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Die Sensation

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Ronald Lippl hatte ausnehmend gut geschlafen. Das Federbett im ersten Stock, das die Großmutter seit ihrem unglücklichen Sturz nicht mehr benutzen konnte, war angenehm weich und warm. Fast zu warm, denn draußen herrschten weiterhin sommerliche Temperaturen. Das verstellbare Krankenlager hatte er bereits zur Seite geschoben, es sollte heute noch von einem Gemeindemitarbeiter abgeholt werden. In Schwester Adeles Wirkungskreis gab es einen weiteren Patienten, für den es eine große Erleichterung wäre und dessen Familie sich über die Preisersparnis gegenüber einer Neuanschaffung freuen würde.

Das Bett war also nicht die größte Sorge des Enkels, aber im ganzen Haus lagerte eine Menge alter Gegenstände, die für die Oma zwar auch nicht mehr nützlich, doch wegen der Erinnerungen, die sie damit verband, von ideellem Wert waren. Für Ronny aber war dies alles nur nutzloser Trödel, der so schnell wie möglich entsorgt werden musste. Gewiss, einige Gegenstände hoffte er auf E-Bay mit Hoffnung auf Gewinn versteigern zu können. Der ganze Papierkrempel jedoch, wie Bücher, über Jahrzehnte aufgehobene Ansichtskarten, Liebesromanheftchen, all die vergilbten Häkeldeckchen, die Kisten voller altmodischen Christbaumschmucks, die zig kitschigen Porzellanfiguren im Wohnzimmerschrank, nicht zu vergessen die Stoffreste, Wollknäuel und Stricknadeln, die an die längst vergangene aktive Zeit der alten Frau erinnerten, mussten aussortiert und dem Sperrmüll zugeführt werden. Ronny hatte eine ganze Menge unangenehmer Arbeit vor sich, wo doch gerade der Umgang mit diesem Aspekt des Lebens ganz sicher nicht zu seinen Stärken gezählt werden durfte. Aber da musste er halt durch, denn er wollte das Haus so schnell wie möglich meistbietend verscherbeln. Insgeheim hatte er sich schon bedeutend mehr von den Wertsachen versprochen, von denen die Großmutter immer gesprochen hatte, hauptsächlich ihren so genannten Antiquitäten, bei deren Erwähnung sie oft genug ins Schwärmen geraten war. Bisher war er aber noch nicht auf ein einziges Stück gestoßen, das seiner Ansicht nach auch nur entfernt diese Bezeichnung verdient hätte.

„Alles nur Tineff, der reinste Müll“, schimpfte er vor sich hin. Erneut hatte er ein altes, vergilbtes Blatt Papier aus der obersten Schublade der Schlafzimmerkommode gezogen. Wahrscheinlich nur wieder ein weiterer dieser vielen blödsinnigen Briefe von einer alten Freundin oder gar schmalzigen Liebesgedichte aus der Jugendzeit der schrulligen Alten, einer von denen, die er schon dutzendweise auf einen Haufen geworfen hatte. Das dauerte alles viel zu lange. Kurzerhand warf er die noch halb volle Lade mitsamt dem restlichen Inhalt auf den Haufen, den die Sperrmüllabfuhr morgen früh mitnehmen sollte. Jetzt brauchte er erstmal einen ordentlichen Schluck Bier. Der feine Staub der Jahrzehnte hatte sich bereits unangenehm in seiner trockenen Kehle festgesetzt. Ronald Lippl ging in die Küche und holte eine neue Bierflasche aus dem Kühlschrank. Wenigstens hatte er daran gedacht, sich für diese lästige Aufgabe mit genügend flüssiger Motivationshilfe einzudecken. Er dachte über seine neue Lage nach.

