Читать книгу Der Schoppenfetzer und die Weindorftoten - Günter Huth - Страница 7

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Der Mann eilte hastig durch die finsteren Häuserschluchten der Stadt. Die Pelzmütze aus Bisamfell hatte er tief ins Gesicht gezogen, den Mantelumhang eng um seinen schlanken Körper geschlungen. Trotzdem bohrte sich der eisige Wind unangenehm durch jede Masche seiner Kleidung.

Sein Gang war unsicher. Nach dem Besuch bei der alten Zigeunerin hatte er sich in eine der vielen Weinstuben gesetzt, einen Teller Salzfleisch mit reichlich Sauerkraut gegessen und dazu einen Humpen Frankenwein getrunken. Im regen Disput mit einigen Räten der Stadt hatte er die Zeit vergessen und war dadurch wesentlich länger außer Haus geblieben, als er ursprünglich geplant hatte. Das war auch der Grund, warum er keine Laterne mit sich führte. Zudem machten es ihm das schlechte Wetter und sein Alkoholgenuss nicht leicht, seinen Weg durch die finsteren Gassen zu finden.

Der kalte Graupelschauer peitschte ihm ins Gesicht und zwang ihn dazu, seinen Blick auf die schlammige Straße zu senken. Das schwache Kerzenlicht, das durch die Fenster der Häuser auf die Straße fiel, half nur wenig.

Der Winter hatte Würzburg fest in seinen Klauen. Nur wer unbedingt musste, verließ seine Behausung und setzte sich Schnee und Frost aus. Die nasskalte Witterung war für einen Südländer wie ihn ungewohnt und nur schwer zu ertragen.

Schlagartig kamen ihm wieder die Worte der alten Zigeunerin in den Sinn. Vor einigen Tagen waren die Wagen der Sippe vor den Toren der Stadt aufgefahren. Das fahrende Volk lockte die Bürger der Stadt mit allerlei Kunststücken und Vorführungen vor die Stadtmauer. Der Rat hatte der Sippe ein Bleiberecht von einer Woche eingeräumt, dann sollten sie wieder weiterziehen. Den Stadtbütteln war aufgetragen worden, auf die Zigeuner ein wachsames Auge zu werfen. Nach Einbruch der Dunkelheit durfte sich keiner von ihnen mehr innerhalb der Stadtmauern aufhalten. Die Attraktion war eine alte Zigeunerin, die den Menschen die Zukunft voraussagte. Obwohl das Domkapitel heftigen Einspruch gegen die Praktiken dieser Gottlosen erhob, nutzten einige Bürger nach Einbruch der Dunkelheit die Gelegenheit, sich von der alten Zigeunerin die Karten legen zu lassen.

Auch er hatte das Bedürfnis verspürt. Bei aller Religiosität war er ein abergläubiger Mensch. Dass die Aussage der alten Frau aber so erschreckend ausfallen würde, hätte er sich nicht träumen lassen. Vielleicht war das auch der Grund, warum er sich in der Weinstube der berauschenden Wirkung des Weines ausgiebiger hingegeben hatte, als für ihn verträglich war.

Plötzlich rutschte er auf einer vereisten Stelle aus und konnte nur mit Mühe sein Gleichgewicht halten. Es entfuhr ihm ein heftiger Fluch.

„Guten Abend, Meister Petrini“, kam plötzlich und unvermutet eine tiefe Stimme aus der Dunkelheit, „kann ich Ihnen behilflich sein? Soll ich Sie nach Hause begleiten?“

Der Angesprochene blickte erschrocken ins Licht einer Laterne. Im dürftigen Schein konnte er trotz der dichten Graupel den metallischen Schimmer eines Spießes erkennen. Er hatte den Nachtwächter nicht gesehen, der sich nun aus der Dunkelheit eines Hauseinganges löste und einen Schritt nach vorne tat. Sein schwarzer Umhang ließ ihn völlig mit den dunklen Hauswänden verschmelzen.

„Grazie, grazie“, gab der Angesprochene hastig zurück, „alles in Ordnung.“ Seine Stimme war heiser. Schon seit Tagen wurde er von einer Erkältung geplagt.

„Na, dann Gott befohlen und einen gesunden Schlaf“, grüßte der Nachtwächter freundlich und wartete, bis der honorige Gast der Stadt weiter seines Weges ging. Als jener dann um die Ecke der Marienkapelle bog, verlor er ihn aus den Augen. Petrini war einer der angesehensten Bewohner der Stadt und ihm war bekannt, dass die Herren im Rat größten Wert darauf legten, dass es ihm in Würzburg gut ging und er weiterhin gerne in der Stadt blieb. Der Nachtwächter wusste, dass Petrini nur noch wenige Schritte von seinem Haus entfernt war, das er sich am Unteren Markt errichtet hatte. Er musste sich also keine Gedanken machen. Langsam drehte er mit tief ins Gesicht gezogenem Dreispitz weiter seine Runde.

Antonio Petrini, 1621 in Trient geboren und damals 52 Jahre alt, war einer jener italienischen Baumeister, die dem Ruf von Fürsten und kirchlichen Würdenträgern in den Norden gefolgt waren und an der Erneuerung der Befestigungen deutscher Städte mitwirkten beziehungsweise am Bau zahlreicher Kirchen und weltlicher Profanbauten beteiligt waren. Das Schicksal hatte ihn nach Würzburg geführt. Vom Fürstbischof und Rat der Stadt hatte er Aufträge erhalten und sich daher entschlossen, sich in der Domstadt niederzulassen, und sich ein repräsentatives Anwesen gebaut.

