Читать книгу Die Gräfin von New York - Günther Dilger - Страница 8

Gerade nochmal gut gegangen

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John Freyman hatte das Glück gehabt, in eine intakte und lebensfrohe Familie der gehobenen New Yorker Gesellschaft hineingeboren zu werden. Sein Vater Joseph hatte mit dem schwunghaften Handel von hochwertigen Immobilien und der Ausführung und Betreuung bedeutender Bauprojekte ein beträchtliches Vermögen gemacht.

Das über fünf Stockwerke reichende Wohngebäude der Freymans lag, leicht zurückversetzt, an der parallel zum East River verlaufenden Pearl Street. Sie wird, als vierte größere Straße von der Seeseite her, von der etwa auf Höhe Pier 11 beginnenden Wall Street gekreuzt.

Der Versatz von der Straße zum Gebäude ließ einen vorgartenähnlichen Grünstreifen zu, der mit einigen hochwachsenden, teils exotischen Bäumen bepflanzt war.

Mit dem auf das höhere Gehölz abgestimmten Buschwerk darunter, machte dieses schmale Stück Rasen zwischen Boulevard und Bauwerk nahezu den Eindruck eines kleinen, gepflegten Parks.

Ungewöhnlich in dieser Umgebung aus Glas und Beton.

Dieser gestalterische Kunstgriff nahm dem zweifellos mächtigen Baukörper noch weiter an Schwere, die bereits durch seine subtil gegliederte Fassade auf ein erstaunlich geringes Maß reduziert war.

Zudem absorbierte der klug geplante Bewuchs einen Teil des Lärms dieser belebten Straße, der bei den anderen Gebäuden in der Stadt ungehindert bis zu den oberen Fenstern hinaufbrandete.

In nur ein paar Minuten Gehweg von diesem Domizil aus erreichte man wichtige amtliche Einrichtungen der Stadt, vornehme Clubs und einige der besten New Yorker Restaurants. Auch die meisten Institutionen des Finanzsektors lagen in Reichweite eines kleinen Spaziergangs.

Im Straßengeschoss befanden sich, neben verschiedenen Läden mit Artikeln des täglichen Bedarfs, ein Antiquitätengeschäft, eine Filiale der New York National Exchange Bank, eine noble Bar, ein Geschäft für exklusive Möbel und eines für erlesene Pelzmoden.

Einen Stock darüber gab es mehrere repräsentative Büroeinheiten. Genutzt wurden sie neben anderen von der bekannten Anwaltskanzlei Morgan & Partner sowie einer Dependance der Firma Monsanto und seit kurzem von einem Konsulat der Niederlande.

„Einen schönen guten Morgen Mr. Freyman.“ Man begegnete sich hin und wieder in der Halle und nahm sich Zeit für Höflichkeiten und einen Plausch.

„Moin, moin, Herr Konsul“, erwiderte der gebürtige Bayer schmunzelnd - mit dieser zu jeder Tageszeit gültigen hanseatischen Begrüßungsformel.

Der Diplomat, den er öfter in der Eingangshalle traf, erinnerte Mr. Freyman bei ihren Zusammentreffen jedes Mal an den kurzzeitigen Aufenthalt in Hamburg vor der Abreise. Und daran dachte er immer wieder gerne.

„Na, haben Sie schon ein passendes Appartement für meine Tochter gefunden?“, fragte der Niederländer, dessen Tochter nach seiner Aussage einige Monate bei ihrem Vater in New York leben wollte.

„Ja, hab‘ seit gestern etwas in Aussicht. Treffen wir uns zum Lunch? Dann kann ich Ihnen das Exposé zeigen.“

„Mit Vergnügen Mr. Freyman, aber obgepast, dieses Mal geht die Rechnung auf mein Konto! Schön übrigens, dass Sie sich wegen mir um solche Kleinigkeiten kümmern. Rufen Sie mich doch bitte einfach an, wann es am besten in ihr schwarzes Buch passt, ich richte mich selbstverständlich ganz nach Ihnen.“

Das „Schwarze Buch“ des Unternehmers war so eine Art Markenzeichen des Mr. Freyman geworden. Es gab keinen Ort und keine Gelegenheit, wo er es nicht dabei hatte oder es zu Rate zog. Manche flachsten, er wäre unsterblich, weil er für seinen Tod gar keinen Termin frei habe.

