Читать книгу Die Gräfin von New York - Günther Dilger - Страница 6
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ОглавлениеJohn Freyman wurde geboren am fünfzehnten April des Jahres 1900. Es war ein Sonntag. Menschen mit einem Hang zu Esoterik erachten die Geburt an einem Sonntag als besonderes Privileg. Denn, so glauben sie unbeirrt, ein am Sonntag geborener Mensch wird besonders viel Glück im Leben haben.
Seit Menschengedenken war das so gewesen.
Auch schon bei den alten Griechen. Und die Menschen des Imperium Romanum, auch das ist überliefert, dachten nicht anders. Auch bei denen galt der an einem Sonntag Geborene als Glückskind, als ‚fortunae filius‘.
Aber auch viele von sonst eher nüchtern denkenden Menschen können sich einer solchen Erwartung ebenfalls nicht ganz entziehen. Vermutlich liegt das an dem Umstand, dass man bei einem besonderen Glücksfall, der einem am Sonntag Geborenen widerfährt, sofort an diesen durch nichts zu rechtfertigenden Zusammenhang denkt; und ihn damit unwillkürlich als Bestätigung sieht.
Merkwürdigerweise wird ein solcher Bezug nicht hergestellt, und somit dieser Irrglaube auch nicht infrage gestellt, wenn dem am Sonntag Geborenen Unheil widerfährt – und sei es noch so dramatisch.
Auch Gregory Delano war einer dieser Menschen, die sich ausschließlich von der Realität überzeugen ließen und ihr immer den Vorzug gaben gegenüber dem Übernatürlichen.
Und trotzdem machte er sich Gedanken über das Leben seines Freundes John und dessen so frühen Tod.
Schon zweimal im Leben war John in höchster Lebensgefahr gewesen. Beide Male hatte er Glück gehabt und war seinem frühzeitigen Ende um Haaresbreite entronnen. Beim zweiten Mal musste er, Gregory, selber schon mithelfen, dem ungnädigen Schicksal in den Arm zu fallen.
Und jetzt? Bei lebendigem Leib den Bauch aufgeschlitzt zu bekommen, hat mit Glück gar nichts zu tun.
Die Mär von der lebenslangen Glückssträhne durch die Geburt an einem Sonntag war also wieder einmal eindeutig widerlegt. Mit ihrem fortunae filius lagen mithin schon die Römer falsch. Da war sich der Sheriff sicher.
Er führte seine Gedanken auf einer Basis weiter, die Metaphorik und Realität vereinen sollten.
So schlimm das Ende eines Lebens auch sein mag, man kann es auch in Relation zu all den durchlebten Jahren davor setzen. Für ein elendes Leben, das nur Not, Entbehrung und Schmerz kennt, kann auch ein schreckliches Ende so etwas wie Erlösung sein.
Wer dagegen ein sorgloses und als glücklich empfundenes Leben führt, für den mag allein der absehbare Tod schon das größte Entsetzen hervorrufen. Selbst wenn das Lebensende in Frieden kommt, und nicht durch brutale Gewalt oder eine furchtbare Krankheit herbeigeführt wird.
Man sollte dem Tod also generell gelassener gegenübertreten. Das war Gregory Delanos Meinung. Ob er das angesichts des eigenen Endes auch selber beherzigen könnte, das wusste er nicht, aber er hatte es sich fest vorgenommen.
Und bis dahin war sein positiv gestimmtes Credo, dass selbstverständlich auch er eines Tages sterben müsse, aber eben an allen anderen Tagen nicht.