe ich schon getan, und er gibt keine Antwort. Ich würde gern Ihren Universalschlüssel benutzen. Lassen Sie mich doch einen Blick in die Wohnung werfen.«
»Hören Sie mal, gehen Sie mir nicht auf die Nerven. Der Typ zahlt seine Miete, also stecke ich meine Nase auch nicht in seine Angelegenheiten. Kommen Sie ein anderes Mal wieder, vielleicht ist er dann zu Hause.« Er wollte die Tür wieder schließen, aber Rusty hielt sie fest und stieß sie wieder auf.
»Verstehen Sie, ich möchte Ihnen keinen Ärger machen, deswegen bin ich erst einmal alleine gekommen.«
Der Mann starrte ihn an.
»Das nächste Mal komme ich nicht alleine. Ich werde die Polizei mitbringen.«
»Was suchen Sie denn – Drogen?«
Rusty schüttelte den Kopf. »Ich will nur nachsehen, ob jemand da ist. Das ist alles, dann verschwinde ich wieder.«
Einen Moment lang zögerte der Mann, dann nahm er einen Schlüsselbund vom Haken neben der Tür und ging die Treppe voraus nach oben. Er steckte einen Schlüssel ins Schloß und sah dann Rusty an. »Ich will nicht, daß Sie etwas anfassen, verstanden?«
Rusty nickte.
Die Tür öffnete sich, der Hausmeister schaltete das Licht an, und beide sahen sich um: von Bobby keine Spur. Rustys Magenmuskeln, die sich verkrampft hatten, entspannten sich wieder. Er war nicht ganz sicher, was er eigentlich erwartet hatte... Anzeichen eines Kampfes, seinen bewußtlosen Freund auf dem Boden... Was immer er sich auch ausgemalt haben mochte, es war Gott sei Dank falsch gewesen.
»Okay, jetzt haben Sie’s gesehen«, sagte der Mann. »Jetzt gehen Sie.«
Rusty trat an den Schreibtisch neben den Fenstern, die nach vorne zur Straße zeigten. Das Telefon stand inmitten eines Stapels zerknitterter Blätter, die am Rand mit Männchen und Comicfiguren bekritzelt waren. Ein Blatt lag neben dem Stapel. Darauf stand: 22.10. ... Porträt.