Читать книгу Der Schoppenfetzer und die Weindorftoten - Günter Huth - Страница 10

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Wie immer hatten sich die Mitglieder des Stammtisches am ersten Tag des Weindorfes in der Weinlaube Zum Weintrödler verabredet. Dort pflegten sie die Festtage zu eröffnen, um dann irgendwann aufzubrechen und einen Rundschoppen, wie sie es nannten, durch möglichst viele Weinhütten zu beginnen. Zwischendurch stärkten sie sich mit den kulinarischen Spezialitäten, die hier auf den hungrigen Weingenießer warteten und jeden Geschmack zufriedenstellten.

Es war ein langer Tag gewesen und es hatte mehrerer Absichtserklärungen bedurft, ehe sich die Schoppenfetzer dann doch voneinander verabschiedeten und ein jeder, angereichert mit bestem Rebensaft, seinen heimischen Gefilden zustrebte.

„Össle, Össle, mach … mach mal lamsam … Ich muss jesst erst mal kurz Funken slagen …“ Erich Rottmann stand am Unteren Markt und versuchte mit nicht mehr ganz zielsicherer Flamme seine Pfeife zu entzünden. Irgendwie war der Pfeifenkopf heute deutlich kleiner als sonst und nur schwer zu treffen. „Stehen“ war allerdings für die Körperhaltung des Schoppenfetzers nicht ganz die richtige Bezeichnung. Der ehemalige Leiter der Mordkommission lehnte sich sicherheitshalber gegen den Obelisken des Marktbrunnens, der ihm eine gewisse „Standfestigkeit“ verlieh. Entsprechend der Tradition der Schoppenfetzer hatte sich Erich Rottmann am ersten Tag des Weindorfes nicht geschont und war bis an die Grenzen seiner bemerkenswerten Trinkfestigkeit gegangen.

Öchsle sah sein Herrchen mit schief gelegtem Kopf verständnisvoll an, dann setzte er sich geduldig neben ihn. Wenn sein Mensch so sprach und roch, würde es etwas dauern, bis sie die heimische Rosengasse erreichten.

Als die Bruyère endlich zufriedenstellend dampfte, stieß sich Rottmann von dem Brunnen ab und nahm leicht schwankend Fahrt in Richtung Langgasse auf. Dabei übersah er die Stufe, die vom Podest des Obelisken auf den Marktplatz zu überwinden war. Die Folge war, dass Rottmann mit Schwung einige Meter nach vorne sauste und Öchsle sich nur mit einem Seitensprung vor einer Kollision retten konnte. Mit einem lauten Kracher landete Rottmanns Allerwertester auf einer der verlassenen Bänke der nächsten Weinhütte.

Es ist ja keine neue Erkenntnis, dass gewisse Zustände das Kind im Mann zum Vorschein bringen. Erich Rottmann bildete da keine Ausnahme. Kichernd blieb der Exkommissar einen Moment sitzen. Öchsle, der ihm besorgt nachgelaufen war und nun den Kopf auf das Knie seines Herrn legte, erklärte er: „Siehste, Össle … alles reine Körperbeherrsung! Alles reine Körperbeherrsung!“ Wobei er mit seinem Pfeifenstil dozierend in der Luft herum wedelte. Für einen objektiven fränkischen Beobachter wäre klar gewesen, dass Rottmann dem Verlust der Muttersprache sehr nahe war.

Plötzlich sprang der Rüde auf, stellte die Knickohren auf und lauschte in Richtung Petrinihaus. Aus seiner Kehle löste sich ein verhaltenes Knurren.

„Jest sei doch nich gleich sauer“, nuschelte Rottmann, „ich komm ja son.“ Mit einem Ruck stemmte er sich von der Bank hoch. Doch Öchsle konzentrierte sich auf etwas anderes. Ein verdächtiges Geräusch hatte seinen Schutztrieb geweckt. Er stieß ein halblautes Bellen aus.