Einige der Büroräume im Haus, jene direkt neben dem Konsulat, nutzte Joseph Freyman für sich selber. Dort jonglierte er virtuos mit Verträgen für den An- und Verkauf von Grundstücken. Überwiegend größere, und auch riesige, waren es, die er an den Mann oder an die Frau brachte. Aber auch kleinere waren darunter, wenn eine exklusive Lage die Begrenztheit ihres Areals wertmäßig wettmachen konnte. Und davon gab es etliche in New York.

Mit einer kreativen Planung und der kompetenten Umsetzung anspruchsvoller Bauvorhaben gelang es ihm, seinen schwungvollen Immobilienhandel äußerst sinnvoll, und auch gewinnbringend, zu ergänzen.

Unter ‚gewinnbringend‘ verstand er dabei nicht allein den monetären Ertrag, sondern immer auch die möglichst harmonische Übereinstimmung von Bebauung und des von der Lage des Grundstücks vorgegebenen Umfeldes.

‚Es geht nicht darum, einfach nur Häuser hinzustellen, ihr sollt sie vor allen Dingen in ihre Umgebung integrieren‘, pflegte er am Astor College seinen Studenten zu sagen, wo er sporadisch als Gastdozent tätig war. Seine Vorlesungen waren wegen seiner Reputation immer gut besucht.

Viele seiner Klienten schätzten es sehr, sowohl ihr Grundstück als auch das Konzept und die Ausführung für ihr Wunschgebäude aus einer Hand zu bekommen. Vor allem aus einer so kompetenten.

Joseph Freyman war mit seinem Schaffen inzwischen an einem Punkt angelangt, an dem seine Entwürfe nicht mehr nur Architektur waren, sondern Kunst. In einer Zeit, in der seine Fachkollegen sich im historisierenden Neoklassizismus auslebten und alle möglichen Stilrichtungen zu einem räudigen Ganzen vereinten, setzte Freyman auf einen stark zurückgenommenen viktorianischen Stil. Dem verpasste er eine unaufdringliche Sachlichkeit.

So ging seine Arbeit eine perfekte Verbindung ein zwischen gezähmter Klassik und dem sich vorsichtig anbahnenden neuen Zeitgeist, den er durch seine vielbeachteten Arbeiten maßgeblich initiierte.

Er vereinigte diese unterschiedlichen Formvorstellungen verschiedener Epochen zu einem eigenen, unverwechselbaren Stil, der später in Europa zu seiner extrem puristischen Form weitergetrieben wurde. Den Anfang dieser neuen Schule, die man auf der anderen Seite des Atlantiks ‚Bauhaus‘ nannte, hatte er noch erlebt.

Er selbst bezeichnete den von ihm befürchteten Endpunkt dieser Entwicklung als ‚die optimale Anpassung von Material und Gestalt an die Bedürfnisse der Menschen - ohne sich dabei um ihre Seele zu kümmern‘.

Wohlbehütet wuchs John in diesem kultivierten, freigeistigen Elternhaus heran. Seine Mutter liebte ihn über die Maßen, verwöhnte ihn, wo sie nur konnte.

Der Vater hatte in ihm, nach den zwei früher geborenen Töchtern, endlich seinen lang erhofften Nachfolger für die Firma ausgemacht. Dem Junior wollte er ein guter Lehrmeister fürs Leben sein, und war es auch; zum guten Vater reichte oft nicht die Zeit.

Seine beiden Schwestern akzeptierten John, obwohl sie in ihm ständig auch den Konkurrenten im Ringen um die Gunst der Eltern sahen.

Anlass zu dieser Sichtweise gab es - die Rivalität war nicht nur eingebildet.

John durfte sich so einiges herausnehmen, was man den Mädchen nicht durchgehen ließ. Schließlich lebte man am Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts. Noch waren die moderneren Normen nicht in den Köpfen angekommen. Im Lauf der Jahre änderte sich dieses Verhältnis aber zugunsten der jungen Damen.

