Читать книгу Die Gräfin von New York - Günther Dilger - Страница 11
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ОглавлениеRose ging jetzt turnusmäßig jede Woche zu den Lehrstunden Vater O’Reillys, John immer im Schlepptau mit dabei. Geparkt während der Unterrichtsstunde bei der Haushälterin des Gottesmannes. John gefiel es mittlerweile sehr gut bei der älteren Dame. Die wusste bestens, wie man mit Kindern umgeht. Daher verflog die Zeit für den Jungen in ihrer Obhut manchmal auch gar zu schnell für ihn.
O’Reilly hatte die Eltern der anderen vier im Unterricht verbliebenen Kinder angeschrieben und ihnen mitgeteilt, dass die Bibelstunden in der bisherigen Form wegen Zeitmangels nicht weitergeführt werden können. Er habe aber die Absicht, sie in jedem Falle sofort zu benachrichtigen, sobald wieder welche stattfinden sollten.
Rose bekam also sozusagen Einzelunterricht. Eine ganz spezielle Art von Privatstunden.
Durch den nun planmäßigen Besuch der Bibelstunden offenbarte sich scheinbar eine tiefe Religiosität in dem kleinen Mädchen. Das verunsicherte ihre Mutter sehr, und auch ihr Vater war besorgt darüber. Einmütig teilten sie ihre schwerwiegenden Bedenken. Sie hegten die Befürchtung, dass sie ihr Kind vielleicht noch an ein Kloster verlieren könnten. Wann immer sie gefragt wurde, wie sich der Unterricht denn entwickle, blockte Rose in schöner Regelmäßigkeit ab und wich sofort auf ein anderes Thema aus.
Es ging offenbar niemand außer ihr etwas an, nicht einmal die eigenen Eltern, welche persönlichen Angelegenheiten sie mit ihrem Herrgott und dessen irdischem Gehilfen zu besprechen hatte.
O’Reilly hatte am ersten Tag zögernd angefangen, Rose während seiner Tiraden hin und wieder sanft zu streicheln, irgendwie anders, als ihre Eltern das öfter taten. Diese zärtlichen Berührungen wurden immer häufiger. Da war der aufgeweckten Rose bald klar geworden, dass der fromme Mann sie nicht zu klösterlicher Keuschheit hinführen wollte - eher zum genauen Gegenteil.
Ihre anfängliche Entrüstung und Ablehnung darüber wich schnell einem vorwitzigen Interesse.
Sie war trotz ihres jugendlichen Alters längst schon eitel genug, um sich vom unverhohlenen Begehren dieses erwachsenen Mannes geschmeichelt zu fühlen.
Erstaunt war sie auch über ein ganz anderes Gefühl, das während dieser Hätschelei in ihr wach gerufen wurde und das sie bis zu diesem Tag nur sehr diffus verspürt hatte. Es machte sie neugierig.
Alle verwegene Neugier wurde aber noch weit übertroffen von dem Erstaunen darüber, welche Macht sie mit der Erlaubnis oder dem Verbot solcher Berührungen auf den im Verhältnis zu ihr so alten Mann ausüben konnte.
Rose verspürte eine unheimliche, schon fast sadistische Lust dabei, die vorherrschenden Autoritätsverhältnisse völlig auf den Kopf zu stellen und mit dem hilflosen Opfer nach ihrem Belieben zu spielen.
Schon eine beiläufig geäußerte Überlegung, sie könne der Bibelstunde fürderhin vielleicht fernbleiben, konnten den armen Mann in tiefe Verzweiflung stürzen.
Mittlerweile war Rose zu Hause wieder gesprächiger geworden. Sie hatte sich eine feine Ausrede ausgedacht für ihr Interesse an den sogenannten Bibelstunden.
Sie behauptete, sie werde gerade in der Geschichte der Religionen unterrichtet, speziell auch über die Rolle der Frau innerhalb der Kirchen. Das zöge sie sehr in ihren Bann und das wolle sie unter keinen Umständen versäumen. Das klang recht glaubwürdig. Ihr generelles Interesse für die Rechte der Frauen musste sie nicht extra belegen.
