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Ein Krankenbesuch

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Die Gemeindeschwester ist rechtschaffen müde von einer schier endlos langen, nahezu völlig durchwachten Nacht, die sie mit einer Engelsgeduld am Krankenbett eines ihrer Patienten verbracht hat. Von einigen wenigen kurzen Phasen erschöpften Wegduselns abgesehen hatte sie kein Auge zugemacht. Ungeachtet der widrigen Umstände macht sie sich aber trotzdem pflichtbewusst auf ihre allmorgendliche Tour. Es hilft sowieso nichts, die Alten und Kranken warten bereits sehnsüchtig auf sie, auf die tägliche Tablettenration, die Insulinspritze, ein aufmunterndes Wort. Das alles hat Adele Heller im Gepäck. Auf sie ist Verlass. Immerhin kann sie seit ungefähr einem Monat ein nagelneues E-Bike ihr eigen nennen, was die Anstrengungen ein bisschen erträglicher macht.

Eben biegt sie in den schmalen, von üppig blühenden Hecken gesäumten Dahlienweg ein, wo ihre letzte Patientin für heute früh wohnt und wahrscheinlich schon ungeduldig auf sie wartet. Eleonore Lippl ist eigentlich eine ganz Liebe, sie kann aber nicht mehr gut laufen und ist deshalb auch ab und zu etwas unleidlich. Geduld erwächst den Menschen nicht automatisch mit zunehmendem Alter, auch nicht als wohlverdiente Kompensation für die sich unaufhaltsam ausbreitenden Gebrechen, die damit einhergehen. Das Treppensteigen ist seit einem häuslichen Unfall vor zirka vier Monaten kaum mehr möglich, weshalb sie seither auch die Nächte im Wohnzimmer ihres kleinen Einfamilienhauses zubringt, wie mit unsichtbaren Ketten an eines dieser zwar unheimlich praktischen, vielfach verstellbaren, letztendlich aber deprimierenden Krankhausbetten gefesselt. Auch bezüglich ihres Allgemeinzustands steht es nicht gerade zum Besten. Der Arzt hat ihre Verfassung wohl als relativ stabil eingestuft, konnte sich aber die Bemerkung nicht verbeißen, dass dies im gesegneten Alter von 89 Jahren keine Garantie für ein ewiges Leben bedeutet.

„Gell, Frau Lippl, sie verstehn mich scho richdich. Uns gehds für unser Alder schon noch ganz guud, abber überdreim derf mers nadürlich nimmer. Abber dess wissns ja selber. Schön vorsichdich, brav unsre Dableddn nehmer und wenn alles guud gehd, dann wermer vielleichd sogar noch Hundert. Alles iss möglich. Besser wärs nadürlich, sie häddn eine dauerhafde Pflege. Dess wär dess allerbesde.“

Warum Ärzte so gerne in der Wir-Form reden, auch wenn sie ausschließlich ihren Patienten meinen, das konnte bislang noch niemand ergründen und es wird wohl auf ewig ein Geheimnis bleiben. Ob man ihnen dieses Verhaltensmuster schon während des Studiums beibringt? Als vertrauensbildende Maßnahme sozusagen? Die Aussage des Arztes „Alles ist möglich“ hingegen darf man getrost wortwörtlich nehmen, im positiven wie im negativen Sinn. Es ist eine altbekannte Tatsache, dass jede noch so kleine Erkältung, die ein Junger nahezu unbemerkt wegstecken würde, bei bettlägerigen Menschen schnell in eine lebensbedrohlichen Krise münden kann. In ein Pflegeheim würde er sie gerne einweisen, meinte der Hausarzt, wo ihr aufgrund ständiger Kontrollen rund um die Uhr die beste Betreuung und höchstmögliche Sicherheit garantiert sein würde.

Ob die alte Frau Lippl das alles richtig verstanden hatte, kann niemand mit Sicherheit sagen. Es gibt bei ihr hoffnungsvolle Tage, an denen sie glockenhell im Kopf ist, aber auch andere an denen man alles mindestens dreimal sagen muss bis die verständige Miene der guten Eleonore wenigstens einigermaßen den Eindruck vermittelt, die Botschaft sei zumindest rudimentär angekommen. Ob sich nun ihre Aufnahmefähigkeit zum Zeitpunkt dieses ärztlichen Ratschlags gerade im oberen oder unteren Bereich auf der ausgedehnten Skala ihrer möglichen geistigen Zustände befand, das konnte niemand zuverlässig sagen. Auf jeden Fall kam die durchaus gut gemeinte Empfehlung nicht sehr gut an. Ganz gewiss nicht. Im Gegenteil, sie wurde sogar als ernste Bedrohung empfunden. Die Seniorin reagierte richtiggehend zornig und schlug mit beiden Fäusten heftig auf die Bettdecke. Wäre ihr das Aufstehen noch leichter gefallen, dann hätte sie zweifellos zornig mit dem Fuß aufgestampft wie ein unartiges Kind. Kontrolle rund um die Uhr! Das war genau das, was sie auf keinen Fall wollte. Den freien Willen abgeben, auf die Stufe eines unmündigen Kleinkinds reduziert werden. Niemals! Und sie wollte schon gar nicht ins Heim, nicht weg von ihrem Zuhause, nicht weg von ihrer gewohnten Umgebung und dem aufgrund der Umstände mittlerweile etwas ungepflegten, aber innig geliebten Garten. Und schon gar nicht fort von ihrem treuen Freund, dem munter vor sich hin zwitschernden türkisfarbenen Wellensittich Hansi, der während langer einsamer Tage ihr einziger Ansprechpartner ist.

