Читать книгу Der Schoppenfetzer und die Weindorftoten - Günter Huth - Страница 9

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Erich Rottmann stolperte über ein am Boden liegendes Kabel und wäre dabei fast gestürzt. Öchsle, sein vierbeiniger Begleiter, der ihn wie immer ohne Leine begleitete, rettete sich mit einem schnellen Sprung zur Seite. Unter einen stürzenden Erich Rottmann zu geraten, der das stolze Kampfgewicht eines gestandenen Mainfranken hatte, wäre mit dem Überrollen durch eine Dampfwalze zu vergleichen gewesen.

Rottmann seinerseits konnte sich gerade noch an der neben ihm gehenden Elvira Stark festhalten, wobei er ungewollt, aber ausgesprochen weich mit dem Gesicht zwischen ihren Brüsten landete.

Der pensionierte Kriminalkommissar und ehemalige Leiter der Würzburger Mordkommission hatte Elvira zufällig in der Domstraße vor dem Grafeneckart, dem Rathaus der Stadt, getroffen. Sie war aus einem Bäckerladen gekommen, in dem sie sich gerade eine Tasse Kaffee und ein Hörnchen gegönnt hatte. Da Erich Rottmann gerade auf dem Weg zur Traditionsweinstube Maulaffenbäck war, in dem der Stammtisch Die Schoppenfetzer beim Frühschoppen tagte, und Elvira sich, wie sie sagte, in einigen Schuhgeschäften umsehen wollte, hatten sie ein Stück Wegs über den Marktplatz gemeinsam.

Elvira erklärte Erich lang und breit, dass sie absolut keine Schuhe mehr zum Anziehen hatte und daher dringend Abhilfe schaffen musste.

Rottmann hatte nur genickt, ging aber auf dieses heikle Thema nicht näher ein. Nach seinen Erfahrungen war das Verhältnis der weiblichen Bewohner dieses Planeten zu ihren Schuhen für Männer genauso wenig zu verstehen wie das Mysterium des Inhalts einer Frauenhandtasche. Beides verminte Gebiete! Höchst konfliktträchtig!

„Entschuldige bitte“, brummelte er verlegen und sorgte, nachdem er sich wieder aufgerappelt hatte, hastig dafür, dass wieder ausreichend sittsamer Abstand zwischen ihm und seiner Jugendfreundin entstand. „Die lassen aber auch alles hier herumliegen.“ Er zupfte seine Lodenjoppe zurecht und überzeugte sich mit einem Handgriff in seine Jackentasche davon, dass seine Pfeife und die dazugehörenden Utensilien nicht herausgefallen waren.

„Um Gottes willen, Erich, du musst dich doch nicht entschuldigen!“ Elvira schenkte ihrem Begleiter ein strahlendes Lächeln. Von ihr aus hätte dieser Moment der Nähe durchaus noch etwas länger dauern können.

Erich Rottmann verdankte diesen heiklen Augenblick den zahlreichen Arbeitertrupps, die schon seit Tagen dabei waren, auf dem Unteren und Oberen Markt die Holzlauben des Würzburger Weindorfs aufzubauen. In wenigen Tagen würde das Weinfest beginnen. Überall lag deshalb Baumaterial herum, war ein Gehämmere, Geschraube und Gebohre. Die Touristen, die vor dem historischen Falkenhaus versuchten, den Worten einer Fremdenführerin zu lauschen, hatten Mühe, deren Ausführungen zu folgen.

„Freust du dich nicht, dass es jetzt endlich losgeht?“, wollte Elvira wissen und zeigte mit einer Geste über den Platz. „Das Wetter scheint auch zu passen. Das wird dieses Jahr sicher toll!“ Sie sah ihren Begleiter mit einem schnellen Seitenblick an. „Ich hoffe natürlich schon, dass wir beide auch mal ein paar Schoppen zusammen trinken.“

Rottmann hüstelte. In der Zwischenzeit hatten sie die Schönbornstraße erreicht. Bis zu Rottmanns Abbiegepunkt ,Maulhardgasse‘ war es nicht mehr weit. Er wurde unruhig, denn Elvira machte noch keinerlei Anstalten, sich zu verabschieden. Wollte sie gar mit in den Maulaffenbäck gehen? Rottmann blickte hoffnungsvoll zur Schaufensterauslage eines Schuhgeschäfts auf der anderen Straßenseite. Aber Elvira dachte offenbar gar nicht mehr an ihren Schuhmangel.

„Wird schon irgendwie klappen“, gab Rottmann zurück. „Wir müssen halt mal sehen, wie wir es terminlich einrichten können …“

„Prima“, sagte sie lächelnd, „dann rufe ich dich an und wir können etwas ausmachen. Ich würde auch für uns reservieren. Ich weiß doch, dass du ein vielbeschäftigter Mensch bist.“ Wieder lächelte sie.