Dass sie ‚Einzelunterricht‘ hatte, verschwieg sie ihren Eltern aber wohlweislich.
Die glaubten ihr ansonsten aufs Wort, weil sie Roses Vorlieben kannten, und waren es denn auch zufrieden.
Das war genau das, was Rose beabsichtigt hatte.
Denn nicht nur fand sie größten Gefallen an der Macht über den Priester, wenngleich das jetzt auch ihr Hauptvergnügen war. Sie nutzte auch während des gesamten Zeitraumes, über den sich die Bibelstunden hinzogen, die nicht völlig ausgeräumte Angst ihrer Eltern, sie könnte sich doch noch für ein Kloster entscheiden.
Um zu ihren Gunsten etwas durchzusetzen, wenn es ihr zunächst auch strikt versagt wurde, reichte oft genug, wenn sie nur wie nebenbei anmerkte: „Dann gehe ich vielleicht doch lieber ins Stift!“ Um damit nicht zu überreizen, was irgendwann vielleicht doch noch ein Verbot des Besuches ihrer Stunden nach sich gezogen hätte, setzte sie dieses Druckmittel sehr sparsam und durchdacht ein.
Zwischen der ehrlichen Beteuerung, ein Kloster höchstens von außen sehen zu wollen und dem vorgespielten Berufswunsch Äbtissin lavierte sie so geschickt hin und her, dass sie bald völlig neu eingekleidet war und schon teureren Schmuck bekam, als Mary-Ann ihn je bekommen hatte.
Der ‚Segen des Herrn‘ erreichte sie auf dem Umweg über ihre geschickte Strategie.
Die Wochen vergingen.
Nach drei Monaten konnte Rose ihre Neugier nicht länger zügeln. Sie wollte jetzt wissen, wie das Spiel ausgeht, wenn man den vollen Einsatz wagt und die Karten auf den Tisch gelegt werden. Dass sie alle Trümpfe in der Hand hielt, das wusste sie bereits. Und so spielte sie das Spiel mit Vater O’Reilly zu Ende.
Das Preisgeld für eine gewonnene Partie war bereits vorher festgelegt: Rose musste Maria sein.
So kam es, dass beim diesjährigen Krippenspiel des Sprengels zum ersten Mal in der Geschichte der Basilica of St. Patrick’s Old Cathedral die Jungfrau Maria nicht von der Tochter eines der höchsten städtischen Beamten gespielt wurde. Eine Sensation für die gesamte Gemeinde.
Denn es war bis dahin ein zwar ungeschriebenes, aber über all die Jahre strikt eingehaltenes Vorrecht der Stadtoberen gewesen, eine der Töchter aus ihren Kreisen im Rampenlicht dieser renommierten und viel beachteten Aufführung zu sehen. Dieses Jahr aber hatte Vater O’Reilly ein anderes Mädchen auserwählt.
Na ja - auserwählen müssen.
Gegen den immer wieder ausdrücklich und sehr heftig vorgebrachten Einwand seiner Prinzipale. Er hatte sich jedoch durchgesetzt und sich für die Tochter eines zwar hochgeachteten, aber ansonsten ohne städtisches Amt und Würde bedachten Steuerzahlers entschieden. Für Rose.
Noch ein weiteres absolutes Novum gab es bei diesem Krippenspiel, seit es 1876 zum ersten Mal aufgeführt wurde.
Das ahnte freilich niemand, es verlieh dem Spiel aber unbeabsichtigt einiges mehr an Authentizität durch seine größere Nähe zur Lebenswirklichkeit:
Die ‚Heilige Jungfrau‘ im Stück, nach katholischem Aberglauben die unbefleckte leibliche Mutter des Jesus von Nazareth - und befruchtet durch einen heiligen Geist - wurde dieses Jahr zum allerersten Mal nicht von einem unberührten Mädchen gespielt.