Jedenfalls innerhalb der Familie.

Die aufgeklärte Denkweise der Eltern überwand die archaischen Vorgaben zur ‚Wertigkeit der Geschlechter‘. Das anfängliche Konkurrenzdenken unter den Geschwistern verschwand so nach und nach.

Eines schönen Tages forderte John, noch keine sechs, im unbesonnenen Leichtsinn der frühen Jugend sein Schicksal regelrecht heraus.

Wie Kinder das immer wieder mal tun, wenn sie mit ihrer geringen Lebenserfahrung und einer unbekümmerten Gedankenlosigkeit das Unheil geradezu anlocken.

Er hatte es an jenem denkwürdigen Tag mit seiner Dickköpfigkeit wieder einmal auf die Spitze getrieben. Und sich, wie auch sonst fast immer, durchgesetzt.

Seine Mama hatte ihm aus dem Macy‘s eine Neuheit mitgebracht, einen bunten Gummiball, der durch eine neuartige Mischung des Materials höher und weiter sprang, als alle Bälle, die bis dahin für Kinder zu haben waren.

John wollte mit diesem neuen ‚Wunderball‘ partout nicht nur im Haus spielen.

Das immerhin war verständlich.

Es war mitten im August, und in den Häusern der Stadt fühlte man sich in diesen Tagen wieder einmal wie in einem Backofen. Aber auch in dem großen schattigen Garten hinter dem Haus wollte John damit nicht spielen.

Nein, er musste damit unbedingt vorne auf die Straße mit dem um diese Zeit brodelnden Verkehr und den vielen Menschen hinaus.

‚Geteilte Freude ist doppelte Freude‘ - das mag für viele Gelegenheiten zutreffen; in diesem Fall aber war es ganz einfach sein Bedürfnis, mit dem neuen Ball, der bedeutend höher sprang, als all seine bisherigen, sich vor anderen Leuten in Szene zu setzen.

Dieser Drang zur Angeberei bei kleinen Kindern entspringt dem Wunsch, ihre ständig gespürte Unterlegenheit der Erwachsenenwelt gegenüber kompensieren zu wollen. Ganz egal wodurch. Und sei es nur mit einem schönen bunten Ball mit fantastischen neuen Eigenschaften, den sonst noch keiner in der Straße besaß.

Mrs. Freyman war alles andere als begeistert von Johns Idee, die Straße vor dem Haus als Spielplatz zu missbrauchen, auch wenn sich sein Ansinnen ja nur auf den Bürgersteig bezog. Wortreich versuchte sie, John von seinem Vorhaben abzubringen, das sie wegen des hohen Verkehrsaufkommens in der Pearl Street als hoch gefährlich einstufte.

Der Junge war jedoch absolut resistent gegenüber all ihren Argumenten, die sie mit verzweifelter Vehemenz vorbrachte.

Schlussendlich gab einer von den beiden nach. John war es auch dieses Mal nicht.

Die zwei neuen Hausmädchen der Freymans, beide Filipinas, waren von Soldaten der US-Armee in ihrem asiatischen Lebensraum während der Unterwerfung des Inselstaates quasi requiriert worden. Und danach kamen sie als ihre Ehefrauen in die USA. Als das Interesse an ihnen nachließ, hatten sie sich einfach wieder von ihnen scheiden lassen.

Die zwei Mädchen mit ihrem schwarzglänzenden Haar waren nicht sehr groß. Sie waren sehr hübsch; die Soldaten hatten, neben ihrer Verantwortungslosigkeit, unbestreitbar Geschmack bewiesen.

Das Benehmen der Mädchen war tadellos, ihre Kleidung immer sauber und ordentlich.

Seit sie bei den Freymans im Dienst standen, waren die Frauen aus Manila, Mayari Escarda und Saya Ramos, immer zuverlässig gewesen. Es gab keinerlei Anlass zur Klage.

In ihren Pässen standen noch die Namen ihrer vormaligen Ehemänner, Carter und Gillmore, aber sie wollten unbedingt wieder ihre früheren Mädchennamen tragen und damit auch angesprochen werden. Und bei den Freymans erfüllte man ihnen diesen Wunsch gerne.