Sie spielte mit ihrer Bemerkung auf die ungewöhnliche Tatsache an, dass Rottmann seit seiner Pensionierung ständig in irgendwelche Kriminalfälle verstrickt wurde. Selbstverständlich konnte nur er diese Fälle lösen. Dummerweise standen sie immer wieder ihren „persönlichen Momenten“, die Elvira mühsam eingefädelt hatte, im Wege.

Dazu muss man wissen, dass sich Elvira Stark und Erich Rottmann schon als junge Menschen kannten … und liebten. Erich aus Gramschatz und Elvira aus Rimpar hatten sich in ihrer Sturm-und-Drang-Zeit heftig ineinander verliebt und auf ihren Fahrrädern die Umgebung ihrer Heimatdörfer erkundet … und nicht nur diese. Doch irgendwann hatten sie sich aus den Augen verloren. Rottmann war zur Polizei gegangen und hatte dort Karriere gemacht. Elvira ließ ihre Vergangenheit gerne etwas im Dunkeln.

Vor wenigen Jahren hatten sich die beiden dann durch einen Zufall wiedergetroffen, als einer dieser Kriminalfälle den pensionierten Kriminalbeamten Rottmann in den Grafeneckart, das Rathaus der Stadt, führte. Dort hatte Elvira eine Vertrauensstellung als Reinemachefrau auf der Chefetage.

Seitdem sorgte die stramme Fränkin dafür, dass ihr die ehemalige Jugendliebe nicht mehr abhandenkam. Sie hegte die Hoffnung, den mittlerweile notorischen Junggesellen Erich Rottmann erneut erobern zu können. Vergangenes Jahr war sie sogar in die Rosengasse, in seine unmittelbare Nähe, gezogen. Ein Geniestreich, der Erich Rottmann seitdem immer wieder veranlasste, ängstlich nachzusehen, ob auch noch alle Zinnen seiner Junggesellenburg intakt waren.

Elvira merkte natürlich, dass ihr Begleiter leicht unruhig wurde. Sie wusste, dass die Herren vom Stammtisch Die Schoppenfetzer, alles pensionierte Kriminologen und Juristen, weibliche Begleitung ihrer Mitglieder beim Schoppen eher zurückhaltend betrachteten. Sie beschloss, Rottmann endlich aus seiner Zwangslage zu befreien, und verabschiedete sich: „Also, Erich, ich will jetzt mal weiter. Ich rufe dich auf jeden Fall an, gell. Wünsche dir einen schönen Stammtisch!“ Sie beugte sich zu Öchsle herab und streichelte ihm über den Kopf, dann winkte sie und eilte davon.

Erich Rottmann atmete tief durch. Irgendwie hatte er immer das Gefühl, dass ihn diese Frau an der Nase herumführte. Er schüttelte den Kopf und schob den Gedanken beiseite. Der Eingang zur Metzgerei neben dem Maulaffenbäck kam in Sicht- und Geruchsweite. Für Herrn und Hund so etwas wie der Vorhimmel, wenn man den Stammtisch als himmlisches Vergnügen betrachtete. Rottmann versorgte sich reichlich mit den lebensnotwendigen Grundnahrungsmitteln, einer ordentlichen Portion Leberkäs und einer Laugenstange, dann praktizierte er schwungvoll wenige Meter weiter den unzählige Male geübten Einkehrschwenk.

„Hallo, Erich, komm setz dich her“, begrüßte ihn Ron Schneider, wie Rottmann eines der Gründungsmitglieder des Stammt isches, mit einer einladenden Handbewegung, „wir haben dir deinen Platz freigehalten!“

Erich Rottmann winkte in die Runde. Obwohl gerade mal kurz vor elf Uhr, war der Maulaffenbäck schon voll und die Geräuschkulisse entsprechend hoch. Er schob sich auf seinen Stammplatz auf die Bank und legte sein Brotzeitpaket auf die Platte des runden Tisches. Sein Blick ging suchend durch den Gastraum. Er hielt Ausschau nach Anni, der Bedienung. Öchsle ließ sich währenddessen unter der Bank nieder.

Es dauerte nur einen kurzen Augenblick, dann kam die Gesuchte mit hochrotem Kopf aus dem Nebenzimmer geschossen. Rottmann winkte ihr zu. Sichtlich genervt winkte sie ab und hastete zum Tresen.

„Was ist denn heute mit der Anni los?“, wandte sich Rottmann an seinen Tischnachbarn, den ehemaligen Leitenden Oberstaatsanwalt Dr. Horst Ritter, wie Rottmann Schoppenfetzer der ersten Stunde.