Die Beerdigung würde teuer werden, auch wenn er auf aufwändigen Blumenschmuck und einen repräsentativen Sarg verzichten würde. Wozu auch der ganze Schnickschnack. Hier kannten ihn nur die Wenigsten. Seine Eltern waren schon weggezogen, als er gerademal acht Jahre alt war. Und die alte Oma würde es schließlich nicht mehr mitkriegen. Lieber sich einmal kurzzeitig den geifernden Kommentaren der Dörfler aussetzen, den strafenden Blicken und hinter vorgehaltener Hand geäußerten abfälligen Bemerkungen, dafür aber die Ausgaben sparen. Das alte Sprichwort hatte schon seine Richtigkeit: Nur Bares ist Wahres. Wieviel Bares nach Abzug der unvermeidlichen Kosten übrig bleiben würde, das stand aber noch nicht fest. Er hatte wohl das Sparbuch gefunden, von dem sie immer stolz erzählt hatte, so als könne man damit die ganze Welt kaufen, aber die Wahrheit sah anders aus. Das Guthaben mochte vielleicht für eine bedürfnislose alte Frau hoch erscheinen, für einen Mann wie ihn, in der Blüte seiner Jahre, der noch etwas vom Leben wollte, war es entschieden zu wenig. Und die paar Sachen, die sich zu verkaufen lohnten, mochten gerademal, wenn es hoch kam, einen Tausender bringen. Falls er sie überhaupt los bekam. Im Grunde war das alles doch nur wertloser Plunder. Andererseits stand jeden Tag irgendwo ein Dummer auf, man musste ihn nur finden. Er würde es auf jeden Fall versuchen.

Entgegen seiner sonstigen Gewohnheit hatte Ronald Lippl bis spät am Abend gearbeitet, sortiert, getrennt, vieles zum Wegwerfen verurteilt, anderes für einen geplanten Verkauf zur Seite gelegt. Danach war er ob der ungewohnten Tätigkeit rechtschaffen müde ins Bett gefallen und hatte sofort die Augen geschlossen. Eben erhob er den Kopf aus den Kissen und lauschte angestrengt. Tatsächlich, es hatte geklingelt. Wie lange hatte er geschlafen? Ein kurzer Blick auf den Wecker, den er zwar behalten, aber nicht gestellt hatte, belehrte ihn darüber, dass es bereits 10:30 Uhr war und er den halben Vormittag verpennt hatte. Wer konnte denn das sein? Richtig! Die Männer von Sperrmüll. Verdammt, er hatte nach fünf Flaschen Bier oder waren es sechs und dem pappigen Likör, den die Oma im Nachtkästchen für Notfälle versteckt hatte und den man wirklich auch nur zur Not trinken konnte, glatt vergessen, dass heute früh die sperrigen Gegenstände abgeholt werden sollten. Hätte er doch nur den Wecker gestellt. Egal. Jetzt war es schon geschehen.

Er krabbelte mit halb geschlossenen Augen aus dem Bett, denn das grelle Licht tat ihm weh und rief mit immer noch reichlich verschlafener, dazu einigermaßen verorgelter Stimme: „Nur mit der Ruhe! Ich komme gleich! Moment noch!“

Die orange gekleideten Männer vom Recyclingunternehmen easyclean, das für die Gemeinde die Abfallentsorgung erledigte, gehörten nicht zu den Geduldigsten. Sie hätten auch noch anderes zu tun, ließen sie wissen.

„Schiggn ser si aweng, mir homm nedd ewich Zeid!“, hallte es deshalb von draußen zurück. Endlich hatte Ronald Lippl die am Abend zuvor achtlos auf den Boden geworfene Hose gefunden und es nach einigen gescheiterten Versuchen auch geschafft unfallfrei in sie hineinzuschlüpfen. Barfüßig schlurfte er zur Tür.