Man konnte sich jedenfalls immer auf die beiden verlassen. Einer der Gründe für Eleonora Freyman, Johns Verlangen letztendlich nachzugeben. Sie schärfte den Mädchen aber noch einmal besonders ein, ihren Schützling nicht einen einzigen Moment aus den Augen zu lassen.

„Passt mir auf ihn auf, als wäre es euer eigenes Kind!“, beschwor sie noch einmal eindringlich ihre zwei Angestellten. Die beteuerten ergeben, die höchste Obacht bei der Aufsicht über den kleinen John walten zu lassen.

Ungeachtet dieser Versprechen hatte Mrs. Freyman kein gutes Gefühl, als sie das Trio die Treppe hinuntertollen sah. John war nicht gerade das, was man gemeinhin ein ‚stilles, ruhiges Kind‘ nennt.

Sie ging an eines der Fenster ihres Ankleidezimmers und öffnete es. Alle Fenster dieses Raumes gingen zur Straßenfront, und man konnte aus ihnen die Straße in beide Richtungen bis zu den nächsten Häuserblocks überblicken.

Nur durch das gerade im Saft stehende Blätterwerk der etwas höheren Bäume auf der Anpflanzung vor dem Haus war die Sicht stellenweise etwas eingeschränkt.

Die Pearl Street war eine sehr belebte Straße. Kutschen aller Art und Fuhrwerke für jeden Bedarf waren von früh bis spät auf der Straße unterwegs. Auf und ab, hin und her ging es. Angst aber machten Johns Mutter vor allem die neuen Motorfahrzeuge, die oft mit 20 Meilen in der Stunde, manchmal auch mit mehr, durch die Stadt rasten.

Voller Unruhe wartete sie, bis sie John mit den beiden Mädchen endlich auf dem Bürgersteig erblickte. Auch die breiten Trottoirs beiderseitig der Straße waren recht belebt.

Die Menschen hasteten aneinander vorbei. Nur wenige waren darunter, die Zeit und Muße hatten, einfach den Boulevard entlang zu schlendern.

Eleonora Freyman befürchtete, ihren Sohn mit den zwei Mädchen in dem Getümmel aus den Augen zu verlieren.

Sie nahm sich vor, jedenfalls so lange am Fenster stehen zu bleiben und aufmerksam Ausschau zu halten, bis die drei wieder ins Haus zurückkamen.

Mayari hielt John fest an der linken Hand. Der warf mit seiner rechten den Ball mit Schwung zu Boden, um ihn dann gleich wieder aufzufangen, wenn er nach einem mächtigen Satz in hohem Bogen zurückfiel.

Immer wieder das gleiche Spiel. Die enorme Sprungkraft dieser neuen Gummimischung faszinierte ihn mächtig.

Eine ganze Weile war er mit größter Begeisterung dabei, ohne sich dessen bewusst zu sein, dass er mit seinen Würfen allerlei abstrakte ballistische Formeln in lebendige Schaubilder verwandelte.

Sie liefen die Front des Hauses ab, drehten am Ende um, und gingen dann wieder in die andere Richtung. Es war nicht gerade ein atemberaubendes Unternehmen. Dass sie öfter um andere Passanten herumkurven mussten, machte die Sache auch nicht spannender.

John hatte sich das schon etwas anders vorgestellt.

Eigentlich wollte er lieber mit anderen Kindern spielen. Oder wenigstens den Ball auch mal mit dem Fuß gegen eine Mauer treten, um seine Schussgenauigkeit zu testen. Das aber, was er tatsächlich machen durfte, wurde ihm schon sehr bald zu langweilig.

Immer wieder versuchte er, sich aus der Hand Mayaris zu befreien. Die aber ließ nicht locker.

Saya dagegen ging vorsorglich neben ihnen auf der Straßenseite des Gehweges, um eventuelle Fluchtversuche des Wildfangs zur Fahrbahn hin abzusichern.

Ob es Versehen war oder Absicht, was dann passierte, konnte man nicht erkennen. Auch später hatte sich nie jemand auf eine der zwei Möglichkeiten festgelegt.

