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2. Kapitel

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Der A6

Peters Sohn Benjamin sah keinen Sinn mehr darin, sein motorisiertes Studentenleben weiterhin mit dem gebrauchten Kleinwagen von Erdogan zu verbringen. Seit seiner frühen Kindheit träumte er davon, einen Audi A6 sein Eigen zu nennen. Nach langen ermüdenden, teilweise nächtelangen Diskussionen, konnte er seinen Vater davon überzeugen welchen Stellenwert ein A6 für sein weiteres Leben hätte.

Er verstieg sich sogar zu der Aussage: „Wenn ich die Wahl zwischen dir und einem A6 hätte, so würde ich den Audi vorziehen!“

Peter hatte auf der ganzen Linie kapituliert, bestand aber darauf, dass der Kaufpreis der Autos von Benjamins Erspartem bezahlt wird. Mögliche Reparaturkosten wolle er dann übernehmen. Eine Fehlentscheidung, wie sich noch zeigen sollte. Bei einem Gebrauchtwagenhändler, außerhalb der Stadt wurde man fündig. Frohen Mutes machten sich die beiden auf den Weg. Am Ziel ihrer Wünsche angelangt, waren die beiden erst einmal konsterniert. An einem Holzschuppen mit zwei verwitterten Fenstern, sowie einer windschiefen Tür, hing ein Schild mit der Aufschrift „Werkstatt“. Auf die Idee, dass sich in diesem Schuppen die Werkstatt des Autohauses befand, wäre sonst wahrscheinlich kein Mensch gekommen. Als Büro diente ein alter Wohnwagen, der seine besten Jahre schon längst hinter sich hatte. Er stand auf verrosteten Rädern deren Pneus die Luft ausgegangenen war. Auf einer ungepflegten Wiese, zwischen knöchelhohem Gras und Unkraut, lungerten in teilweise bedauernswertem Zustand, die Gebrauchtwagen herum.

Der Autohändler war groß, dürr, und bestand fast ausschließlich aus Haut und Knochen. Mit ein wenig Phantasie ausgestattet, hätte man ihn auch für eine riesige Vogelscheuche halten können. Seine wenigen Haare waren ergraut und in seinem Mundwinkel klemmte eine erloschene Zigarre. Sein Blaumann, der möglicherweise schon seit Jahren keine Waschmaschine mehr von innen gesehen hatte, strotzte nur so vor Dreck, und verhüllte seinen mageren Körper.

Da sahen sie ihn! Der Lack blitzte in der Sonne. Es war kein normales Auto, das war ihr Traumauto. Benjamin, der zu keinem Wort mehr fähig war, starrte entzückt auf den A6. Da stand er, mitten zwischen den alten Schrottkisten, das Auto von dem er seit seiner Kindheit träumte. Er schloss seine Augen und erinnerte sich an den Heiligen Abend vor zwanzig Jahren. Alles lief nochmal wie ein Film vor seinem geistigen Auge ab.

Die Bescherung nahte, aufgeregt wartete Benjamin in seinem Kinderzimmer. Endlich war es soweit, die Glocke läutete und Benjamin eilte in das festlich geschmückte Wohnzimmer. Der würzige Duft gebrannter Mandeln, sowie frisch gebackener Plätzchen erfüllte den Raum. Der Weihnachtsbaum stand wie jedes Jahr neben der alten Standuhr. Das milde Licht der Wachskerzen gab dem Wohnzimmer eine anheimelnde festliche Atmosphäre. Es war so wie man es sich wünscht, dass es am Heiligen Abend immer sein möge. Unter dem Baum hatte das Christkind (oder waren es Benjamins Eltern) die Geschenke ausgebreitet.

Auf dem großen Sofa neben dem Kamin, unter einem Gemälde das sich „Kühe am Fluss“ nannte, saßen Benjamins Großeltern väterlicherseits, Albert und seine Frau Christine. Albert ein ehemaliger Geheimdienstagent, wurde während des Krieges in England enttarnt, war bis zum Kriegsende als Doppelagent tätig, und ging danach bis zu seiner Pensionierung zum BND. Aus alter Gewohnheit trug er immer eine getönte Sonnenbrille, auch jetzt.