„Na endlich, dou iss Zeid worn!“, lautete die Begrüßung durch die ungeduldigen Arbeiter. „Also, wo iss dess Zeich?“

Der völlig zerknitterte Ronny, der ganz den Eindruck machte als hätte er mitten im Müll übernachtet, zeigte stumm auf den Haufen aussortierter Gegenstände und ergänzte verbal: „Das da und die Möbel, auf die ich ein S geschrieben habe, S wie Sperrmüll. Ich bin froh, wenn der ganze Krempel endlich weg ist.“

Einer der ersten Gegenstände, die er gefunden hatte, war ein Stückchen Kreide, das die Oma für irgendeinen obskuren Zweck aufgehoben hatte. In diesem Fall war es ihm tatsächlich sogar noch nützlich geworden. Die Müllmänner waren eindeutig vom Fach und so ging der Abtransport flott vonstatten. Sie warfen alles auf den großen Anhänger. Möbel, Schubläden, Abfallsäcke angefüllt mit Erinnerungen an ein langes Leben. Am Ende verzurrten sie die Plane und fuhren los zur Abfallsammelstelle. Auf ein Trinkgeld hatten sie erst gar nicht gehofft. Danach sah der unrasierte Auftraggeber nun wirklich nicht aus.

Die Männer hatten es eilig. Sie wollten die Fuhre noch vor dem Mittagessen abgeschlossen, das heißt abgeladen und nach den Kriterien bezüglich der Weiterverarbeitung sortiert haben. Die Möbel wurden von einer mächtigen Maschine zwischen schweren Rollen und riesigen Greifzähnen zerquetscht, die bedruckten Andenken kamen ins Altpapier. Scherereien machten die Schubläden, die Ronald Lippl mitsamt dem Inhalt einfach zu den Möbeln geworfen hatte. Schlamper! Rachid Karaman kippte den Inhalt des letzten Schubes auf einen separaten Haufen, um den Inhalt nachträglich noch zu sortieren, als ein Fetzen Papier von einer leichten Böe erfasst und einige Meter weit durch den Recyclinghof getragen wurde. Ärgerlich. Er machte die paar Schritte und hob den Papierbogen auf. Das Papier, auf dem etwas in schnörkeliger Schrift mehr gemalt als geschrieben war, erregte seine Aufmerksamkeit. Er konnte sich aus den seltsamen Wörtern keinen wirklichen Reim machen, obwohl er schon als Kind nach Deutschland gekommen war und mit der deutschen Sprache normalerweise keinerlei Probleme hat.

„Schau her, Gerhard, was für eine seltsame Schrift. Das sieht richtig alt aus. Ich kann dieses Deutsch, wenn es überhaupt deutsch ist, nicht entziffern.“

Der angesprochene Gerhard, der Kapo der Gruppe, schüttelte unwillig den Kopf. Man hatte anderes zu tun, als die Hinterlassenschaft von alten Omas aufzuarbeiten.

„Wahrscheinli die alte deutsche Schrift, Südderlin odder wie dess hassd. Dess konn ich aa nedd lesen. Wäi ich in der Schul war, hodds dess aa scho nimmer gebn.“

Doch Rachid gab keine Ruhe.

„Aber wie schön das geschrieben ist. An manchen Stellen sieht es eher gemalt als geschrieben aus. So richtige Schmuckbuchstaben und Arabesken überall.“

Damit die arme Seel eine Ruh hat und weil Gerhard wollte, dass Rachid endlich mit seiner Arbeit weitermachte, kam er nun doch herbei und sah sich den vergilbten Papierfetzen an. Das war kein richtiges Papier, nicht so wie man es heute kaufen konnte. Vielleicht Pergament. So genau kannte er sich damit auch nicht aus, schließlich war er bei der Abfallentsorgung und nicht Sachverständiger beim Germanischen Nationalmuseum. Er drehte das Dokument, wie er es ab sofort nannte, noch ein paar Mal von vorn nach hinten und wieder zurück, zuckte mit den Schultern und beschloss dann, dass man es in der Gemeindeverwaltung abgeben würde, da es möglicherweise von einigem Wert sei.

Nach der Mittagspause und zwei LKWs mit Senf und Mineralwasser, Bier war während des Diensts verboten, machte sich die Besatzung auf nach Röthenbach, bevor sie den zweiten und letzten Auftrag für heute angehen würde. Sie parkten den Unimog mit dem inzwischen geleerten Anhänger vor der Gemeindeverwaltung, die genau genommen nur aus zwei winzigen Amtsräumen bestand, einem nicht sehr großen für den Bürgermeister und einem noch kleineren für Frau Siebenkäs, die die Herren in ihrer bekannt forschen Art begrüßte.