Er kratzte sich die Stiefel am Abstreifer ab und betrat sein Haus. Die großzügig gestaltete Eingangshalle war durch mehrere Kerzenleuchter erhellt. Seine Bediensteten, eine Köchin und ein Hausmädchen, wussten, dass ihr Herr es gerne hell hatte.

Walburga, das Mädchen, kam aus der Küche, wo es mit der Köchin zusammengesessen hatte.

Es wünschte einen guten Abend, Petrini erwiderte den Gruß, dann half das Mädchen ihm aus dem Mantel und nahm ihm die Mütze ab.

„Die Köchin hat das Abendessen vorbereitet, Meister Petrini“, sprach es, während dieser zum hölzernen Stiefelknecht ging, um sich von seinem nassen Schuhwerk zu befreien. Er schlüpfte in die bereitstehenden Filzlatschen, dabei winkte er ab. „Ich habe bereits gegessen. Bring mir noch einen Becher vom Roten, ich habe noch zu arbeiten und möchte nicht mehr gestört werden. Du und die Köchin, ihr könnt euch niederlegen.“

Walburga merkte natürlich, dass ihr Herr angetrunken war, sagte aber nichts. Sie nickte, dann entfernte sie sich, um die Kleider zum Trocknen aufzuhängen und den Wunsch Petrinis zu erfüllen.

Der Baumeister betrat sein Arbeitszimmer im ersten Stock des Hauses. Es handelte sich um ein geräumiges Atelier, das mit großen Fenstern und mehreren großflächigen Zeichentischen ausgestattet war. Überall standen Zeichenrollen, diverse Zirkel, Lineale und Stifte herum, die von der Tätigkeit des Hausherrn zeugten.

Petrini näherte sich dem großen Ohrensessel vor dem hohen offenen Kamin, in dem ein hell flackerndes Feuer brannte, das eine wohlige Wärme verbreitete.

Er nickte zufrieden. Auf Walburga war wirklich Verlass. Petrini ließ sich nieder und legte die Beine auf einen lederbezogenen Hocker. Mit einem entspannten Seufzer löste er den Knopf am Bund seiner Hose. Die letzte Stunde des Tages vor dem Kamin genoss er besonders.

Es klopfte an der Tür.

„Avanti“, erwiderte Petrini.

Walburga huschte herein und stellte den Becher mit Wein auf einen kleinen Beistelltisch neben dem Sessel. „Ich wünsche eine gute Nacht“, sagte sie leise und entfernte sich wieder.

Petrini murmelte ein „Grazie“, dann nahm er den Becher in die Hand und trank einen Schluck. Langsam ließ er den Kopf gegen das Polster sinken. Sofort drängten sich die Worte der alten Zigeunerin in seinen Kopf. Er wusste, dass es für einen gläubigen Christen eine Sünde war, sich mit Wahrsagerei zu beschäftigen. Aber dort wo er herkam, war Aberglaube tief in der Bevölkerung verwurzelt, und auch er konnte sich dem nicht entziehen. Immer wieder fand er den Weg zu Kartenl egerinnen und Handl eserinnen. Meistens waren die Auskünfte dieser Frauen verwaschen und wenig konkret gewesen, im Großen und Ganzen jedoch positiv. Die Worte der Alten von heute dagegen hatten ihn sehr beeindruckt. Im bunt bemalten Pferdekarren hatte er ihr gegenübergesessen, während sie ihm die Karten legte. Mit einem leisen Schaudern erinnerte er sich an das Geräusch, das ihre schmutzigen, krallenartigen Fingernägel verursacht hatten, als die Frau auf die Kartenbilder tippte und dabei Unverständliches murmelte.

„Der Herr wird ein hohes Alter erreichen und in Wohlstand leben“, hatte sie nach einiger Zeit erklärt und nach kurzer, wirkungsvoller Pause hinzugefügt: „Wenn der Herr auf sich aufpasst.“ Dann hatte sie eine lange Pause eingelegt und geraume Zeit eine Karte angestarrt, auf der der Tod als Sensenmann dargestellt war. Als Petrini dachte, es würde nichts mehr folgen, fuhr sie mit heiserer Stimme fort: „Hüte dich, Herr! Auf dein Haus werden Feuer und Schwefel fallen und es vernichten.“ Dann war sie verstummt. Petrini hatte nach Einzelheiten gefragt, aber die Alte hatte nur den Kopf geschüttelt und geschwiegen. Schließlich hatte er sie entlohnt und war gegangen.

Wenn er an die heisere Stimme der Alten dachte, lief ihm ein Schauder den Rücken hinunter und kalter Schweiß trat ihm auf die Stirn. Er nahm einen kräftigen Schluck aus dem Becher. Der herbe Wein linderte den galligen Geschmack, den er auf der Zunge spürte.

In dieser Nacht, während das Kaminfeuer langsam herunterbrannte und sich der Becher leerte, fasste Antonio Petrini einen Entschluss. Wer war er denn, dass er sich einem von den Mächten gesponnenen Schicksal wehrlos ergab? Er holte sich mit einem Kienspan Feuer aus der Glut des Kamins, zündete die Kerzen eines Leuchters an und stellte ihn auf einen der Zeichentische. Petrini trank den Becher in einem Zug leer, dann griff er sich einen großen Bogen Zeichenpapier und begann mit einem Kohlestift in großzügigen Linien einen Grobentwurf zu skizzieren. Als Baumeister lag es schließlich an ihm, Räume und Gegebenheiten nach seinem Willen zu schaffen und zu verändern. Warum nicht auch bei seinem eigenen Haus? Antonio Petrini hatte nicht vor, hier zu verbrennen.


Der Schoppenfetzer und die Weindorftoten

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