Jetzt wurde der ehemalige Kommissar trotz seiner Weinseligkeit stutzig. Er steckte die Pfeife in den Mund und versuchte seinerseits zu ergründen, was seinen Hund so nervös machte. Langsam bewegte er sich durch die linke Dorfgasse in Richtung Rathaus, wobei er die leeren Bänke in den verschiedenen Weinlauben musterte. Er war noch keinen Steinwurf weit gegangen, als er rechts von sich, in der parallelen Dorfgasse, eine huschende Bewegung wahrnahm. Öchsles Knurren steigerte sich und bekam einen höchst gefährlichen Unterton.

„Is ja gut, mein Kleiner“, brummelte Rottmann, der durch das plötzlich ausgeschüttete Adrenalin eine gewisse Ernüchterung erfahren hatte. Sein Polizisteninstinkt sagte ihm, dass hier etwas vorging, was das Tageslicht scheute. Womöglich irgendwelche weinfestfeindlichen Vandalen, die hier ihr zerstörerisches Werk vollbringen wollten?

Rottmann eilte durch die Bankreihen der nächsten Weinhütte, um die andere Dorfstraße einsehen zu können. Dass er sich dabei an der Kante einer Bank das Knie anschlug, löste bei ihm zwar einen Fluch aus, brachte ihn aber nicht von seinem Vorhaben ab. Öchsle hielt sich dicht an seinen Menschen und war bereit, falls nötig, sofort helfend einzugreifen.

Wahrscheinlich wäre der Exkommissar in nüchternem Zustand erheblich schneller gewesen. So konnte er, nachdem er die andere Gasse erreicht hatte, nur noch drei oder vier Gestalten erkennen, die sehr eilig in Richtung Oberer Markt davonhasteten. Rottmann kniff die Augen zusammen. Es schien so, als würde eine der Personen eine weiße Kopfbedeckung tragen, die in der Nacht auffällig leuchtete.

„Verdammt!“, knurrte Rottmann und zog ärgerlich an seiner Pfeife. Diese hatte aber zwischenzeitlich ihre Glut eingestellt und Rottmann musste nachfeuern. „Nichts zu machen, Öchsle“, stellte er fest, nachdem er den Tabak nachgestopft hatte, „sehen wir zu, dass wir endlich heimkommen.“

Rottmann nahm seine ursprüngliche Route wieder auf und tappte in Richtung Langgasse weiter. Im Vorübergehen warf er dem dunklen Klotz des Petrinibaues einen verächtlichen Blick zu. Plötzlich blieb er mit einem Ruck stehen und legte den Kopf in den Nacken, um besser sehen zu können. „Da fress einer einen Besen!“, stieß er hervor.

An der Fassade des Gebäudes hing ein riesiges weißes Transparent, das fast ein Viertel der gesamten Fläche einnahm. Rottmann kniff die Augen zusammen und las den Text:

Bürger von Würzburg!

Schützt eure Stadt vor dem architektonischen Niedergang! Schluss mit dem baulichen Ausverkauf unserer geliebten Stadt!

Die Wilden Alten

Der Exkommissar stieß ein sattes Lachen aus. „Ein wahres Wort“, rief er und winkte grüßend zum Transparent empor. „Endschlich mal einer mit Mumm!“ Von diesen Wilden Alten hatte er einmal in der Main-Postille gelesen. Schöpf-Kelle, der rasende Reporter des örtlichen Blattes, hatte damals eine Gruppe älterer Stadträte, die während einer Stadtratssitzung gegen einen Beschluss massiv auf die Barrikaden gegangen waren, so bezeichnet. Damals hatte man am Stammtisch darüber herzhaft gelacht. Jetzt sah er die huschenden Gestalten von gerade eben in einem anderen Licht. Zufrieden vor sich hin nickend lief Erich Rottmann weiter. Da würden morgen früh wahrscheinlich einige Menschen in der Stadt schlagartig schlechte Laune bekommen. Bei dieser Vorstellung begann er wieder zu kichern.

Nur wenige Meter weiter, kurz vor der Ecke des Gebäudes, blieb Öchsle plötzlich so abrupt stehen, dass Erich Rottmann, dessen Reflexe aus nachvollziehbaren Gründen nicht ganz auf ihrem optimalen Level waren, fast über ihn gestolpert wäre.

„Was …?“ Er wollte schon lospoltern, als der Rüde erneut erregt zu knurren begann. Rottmann schüttelte den Kopf. Was war denn nur heute Nacht in dieser Stadt los?