Eine richtige kleine Quasselstrippe ist der quicklebendige Bursche. Seinen Namen und sogar die Adresse bringt er mehrmals am Tag zu Gehör, gerade so, als wollte er sich seinem futterverschmierten Ebenbild, das ihm aus einem von der Käfigdecke herabhängenden runden Spiegel entgegenblickt, immer wieder aufs Neue formvollendet vorstellen. Ein Eindruck, der durch sein eifriges Nicken in Richtung des vermeintlichen Spielkameraden sogar noch bekräftigt wird. Hansi Lippiiih, Da-i-enweg dreizeeehhn! Mit dem L hat er so seine Probleme. Das darf er auch, schließlich ist er kein vollwertiger Papagei, sondern lediglich ein viel kleiner unbedeutender Verwandter.

Adele Heller stellt das Fahrrad am Zaun ab und holt mit geübten Griffen ihre Utensilien aus der rechten Packtasche. Das Blutdruckmessgerät bringt sie immer mit, die Tabletten und die Spritzen lagern griffbereit im abschließbaren Fach des Badezimmerschranks der alten Dame. Seit die Patientin nicht mehr richtig Treppen steigen kann hat die Schwester einen eigenen Hausschlüssel. Das ist praktisch und erspart der Frau Lippl unnötige Schmerzen, die ihr jeder vermeidbare Schritt bereiten würde.

„Guten Morgen! Guten Morgen meine Liebe! Die Schwester Adele ist da!“, trällerte sie mit freundlicher Stimme und dem professionellem Singsang der typischen Krankenschwester in den altmodischen Hausflur hinein.

Adele Heller zeigt immer gute Laune, auch wenn sie wie heute am liebsten schwer wie ein Stein in ihr Bett fallen und endlich, wenigstens für ein paar Stunden, die Augen schließen würde. Beides gehört zu ihrem Beruf, die freundliche Grundeinstellung genauso wie die Dauermüdigkeit. Die alten Leute sind meist sehr dankbar für ein gutes Wort und Adele ist für viele der einzige Ansprechpartner den ganzen Tag über. Aber die alte Dame gibt keine Antwort.

„Na, sie wird doch nicht ...“

Bei der Schwester schleicht sich bereits die gar nicht so unbegründete Befürchtung ein, dass ihrer Schutzbefohlenen die Zeit zu lange geworden sein könnte. Dann krautert sie oft trotz ihrer Schmerzen irgendwo im Haus herum, in einer dieser gelegentlichen Anwandlungen, gemischt aus Ungeduld und Starrsinn, denen sie trotz eindringlicher Warnungen vor den Gefahren einer Selbstüberschätzung immer wieder nachgibt. Eine schlechte Angewohnheit, die der Patientin bisher noch jedes Mal eine darauf folgende, gefährliche Phase tagelanger Erschöpfung bescherte. Adele beeilt sich, durch den Flur in das angrenzende kombinierte Schlaf- und Wohnzimmer zu gelangen. Die Rollläden sind noch nicht einmal hochgezogen, was die Unruhe in ihr zusätzlich befeuert. Rasch zieht sie die Jalousien hoch, um ein bisschen Licht und durch Öffnen des Fensters zudem frische, gesunde Luft in das muffige Zimmer zu lassen. Aus der anfänglichen Unruhe wird rasch ein veritabler Schreck, einhergehend mit einer plötzlichen Atemnot, als sie Eleonore Lippl im Licht der hereinblinzelnden Morgensonne unbeweglich und mit starrem, nach oben gerichteten Blick auf ihrem Bett wie von einem Bestatter hindrapiert liegen sieht.

Die alte Dame braucht heute keine Tabletten mehr. Der leidige Blutdruck ist auch ohne diese Hilfsmittel drastisch gesunken und liegt aktuell bei Null, ist völlig zum Erliegen gekommen. Exitus. Der Tod muss plötzlich und ohne jegliche Ankündigung gekommen sein, denn sie verharrt auch jetzt noch in einem verschreckten, völlig überraschten Gesichtsausdruck, die Augen weit aufgerissen.

Adele Heller macht sich heftige Vorwürfe, weil sie heute so spät dran ist. Vielleicht hätte sie noch helfend eingreifen können, wenn sie zur normalen Stunde eingetroffen wäre. Mit zitternden Händen ruft sie den Hausarzt der Frau Lippl, den Dr. Eichberger an. Als der endlich eintrifft, kann aber nur mehr den Tod der alten Dame bescheinigen. Tod durch Herzversagen im fortgeschrittenen Alter. Die Jahre und die damit einhergehende Summe der Leiden haben ihren Tribut gefordert. Vielleicht kam auch ein finaler Asthmaanfall dazu, denn mit dem Schnaufen hatte die alte Dame zuletzt ebenfalls Probleme, weshalb sie immer ein rettendes Spray in Griffweite hatte. Und da lag es auch, mitten auf der geblümten Bettdecke. Es hatte nichts mehr geholfen. Der körperliche Verfall hat letztendlich über die wenigen verbliebenen Lebenskräfte obsiegt.

Schwester Adele vergießt ein paar Tränen, denn die Tote ist ihr, wie alle ihre regelmäßigen Patienten doch sehr ans Herz gewachsen. Sie liebt ihren Beruf und kommt zwangsläufig immer wieder mit solchen Situationen in Kontakt. Doch trotz aller Routine, an den Tod gewöhnt man sich nie.

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