„Vorhin hat sich unangemeldet eine Touristengruppe ins Nebenzimmer reingequetscht. Jetzt ist die Anni am Rotieren. Sie haben aber schon jemanden angerufen, der kommt und aushilft.“

„Ich denke, der Andrang im Maulaffenbäck wird deutlich nachlassen, wenn das Weindorf anfängt“, warf Ron Schneider ein. „Der Wirt hat anklingen lassen, dass er dann vielleicht sogar ein paar Tage zumachen will.“

Zwischenzeitlich hatte es Anni geschafft, Erich Rottmann wortlos einen Teller mit Besteck und seinen gewohnten trockenen Silvaner zukommen zu lassen, Rottmanns berühmtes „kleines Frankengedeck“. Rottmann unterließ wohlweislich jede frotzelnde Bemerkung. Wenn Anni in dieser Stimmung war, glich sie einem Pulverfass mit Lunte, das der geringste Anlass zum Explodieren bringen konnte.

Während Rottmann sich den weihevollen Düften des frischen Leberkäses widmete, diskutierten die übrigen Stammtischmitglieder die Schoppenpreise auf dem Weindorf, die ihrer Meinung nach viel zu hoch waren. Das Thema war sehr emotionsgeladen, die Diskussion verlief aber noch in geordneten Bahnen – bis, ja, bis Horst Ritter eine Frage stellte, die er besser unterlassen hätte: „Was meint ihr, wie das wird, wenn wir im Schatten des FORUMS unsere Schoppen genießen müssen?“ Sekundenlang trat unter den Herren am Tisch Stille ein. „Du redest doch nicht etwa von diesem sogenannten Petrinihaus?“, gab Ron Schneider schließlich zurück.

Rottmann verschluckte sich beinahe, so schnell würgte er den Bissen, den er gerade im Mund hatte, hinunter. „Ist es nötig, dass du jetzt von dieser neuerlichen architektonischen Entgleisung, diesem Klotz am Unteren Markt, anfängst, während ich esse?“ Er nahm einen kräftigen Schluck vom Silvaner, damit er wieder ungehindert sprechen konnte.

„Also, wenn ihr mich fragt, hat das Teil doch einen gewissen Charme. Erinnert mich irgendwie an eine Feldscheune, die man mit Steinriegeln anstatt mit Brettern verblendet hat“, sagte Ritter. „Welche Stadt kann denn schon von sich sagen, dass sie mitten auf dem Marktplatz eine Scheune hat?“

„Ich denke, dass der Architekt eher an eine Justizvollzugsanstalt gedacht hat, als er das teure Stück entwarf. Vergittert mit steinernen Querriegeln …“, wetterte Rottmann laut.

„… damit sich die Banker, die darin hausen müssen, schon mal daran gewöhnen können, wie es ist, wenn man gesiebte Luft atmen muss … falls mal der eine oder andere Schwarzgelder der lieben Kundschaft in Liechtenstein verspekuliert.“ Ron Schneider ließ sein meckerndes Lachen hören.

„Ihr müsst mal in der Nacht hingehen und dann eine Weile ganz still stehen bleiben, dann könnt ihr es hören.“ Horst Ritter sah die Schoppenfetzer mit todernster Miene an.

„Was denn?“, bohrte Rottmann nach, als Ritter keine Anstalten machte weiterzusprechen.

„Na, das rotierende Geräusch, wenn der alte Petrini mit hundert Sachen in seinem Grab herumwirbelt.“ Er grinste.

Die Herren am Stammtisch waren alle keine Bewunderer der neuesten städtebaulichen Errungenschaft Würzburgs, die sich ihrer Meinung nach konsequent und harmonisch in die Reihe der übrigen Bausünden der vergangenen Jahre eingliederte.

Es dauerte eine Weile, bis sich die Gemüter ob dieses Reizthemas wieder beruhigt hatten. Die braven Schoppenfetzer befanden sich mit ihrer Meinung auf einer Wellenlänge mit zahlreichen Bürgern der Stadt, denen dieser Petriniklotz, wie ihn Rottmann sehr schmeichelnd nannte, ebenfalls ein Dorn im Auge war.

Schließlich glitt das Gespräch nach einiger Zeit wieder in thematisch ruhigeres Fahrwasser und der ordentliche Schoppen im Maulaffenbäck tat ein Übriges, um den schalen Geschmack im Mund der Stammtischbrüder zu vertreiben. Als sich die Runde kurz vor Mitternacht auflöste, hatte man sich für den nächsten Tag, den Tag der Eröffnung des Weindorfes, fest verabredet – ein Höhepunkt im Jahreslauf dieser Stadt und seiner weinbegeisterten Bürger, den sich die Stammtischfreunde aus dem Maulaffenbäck keinesfalls entgehen lassen würden. Dabei konnte keiner der Schoppenfetzer ahnen, unter welch dunklem Stern das diesjährige Weindorf stehen sollte.


Der Schoppenfetzer und die Weindorftoten

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