Wie jedes Jahr zum Fest waren auch Tante Thea und Onkel Anton aus Bielefeld angereist. Die beiden hatten früher eine Gastwirtschaft direkt neben den Oetker-Werken, die sie sinnigerweise „Backpulver“ nannten. Anton war von kleiner rundlicher Statur, ausgestattet mit einer Vollglatze, sowie einer geröteten Nase. Er erzählte pausenlos Witze, und verfügte über einen großen Durst. Voller Inbrunst wurde gesungen, begleitet von Tante Thea am Flügel. Nach dem festlichen Abendessen, es gab ,,Huhn im Römertopf", dazu Rosenkohl in Butter, kredenzte Peter zum Verdauen des Festmahls ausgiebig Wodka und Champagner.

Es war geradezu unglaublich zu sehen, mit welcher Ausdauer und Geschwindigkeit Onkel Anton verdaute. Stefanie und Peter baten nun zur Bescherung, und wünschten allen Gästen ein frohes Fest. Opa Albert zum Beispiel, bekam eine getönte Sonnenbrille mit eingebauter Kamera, der letzte Schrei unter Insidern der Geheimdienstszene. Seine Gattin Christine erhielt ein edles Parfüm. Für Onkel Anton, einen Feinschmecker sowie Liebhaber hochprozentiger Getränke hatte das Christkind eine Flasche französischen Cognac von edlem Geblüt bereitgestellt.

Dagegen wirkte die Flasche Eierlikör für Tante Thea -ihr Lieblingsgetränk- geradezu profan. Nun war es so weit, der kleine Benjamin durfte aus der Hand seiner Mutter Stefanie sein Weihnachtsgeschenk entgegennehmen. Aufgeregt nestelte er das Geschenk aus der Verpackung. Da stand er vor ihm, ein originalgetreu nachgebauter, ferngesteuerter „Audi Sport“ in silbermetallic. Ehrfurchtsvoll staunend, sein Glück nicht fassen könnend schaute er auf seinen Audi. Er hob ihn freudetrunken immer wieder hoch, zeigte das Auto allen Gästen, wandte sich dann an seine Eltern und sagte nur ein Wort: „Danke!“.

Ohne jeden Zweifel war dieser Heilige Abend die Geburtsstunde der zärtlichen Liebe und Zuneigung Benjamins zu diesem Fahrzeugtyp. Er erwachte aus seinem Traum, kehrte von seiner Reise in die Vergangenheit zurück in die Gegenwart, und schaute auf seinen Vater. Der röchelte nur: „Oh, fantastisch welch ein Anblick!“

Sie stiegen aus und betraten das Werksgelände. Der Autohändler gesellte sich hinzu. Da stand er nun, in seiner ganzen Schönheit. Kein Kratzer verunstaltete seine ebenmäßige Haut, sein silberner Lack glänzte im Licht der Sonne, seine Innenausstattung bestand aus edlem Leder, und er besaß ein eingebautes Navi. Peter sammelte sich, und eröffnete die Verkaufsverhandlung mit fester Stimme: „Was soll er kosten?“

„Zehntausend!“ antwortete der Händler ohne zu zögern.

Peter befeuchtete mit der Zunge seine trockenen Lippen und seufzte: „Das ist viel Geld! der Wagen ist immerhin schon zehn Jahre alt. Wenn ich das Auto meines Sohnes in Zahlung gebe -sagen wir für dreitausend Euro-, könnten wir uns dann auf siebentausend Euro einigen?“

Der Händler legte seine Stirn in nachdenkliche Falten, tat so als überlege er, nahm seine Zigarre aus dem Mundwinkel, drehte sie in seiner Hand hin und her, beförderte das erloschene Objekt wieder in seinen Mund und knurrte: „Schön, na gut, der Handel ist perfekt.“

Benjamin überließ aus lauter Respekt vor dem A6 erst einmal seinem Vater das Steuer des Autos. Peter betätigte den Anlasser und nichts tat sich. ,,Stille!"