Dann bemerkte er die dunkle Gestalt, die regungslos vor einer der letzten Weinlauben mitten auf der Dorfgasse zu Füßen des Petrinihauses lag. Langsam bewegte sich der pensionierte Polizist auf den verkrümmt daliegenden Menschen zu. Sein Instinkt sagte ihm, dass es sich nicht um eine übrig gebliebene „Weinleiche“ handelte, die hier lediglich ihren Rausch ausschlief. Erich Rottmann hatte in seinem Berufsleben viele Leichen gesehen und wusste, wann er es mit einem Toten zu tun hatte. Aus der Nähe konnte er erkennen, dass es sich um einen Mann handelte. Er trug die schwarze Uniform des Sicherheitsdienstes, der in der Nacht das Weindorf bewachte.

Öchsle blieb immer wieder stehen und prüfte die nächtliche Brise. Auch für seine empfindliche Nase war längst klar, dass mit der Gestalt am Boden etwas nicht stimmte.

Der Mann lag auf dem Bauch, das Gesicht zur Seite gedreht. Seine starr blickenden Augen waren auf die Blutlache gerichtet, die sich kreisförmig um sein Gesicht ausgebreitet hatte. Rottmann war zu sehr Profi, um die Lage des Mannes zu verändern. Er kniete jedoch nieder und legte vorsichtig Zeige- und Mittelfinger an die Halsschlagader des Liegenden. Rottmann wollte sichergehen. Wie erwartet, konnte er keinen Herzschlag feststellen. Die Haut des Mannes war noch warm, der Tod konnte also noch nicht lange eingetreten sein.

Schwerfällig erhob er sich und kramte in seinen Taschen nach dem Mobiltelefon. Dies war eindeutig ein Fall für die Mordkommission. Erich Rottmann wählte kurzerhand die Privattelefonnummer von Florian Deichler, seinem engsten Mitarbeiter, als Rottmann noch Chef des Morddezernats war.

Es dauerte einige Zeit, ehe abgehoben wurde.

„Jaaah…“, kam es verschlafen aus dem Hörer. Es war unschwer zu erkennen, dass Rottmann den Kriminalbeamten mitten aus dem tiefsten Schlaf gerissen hatte.

Rottmann zuckte mit den Schultern, das war nun mal Berufsrisiko, dann meldete er sich und berichtete Deichler knapp von dem Leichenfund.

Der Kriminalbeamte fasste sich schnell. „Mann, Erich, ständig stolperst du über irgendwelche Leichen“, brummelte er verschlafen, dann ergänzte er: „Fass am Tatort nichts an, ich trommle die Kollegen zusammen. Bleib dort, bis wir eintreffen. Ich benötige eine Aussage von dir.“

Rottmann wollte schon lospoltern, weil Deichler ihm als alten Profi derartige Belehrungen erteilte. Schließlich hatte der Bursche als beruflicher Grünschnabel alles von ihm gelernt. Aber er sagte nichts. Erstens konnte er die momentane Gemütslage Deichlers gut nachempfinden – oft genug hatte auch er sich in einer solchen Situation befunden, und zweitens war für derartige Diskussionen jetzt weder die passende Zeit noch der richtige Ort.

„Alles klar“, gab Rottmann kurz zurück, dann unterbrach er die Verbindung. Der Exkommissar suchte sich einen Sitzplatz vor einer der Weinlauben und brachte seine Pfeife wieder in Gang. Öchsle schnüffelte währenddessen interessiert vor dem Eingang der Weinhütte am Boden herum. Rottmann schenkte ihm aber keine Beachtung. Jetzt, wo die Anspannung nachließ, spürte er bleierne Müdigkeit. Es war ein anstrengender Tag gewesen, der, so wie es aussah, leider noch lange nicht zu Ende war. Sein Kopf wurde schwer und er bettete ihn auf seinen Unterarm, der auf dem Tisch ruhte. Wenn er überlegte, hatte Deichler schon Recht: Ständig pflasterten Leichen seinen Weg. Er konnte sich schon lebhaft die Schlagzeilen vorstellen, wenn morgen die Presse von dem Toten Kenntnis bekam. Das war wahrhaftig kein gutes Omen für ein Fest, das eigentlich den Gaumengenüssen und der Lebensfreude gewidmet war. Kurz darauf war Rottmann eingeschlafen.