Der einzige, der es ganz genau wissen konnte und es auch wusste, nämlich John, der behauptete steif und fest, er könne sich nicht mehr daran erinnern.

Wie auch immer…

Plötzlich sprang der Ball in einem weiten Satz mitten in die Straße hinein. John riss sich zur gleichen Sekunde mit einem heftigen Ruck von Mayari los und rannte hinterher. Mit einem schnellen, ruckartigen Ausweichmanöver schlüpfte er an Saya vorbei.

Die versuchte noch, ihn mit einem instinktiven Zugriff mit ihrer Hand zu fassen. Vergeblich. Es ging einfach alles zu schnell. Sie bekam ihn zwar noch ganz kurz an seinem Hemd zu fassen, erreichte dadurch aber nicht mehr, als dass sie einen Zipfel davon herauszog. Der hing nun an Johns Rücken über seine Hose herunter.

John selbst achtete indes nur auf seinen Ball.

Den schweren Wagen, der gerade mit Fässern beladen von zwei kräftigen Kaltblütern mit lautem Geklapper die Straße entlanggezogen wurde, bemerkte er offenbar gar nicht. Trotz seines offensichtlich großen Gewichtes war der Wagen erstaunlich flott unterwegs.

Kurz hinter den Vorderrädern rollte der Ball unter den Wagen. John lief direkt hinter ihm her.

Mayari und Saya schrien entsetzt auf. Johns Mutter, die alles vom Fenster aus mit ansehen musste, blieb vor Schreck das Herz stehen. Sie brauchte Sekunden, bis sie sich wieder in der Gewalt hatte und aus der Ankleide in den Flur hinausstürzen konnte. So schnell sie nur konnte hastete sie das Treppenhaus hinunter und zum Portal hinaus.

Einige der Passanten, die ebenfalls Zeugen des Geschehens waren, hielten sich betroffen die Hand vors Gesicht.

Viele der von Eile getriebenen ergaben sich ihrer Sensationsgier und blieben neugierig stehen. Eine ältere Frau fing an zu weinen. Ein Mann fluchte lautstark. Wen er mit seinen Flüchen bedachte, blieb unklar.

Durch das Geschrei anderer Fußgeher und durch die wilden Handzeichen, die sie ihm machten, wurde auch der Kutscher des Bierwagens auf den Vorfall aufmerksam. Er hatte nichts bemerkt und war erst ahnungslos weitergefahren. Offenbar aber galten genau ihm die aufgeregten Gebärden der gestikulierenden Menge. Energisch zog er an den Zügeln, um die Pferde schnell zum Stehen zu bringen und stieg hastig von seinem Wagen herunter.

Mit unsicheren Schritten und einem recht unguten Gefühl im Bauch schlurfte er nach hinten; dorthin, wo sich schon eine kleinere Gruppe von Leuten gebildet hatte.

Er war völlig ahnungslos und wollte daher erst einmal sehen, was denn überhaupt passiert sei – was die Leute eigentlich von ihm wollten.

Da sah er den Jungen hinter seinem Wagen liegen, mitten auf der Straße, etwa fünfzehn Yards entfernt.

Der Fahrer des Fuhrwerks war der Sohn ehemaliger Sklaven, die aufgrund der neuen Gesetze jetzt frei wählen durften zwischen der Schufterei auf den dampfend heißen Baumwollfeldern im Süden und der Schufterei in den stickigen Fabrikhallen im Norden.

Das einzige, was seine Eltern ihm vererbt hatten, war eine tiefschwarze Haut. Eigentlich hieß er Jelly Picker. In der Brauerei nannte man ihn jedoch nur abschätzig ‚Mississippi‘. Er galt dort aber als arbeitsam und war immer freundlich. Und hatte trotzdem nie Glück.

Als er den kleinen John am Boden liegen sah, da quollen dem notorischen Unglücksraben vor Angst die großen weißen Augäpfel aus den Höhlen. Hatte er ihn mit seinem Wagen getötet? Die Gene in seinem afrikanischen Blut signalisierten höchste Lebensgefahr.