„Das fängt ja gut an“, brummelte Peter, blickte den Händler missmutig an und fragte, „was hat er?“

„Es liegt an der Batterie, ich baue eine neue ein!“ murmelte der Autoverkäufer.

Nach dem Einbau der Ersatzbatterie traten die beiden gutgelaunt ihre Heimreise an. In der Zechenstraße angekommen wurde das gute Stück am Straßenrand abgestellt und testweise neu gestartet. Aber, oh Graus, das Traumauto sprang wieder nicht an, der Gute gab keinen Ton mehr von sich. Das alles war zu viel für Peters Gemüt, der sich nun unverzüglich zu Kallis Kiosk auf den Weg machte, in der Hoffnung dort Trost und Hilfe zu finden.

Ulrich hatte heute Dienst und grüßte mit einem freundlichem: „Hallo geht’s gut?“

„Nein!“ antwortete Peter einsilbig und orderte die erste Flasche Bier. Er trank sie in einem Zug leer, wischte sich den Schaum vom Mund, bestellte eine neue Flasche und schwieg.

Ulrich, dem das Schweigen nicht behagte, fragte mitfühlend: „Gibt es ein Problem?“

„Ja“; sagte Peter, „er springt nicht an!“

„Wer?“ fragte Ulrich ahnungslos.

„Der A6, das Auto meines Sohnes, wir haben ihn heute bei einem Gebrauchtwagenhändler gekauft!“ entgegnete Peter verärgert.

Ulrich der immer alles besser wusste, wurde jetzt gemein, und hieb verbal in Peters offene Wunde ein:

„ Du hättest ein Auto in dieser Güteklasse nur in einer Vertragswerkstatt kaufen dürfen!“

Und weil es so schön war, gab Ali, ein Universalhandwerker und Altbiertrinker im vorzeitigen Ruhestand, noch seinen Senf dazu: „Den Händler kenne ich gut, das ist ein Betrüger, dort würde ich nie ein Auto kaufen.“

Peng, das saß! Der leidgeprüfte Peter köpfte die nächste Flasche Bier und rief verzweifelt: „Herzlichen Dank für eure einfühlsamen Worte, aber verarschen kann ich mich selbst!“

Zum Glück kam Conny gerade zur Türe herein, er hatte den ganzen Tag in der Sonne gelegen und jetzt einen prächtigen Durst.

Hoffnungsvoll fragte Peter: „Kannst du dir einmal den Audi meines Sohnes ansehen, er springt nicht an!“

„Klar mach ich gerne für dich Peter“, erwiderte er und ging mit ihm zum A6.

Nach kurzer Zeit kamen die beiden wieder zurück.

„Wie stets?“ erkundigte sich Ulrich neugierig.

„Ich konnte Peter leider nicht helfen, es scheint sich um einen Fehler in der Elektronik des Autos zu handeln, da kann ich nichts machen, das muss in einer Vertragswerkstatt überprüft werden“; entgegnete Conny.

Der A6 kam nun unverzüglich in eine Vertragswerkstatt zur Inspektion, sowie Peter zu Dr. Naumann in Behandlung. Auf der Intensivstation der Werkstatt wurde der Audi an alle nur möglichen Kabel und Schläuche angeschlossenen, um Schäden zu erkennen sowie solche zu beheben. Der A6 stand zwischenzeitlich mehr auf der Bühne als das er fuhr. Er hatte sich zu einem Bühnenwagen entwickelt, zu dem die Ingenieure und Mechaniker aufschauten. Nach Abschluss aller Reparaturarbeiten und der Wiederherstellung seiner Fahrfähigkeit, belief sich die Rechnung der Autowerkstadt auf stolze zehntausend Euro. Der Kaufpreis hatte sich zwar fast verdreifacht, dafür fuhr er aber seit einigen Tagen störungsfrei. Bis auf einen Riss in der Frontscheibe, sowie das eher periphere Problem, dass der Kofferraum nicht schloss, waren alle wesentlichen Mängel erst einmal beseitigt.

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