„Das haben wir gerne!“, riss ihn die Stimme von Florian Deichler aus dem Schlaf. „Zuerst die ganze Mordkommission rebellisch machen und dann selbst einpennen!“

Rottmann riss erschrocken seinen Kopf in die Höhe und musterte orientierungslos seine Umgebung. Die Erinnerung kam schlagartig wieder. „Dass ihr auch schon da seid!“, knurrte er, dann erhob er sich mühsam. Sein Arm war eingeschlafen und erwachte nun mit heftigem Prickeln wieder zum Leben. Der üble Geschmack im Mund war unbeschreiblich. Rottmann verzog das Gesicht und krächzte: „Habt ihr den Toten schon gefunden?“

„War ja nicht zu übersehen“, gab Deichler zurück und wies mit der Hand hinüber zu den Männern der Spurensicherung, die sich bereits im Licht eines aufgestellten Scheinwerfers an die Arbeit gemacht hatten.

Rottmann erkannte den Rechtsmediziner, der gerade den Toten untersuchte. Öchsle stand wachsam neben seinem Herrchen und beobachtete die Aktivitäten auf dem Platz.

„Komm, setz dich noch einmal hin“, forderte Deichler seinen ehemaligen Chef auf und ließ sich selbst auf der gegenüberstehenden Bank nieder. „Lass mal hören, was du zu berichten hast. Mich würde auch interessieren, was es mit diesem Transparent auf sich hat.“ Er wies zur Fassade des Petrinihauses hinauf. „Als ich heute das Weindorf besucht habe, hing es jedenfalls noch nicht da.“

Rottmann hatte das Transparent völlig vergessen. Er warf einen Blick hinauf, dann nickte er. „Stimmt! Ich habe da zufällig ein paar Beobachtungen gemacht, die darauf hindeuten, dass der Tote und das Transparent in einem Zusammenhang stehen könnten.“ Er sammelte kurz seine Gedanken, dann schilderte er seinem ehemaligen Mitarbeiter die Ereignisse dieser Nacht. Als er die weglaufenden Gestalten erwähnte, hob Deichler die Augenbrauen.

„Hast du irgendwelche Einzelheiten erkennen können? Konntest du wenigstens sehen, um wie viele Personen es sich handelte?“

Rottmann zuckte mit den Schultern. „Ich bin zwar rüber zur anderen Dorfstraße gelaufen, konnte aber nichts Genaues erkennen“, gab Rottmann zurück, der wieder erstaunlich nüchtern war. „Ich denke, es waren drei oder vier Personen. Vermutlich männlich, aber auch das kann ich nicht beschwören. Außerdem hatte ich den Eindruck, dass einer von denen eine weiße Kappe oder so etwas Ähnliches auf dem Kopf trug.“ „Das gibt nicht viel her“, gab Deichler zurück.

„Weiß ich auch“, brummte der Exkommissar. „Aber bei dem diffusen Licht …“

„… und mit einer gehörigen Anzahl Schoppen im Bauch“, ergänzte Deichler leicht grinsend den Satz.

„Ist sicher richtig“, gab Rottmann zurück. „Aber am Eröffnungsabend des Weindorfes darf man ja mal etwas tiefer ins Glas schauen. Man rechnet ja auch nicht damit, dass die Mordkommission einen in der Nacht noch als Zeugen benötigt.“

In diesem Augenblick kam der Rechtsmediziner herüber und nickte knapp.

„Gibt es irgendwelche verwertbaren Erkenntnisse?“, fragte Deichler.

„Im Augenblick kann ich noch nicht viel sagen. Lange liegt er jedenfalls noch nicht, eine gute Stunde würde ich sagen. Das Blut stammt von einer Kopfverletzung. Sie kann von einem Schlag oder aber auch von dem Sturz auf den Boden gekommen sein. Sonstige Verletzungen konnte ich noch nicht feststellen. Näheres nach der Obduktion.“

Deichler nickte und der Arzt entfernte sich wieder. Gerade fuhr der Leichenwagen auf den Platz, der den Toten zum Institut für Rechtsmedizin fahren würde.