„Kommers bloß nedd mit ihre dreggerdn Schdiefl in mei sauber butzdes Zimmer rei. Woss wollnsn, der Chef hodd ka Zeid, der iss aa blouß Deilzeidburchermasder. Der hodd woss anders aa nu zum dou.“

Freundlich und zuvorkommend wie immer, die Frau Siebenkäs. Gerhard zog das so genannte Dokument aus der Brusttasche seiner Latzhose und hielt es triumphierend wie einen Lottoschein, der einen Sechser erzielt hatte, in die Höhe.

„Ich denk, dess wird dem Bürchermasder schon indressiern. Schaud ziemlich ald und wahrscheinli einichermaßn werdvoll aus.“

Werdvoll! Sie und woss werdvolles! Wäi a Fünfhunderdeuroschein schauds nedd grad aus. Nedd mid die Schdiefl reidabbn hobbi gsachd!“

Ihre Stimme hatte sie, dem zu befürchteten Ausmaß der drohenden Verschmutzung angepasst, entsprechend laut erhoben. Gerhard, dessen rechter Fuß bereits über dem frisch geputzten Büroboden schwebte, zog diesen erschreckt wieder zurück. Der Tumult rief nun aber den im angrenzenden Zimmer über einem Schriftstück brütenden Bürgermeister Holzapfel auf den Plan.

„Woss iss denn da los? Woss soll dess ganze Gebrüll?“ Und als er des zettelschwenkenden Müllkutschers ansichtig wurde: „Zeigns amal her, woss iss nern dess?“

Kaum hatte er einen Blick auf das Dokument geworfen, wurde sein Blick milder, die Zornesfalten verschwanden aus seinem Gesicht und machten einem feinen Lächeln Platz, das nach und nach in ein immer breiter werdendes Grinsen überging. Er hatte nahezu auf Anhieb erkannt, dass er hier etwas wirklich Wertvolles in seinen Händen hielt. Eindeutig konnte er die Jahreszahl 1114 entziffern und die Erwähnung des Ortsnamens Rothenbach war ihm auch nicht entgangen. Der Text war natürlich entsprechend seines Alters in einer mit der heutigen Ausdrucksweise nur sehr entfernt verwandten Sprache abgefasst. Frühes Mittelalter eben. Das würde ein Spezialist begutachten müssen. Aber er war ganz sicher, dass das Schriftstück, wenn es denn tatsächlich echt sein sollte, eine grundlegende Neufassung der Ortsgeschichte bedeuten würde. Von einem Hinz Laumer und einem Eberhard Beringer war die Rede, letzterer ein Wirt. Wenngleich ihm die Namen nichts sagten, so hatte er doch sofort das Gefühl, dass aus der Geschichte etwas Positives herauszuholen wäre. Vielleicht hatte ja sogar eine hochgestellte Persönlichkeit aus der damaligen Zeit hier in Röthenbach übernachtet. Da könnte man sicher etwas draus machen. Die Pläne begannen in seinem aufgeregten Gehirn bereits wilde Formen anzunehmen. Bisher war die erste Erwähnung Röthenbachs für das Jahr 1209 nachgewiesen, weshalb man vor fünf Jahren das 800-jährige Bestehen gefeiert hatte. Ziemlich glanzlos allerdings. Damals noch unter seinem Vorgänger, dem absolut inkompetenten Erwin Wiedemann. Ein paar Ansprachen, ein lächerliches Messingtäfelchen am Eingang zum Gemeindeamt, ein Festgottesdienst. Mehr war diesem elenden Stümper nicht eingefallen. Das würde, wenn seine Vermutung bestätigt werden sollte, dieses Mal anders werden. Ein Helmut Holzapfel war ein anderes Kaliber, wie die Welt sehr bald staunend feststellen sollte.

Mords-Brand

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