Der Junge war weiß! Und wenn er tot war? Das bedeutete nichts Gutes. Die Straßenlaternen waren niedrig genug, um problemlos ein Seil mit Schlinge darüber zu werfen.

In höchster Sorge lief er auf den kleinen John zu, der völlig reglos auf dem Asphalt lag.

„Master, Master“, rief er verzweifelt. Er kniete vor ihm nieder. „Master, bitte wach auf, bitte, Master!“

Er sah sich um und blickte in die sich verfinsternden Gesichter der Gaffer. Zögerlich, aber bedrohlich unaufhaltsam schob sich die Menge näher.

„Ich war es nicht, ich habe ihm nichts getan!“, beteuerte der Unglückliche eilfertig in seiner Not. Schließlich hatte er nichts gesehen, nichts gehört und auch keinerlei Stoß oder gar einen Schlag an seinem Karren gespürt. Hilflos und verängstigt blickte er um sich. Dicke Schweißperlen rollten von seiner in tiefe Falten gelegten Stirn über seine Wangen - tropften von dort auf seine Kleidung und auf die Straße.

Da rappelte sich John verdutzt auf.

Blieb aber vorerst immer noch leicht verwirrt auf seinem Hosenboden sitzen.

Ein Raunen der Erleichterung ging durch die Menge.

John schaute erstaunt in die Runde der Passanten, die wiederum erwartungsvoll auf ihn selbst starrten. Verwundert nahm er wahr, dass auch die beiden Mädchen, die Hausmädchen der Freymans, seine Aufpasserinnen, unter den Umstehenden waren, in der allerersten Reihe.

Er konnte sich überhaupt nicht vorstellen, was da um ihn herum vor sich ging. Es kam ihm merkwürdig vor, dass all diese Leute ausgerechnet auf ihn starrten.

John war unter den Wagen gerannt, mit dem Kopf an die Bohlen der Ladefläche gestoßen, gestürzt, und genau zwischen den vorbeirollenden Hinterrädern gelandet.

Er musste beim Sturz wohl ohnmächtig geworden sein. Eine leichte Rötung war auf der linken Seite seiner Stirn zu sehen. Ansonsten war alles heil an ihm.

In Erinnerung hatte er von dem Vorfall nicht mehr viel. Hingefallen war er, das glaubte er zu wissen. Aber sonst?

Ja, richtig, sein neues Spielzeug.

Langsam dämmerte ihm wieder, was er vorher gemacht hatte. Er schaute sich um und suchte nach seinem Ball.

Was der jammernde schwarze Mann von ihm wollte, war ihm auch nicht ganz klar. Komisch, der schien unglücklich und glücklich zur gleichen Zeit zu sein. Vielleicht wollte der ihm nur auf die Beine helfen? Warum machte er dann keine Anstalten dazu? Lamentierte nur vor sich hin und freute sich trotzdem?

Schon merkwürdig.

Und warum Mayari und Saya da bei all den Leuten da drüben standen und hemmungslos schluchzten, das war ihm völlig unverständlich. Und was war denn das?

Da kam nun auch noch seine Mutter angelaufen; völlig außer sich stürzte sie auf ihn zu.

Das verstand er jetzt erst recht nicht.

„Johnny, mein Liebling, geht’s dir gut? John bist du verletzt? Sag es mir, sag doch etwas, mein Kind!“

Mrs. Freyman kniete halb vor ihrem Jüngsten. Zu allererst tastete sie ihren verdutzten Sohn von oben bis unten ab. Dann drückte sie seinen Kopf an ihre Brust; schließlich legte sie ihre Handflächen an seine Wangen und blickte ihm kopfschüttelnd in die Augen. Ihre eigenen füllten sich derweil mit Tränen der Erleichterung.

„Mum, was soll denn los sein? Ich bin einfach hingefallen. Das war doch nicht das erste Mal. Warum seid ihr denn alle so anders heute?“

Der junge Bursche, den sie ‚Mississippi‘ nannten, atmete hörbar auf, als er Johns Worte vernahm.

Die Leute hätten es ihm sicher sehr übel genommen, wenn er diesen netten kleinen Kerl verletzt oder gar getötet hätte, indem er ihn einfach unter seinen Wagen laufen ließ.