Rottmann gähnte verhalten. „Wie sieht es aus, kann ich jetzt gehen? Ich bin wirklich müde. Wenn du eine schriftliche Aussage von mir benötigst, komme ich halt in den nächsten Tagen zu dir ins Büro.“

Deichler nickte. „Schlaf gut. Und tu mir einen Gefallen: Sieh zu, dass du auf dem Heimweg nicht über noch eine Leiche stolperst.“

Rottmann brummelte etwas Unverständliches in seinen Bart, dann winkte er knapp und marschierte in Richtung Grafeneckart davon. Öchsle folgte ihm auf dem Fuß.


Als die Sekretärin der BR Bürger- und Reibeisenbank Würzburg am nächsten Morgen voller Stolz ihr neues Arbeitsdomizil im Petrinihaus am Unteren Markt betreten wollte, fiel ihr fast die Tasche aus der Hand. Rings um das neue Gebäude hatte sich eine große Menschentraube versammelt. Die Leute kommentierten mit erheblicher Lautstärke das Transparent, das einen großen Teil der Vorderfront des Hauses bedeckte. Dazwischen flitzten einige Reporter herum und sogar der Bayerische Rundfunk, Abteilung Fernsehen, war schon mit einem Team vor Ort, machte Aufnahmen und interviewte die Menschen. Selbstverständlich war auch der Würzburger Starf eporter Christian Schöpf-Kelle dabei. Das würde in der morgigen Ausgabe der Main-Postille einen knalligen Artikel geben.

„Das ist ja der völlige Wahnsinn!“, stöhnte die Frau und riss sich aus ihrer Erstarrung. Sie musste sofort ihren Chef verständigen! Hastig drängte sie sich durch die Menge und verschwand im Haus.

Es dauerte nur zwanzig Minuten, dann erschien Direktor Hünnerklein im Büro.

„Wir hatten schon zehn Anrufe von der Presse und auch einige aus dem Rathaus. Die Anrufer wollten wissen, was es mit dem Transparent auf sich hat. Ich habe ihnen gesagt, dass Sie bald hier sein würden.“

Der Banker sah seine Mitarbeiterin mit gerunzelter Stirn an. „Wenn ich die Kerle erwische, die mir das angetan haben, dann …“ Den Rest ließ er offen.

Er stürmte in sein angrenzendes Büro und griff zum Telefonhörer. Zuerst einmal musste dieser Schandfleck vom Haus entfernt werden.


Der Parkplatz des Freibades war bis auf wenige freie Plätze belegt. Jetzt, am späten Nachmittag, war ein ständiges Kommen und Gehen. Familien mit Kindern machten sich auf den Heimweg und die Berufstätigen, die nach Feierabend noch ein paar Runden schwimmen wollten, kamen. Niemand schenkte daher den beiden Autos, die in kurzem Abstand eintrafen, Beachtung. Der Fahrer des einen Pkw stieg aus und schlenderte zu dem anderen Wagen. Nachdem er sich mit einem kurzen Blick davon überzeugt hatte, dass er nicht beobachtet wurde, öffnete er die Beifahrertür und ließ sich auf den Sitz gleiten.

Der Mann hinter dem Steuer warf dem Neuankömmling einen zornigen Blick zu. Ohne ein Wort der Begrüßung kam er zur Sache. „Wer von euch Idioten hat uns denn diesen Mist eingehandelt? Hatten wir nicht ausgemacht, dass das alles diskret und ohne Aufsehen ablaufen sollte? Jetzt haben wir eine Leiche und damit die volle Aufmerksamkeit der Presse und der Öffentlichkeit.“ Seine Faust knallte wütend gegen das Lenkrad.

„Tut mir leid, Chef“, gab der Mann auf dem Beifahrersitz kleinlaut zurück, „es ging alles so schnell. Plötzlich stand der Typ vor uns und dann lag er auch schon da. Es war bestimmt keine Absicht …“

„Keine Absicht! Keine Absicht! Das nützt mir gar nichts! Habt ihr wenigstens gefunden, weswegen ich euch beauftragt habe?“

Der Mann wurde noch ein Stück kleiner in seinem Sitz, als er langsam den Kopf schüttelte. „Wir sind wie verabredet reingegangen. Das klappte auch wie geplant. Dann lief jedoch alles schief. Wir hatten erst ein paar Meter zurückgelegt, als die Holzstempel, die wir zur Abstützung eingesetzt hatten, zu knacken begannen. Ehe wir wussten, was los ist, gab plötzlich die Decke nach. Zuerst fielen nur einige Brocken herunter, dann stürzte das ganze Erdreich ein. Wir sind nur noch gelaufen. Es war wirklich verdammt knapp, das können Sie mir glauben. Hinter uns ist vermutlich der ganze Gang zusammengestürzt. Wir waren heilfroh, dass wir noch herausgekommen sind. Durch den Schrecken waren wir völlig panisch und konfus. Dann stand auf dem Platz plötzlich der Wachmann vor uns. Er hat gesehen, von wo wir kamen. Aber das war uns in diesem Augenblick ziemlich egal. Wir wollten nur noch weg! Dabei muss es dann passiert sein. Er verstellte uns den Weg und hat irgendetwas gerufen. Es bestand keine Möglichkeit auszuweichen. Wir haben ihn regelrecht über den Haufen gerannt. Ich konnte sehen, dass er fiel. Vielleicht hat er sich dabei den Kopf gestoßen. Aber wir haben ihn mit Sicherheit nicht absichtlich verletzt … und schon gar nicht umgebracht!“ „Ihr seid solche Vollidioten!“, fauchte der Mann hinter dem Lenkrad. „Ihr habt die ganze Geschichte gründlich vermasselt. Es ist euch ja wohl klar, dass ihr für solchen Mist keinen Cent seht!“ Seine Wangenmuskulatur trat hervor.

„Aber Chef, wir haben doch alles gemacht, was Sie von uns verlangt haben.“ Der Mann rutschte nervös auf dem Sitz herum. „Wie soll ich das denn meinen Kumpels erklären?“ „Das ist mir scheißegal“, fauchte der andere zurück. „Ich muss jetzt erst mal zusehen, was ich noch retten kann. Ihr haltet gefälligst die Klappe. Wenn die Bullen herausfinden, dass ihr am Tod des Wachmanns schuld seid, stecken sie euch in den Knast und werfen den Schlüssel weg.“ Er machte eine kurze Pause, dann fügte er hinzu: „… und kommt nicht auf die Idee, mich da mit reinzuziehen. Ich habe für die Zeit ein hieb- und stichfestes Alibi.“ Er machte ein Zeichen in Richtung Tür. „Los, raus jetzt! Sollte ich noch einmal einen von euch Versagern benötigen, lass ich von mir hören.“

Der Mann auf dem Beifahrersitz öffnete wortlos die Autotür und stieg aus. Die Wagentür war kaum ins Schloss gefallen, als Stadtbaurat Buschwächter den Motor startete und das Fahrzeug aus der Parklücke lenkte. Der andere sah dem Pkw hinterher. Er kochte vor Wut.

Vladimir Müller, Bauhilfsarbeiter, Mitte vierzig, groß, muskulös, einschlägig vorbestraft wegen schwerer Körperverletzung und anderer Delikte, war vor längerer Zeit von Buschwächter, der ihn in einer Kneipe kennengelernt hatte, angesprochen worden. Er hatte ihn gefragt, ob er nicht im Rahmen des Baus des Petrinihauses einige Dinge für ihn erledigen könne. Buschwächter hatte ihm und seinen Helfern für ihren Einsatz eine ordentliche Summe versprochen. Und jetzt sollten sie leer ausgehen? Das würde er nicht schlucken! Er steckte die zur Faust geballte Hand in seine Hosentasche. Jetzt musste er erst einmal mit seinen Kumpels sprechen. Hoffentlich rasteten die nicht aus. Sie würden schon irgendwie an ihr Geld kommen.

Buschwächter starrte grimmig auf die Fahrbahn. Jetzt blieb ihm nichts anderes übrig, als sich höchstpersönlich der Sache anzunehmen. Ein Umstand, den er eigentlich hatte vermeiden wollen. Auf jeden Fall musste er höllisch aufpassen, dass nicht die Presse von seinen Plänen Wind bekam.


Der Schoppenfetzer und die Weindorftoten

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