„Pass gefälligst besser auf in Zukunft - überfährt da rücksichtslos ein Kind!“, schrie jemand aus der zweiten Reihe in Richtung Jelly Picker.

Die anderen beantworteten die unfreundliche Aufforderung mit zustimmendem Gemurmel.

„Das hat man jetzt davon, dass man die Nigger hier in den Norden geholt hat“, sagte ein anderer laut vernehmlich.

„Was hat er denn gemacht, Leute?“, fragte ein weiterer.

„Er hätte um ein Haar diesen Jungen umgebracht!“

Unter einer aufgebrachten Menge finden sich meist wenig vernünftige Menschen. Einer dieser Wenigen sagte laut vernehmlich: „Der Junge ist ihm doch unter den Wagen gelaufen. Was kann der Kutscher denn dafür?“

Sofort wendeten sich ein paar der Anwesenden gegen diesen unliebsamen Störenfried.

„Was will denn dieser Neunmalkluge uns hier erzählen? Vermutlich einer dieser Negerfreunde!“

Sie ernteten beifälliges Gemurmel von allen Seiten. Angesichts so viel geballter Ignoranz und Engstirnigkeit um ihn herum verstummte der besonnene Mann resigniert und zog sich zurück. Die Unvernunft hatte ihr angestammtes Terrain, die neugierigen Gaffer, wieder fest im Griff.

‚Mississippi‘ verdrückte sich währenddessen verstohlen aus der kleinen Ansammlung. Angesichts dieser Überzahl der nicht so besonders freundlichen Worte, und der Reaktionen der meisten Passanten darauf, die beste Option.

So rasch und unauffällig wie möglich schlängelte er sich aus der immer noch aufgebrachten Menge heraus und ging eilig zurück zu seinem Wagen. Behende schwang er sich wieder auf den Kutschbock hinauf.

Er hatte nur eines im Kopf: bloß weg von hier.

Als sich die Pferde wieder in Trab gesetzt hatten und er eine Straße weiter über die nächste Kreuzung hinweg war, da atmete er erleichtert auf. Um ihn herum bloß wieder der alltägliche, hektische Verkehr von New York.

Seine Augäpfel nahmen wieder ihren angestammten Platz weiter hinten in den Höhlen ein. Ein zufriedenes Lächeln spielte um seinen Mund mit den dicken Lippen.

Er fühlte, dass er heute zum ersten Mal in seinem Leben richtig Glück gehabt hatte.

Schon mit fünfeinhalb Jahren also wäre das Leben John Freymans beinahe recht frühzeitig zu Ende gegangen. Unter den Reifen eines Pferdefuhrwerks.

Nur mit einer riesen Portion Glück war er den scharfkantigen, eisenbeschlagenen Rädern entgangen, die mit der vollen Wucht des Wagengewichtes für gewöhnlich nur den Asphalt der New Yorker Straßen malträtierten. Den kleinen weichen Körper hätten sie mühelos zerquetscht - oder auch völlig durchtrennt. Nur der Zufall hatte ihn so glimpflich davonkommen lassen.

Die neugierige Menge, die sich während des Vorfalles angesammelt hatte, war gerade im Begriff, sich wieder aufzulösen. Die ersten verließen den Platz des Geschehens.

Da schien sich neues Unheil anzukündigen.

Aus dem Gebäude direkt gegenüber dem Freyman-Building drang der gellende Schrei einer Frau heraus.

Die Menge verharrte schaudernd.

Der grausige Ruf kam aus einem Fenster über dem Obstgeschäft der Familie Delano. Ihm folgte gleich ein weiterer Aufschrei, langgezogen und furchterregend.

Dann war es totenstill.

Tief besorgt, aber völlig ratlos standen die Menschen auf der Straße und überlegten, was denn zu tun sei. Sie sahen sich gegenseitig an, blickten hilflos zum Fenster hoch.

Da tönten plötzlich aus dem gleichen Fenster weitere Schreie auf die Straße heraus: das Plärren eines Säuglings.

Der Familie des italienischen Obsthändlers Delano war gerade ein Junge geboren worden.

Die Gräfin von New York

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