Читать книгу Mords-Brand - Günther Dümler - Страница 8
Ein Trauerfall
ОглавлениеDa die Verstorbene im Dorf selbst keine Angehörigen hatte, oblag es den Behörden, nach etwaigen Verwandten zu forschen, die der Bestattungspflicht unterliegen würden, das heißt, die für eine angemessene Beisetzung zu sorgen hätten. Der Hausarzt wusste von nichts dergleichen, jedoch die Schwester Adele berichtete von einem Enkel, den die alte Dame zu Lebzeiten gelegentlich erwähnt hatte und dem sie ihren gesamten Nachlass zu vermachen gedachte. Ein entsprechendes Testament läge wohlbehütet im Kleiderschrank zwischen zwei Lagen Betttüchern. Das, was so vollmundig Nachlass genannt wurde, bestand hauptsächlich aus dem kleinen Häuschen im Dahlienweg, dem gefiederten Lebensgefährten Hansi nebst Voliere, sowie einigen Altertümlichkeiten von eher zweifelhaftem Wert.
Frau Lippls Ehemann war zeitlebens ein Sammler alles Antikem und dem was er dafür hielt. Ein gut erhaltener, weil regelmäßig liebevoll polierter Paradehelm der Königlich-Bayerischen Ulanen, einige dazu passende Literkrüge, verziert mit allerlei militärischen Motiven und mit auf dem verzierten Zinndeckel thronenden Reiterfiguren, anscheinend vom ursprünglichen Besitzer anlässlich des Ausscheidens aus dem aktiven Dienst erworben, was aus der Aufschrift „Es lebe der Reservemann“ unschwer abgeleitet werden konnte. Vergilbte Gebetbücher aus der Zeit der Jahrhundertwende, der vorletzten wohlgemerkt und unzählige Sterbebildchen von den Gemeindemitgliedern, die vor Eleonore Lippl die Dorfgemeinschaft in Richtung Ewigkeit verlassen mussten und die sie noch auf deren letztem Weg begleitete hatte. Die Einrichtungsgegenstände, sowie die teilweise noch originalverpackt in den Schränken gelagerten, auf ihren ersten Einsatz harrenden Bettbezüge, die spitzenbesetzten Deckchen aller Größen und Farben würden wohl den direkten Weg in den Wertstoffhof des roten Kreuzes finden, sobald der potentielle Erbe ihrer ansichtig würde.
Doch zunächst musste er gefunden werden. Darum kümmerte sich die Teilzeitmitarbeiterin des Röthenbacher Bürgermeisters. Zu diesem Zweck suchte sie zusammen mit Adele Heller noch einmal das Sterbehaus auf, um in den Unterlagen nach dem erwähnten Testament und der Adresse des einzigen, soweit man wusste, noch lebenden Verwandten zu suchen.
Die beiden betraten den Sterbeort der alten Frau Lippl mit dem nötigen Respekt. Die unvermeidlichen Gespräche wurden leise, nahezu flüsternd geführt, so als könnte man die Ruhe des Leichnams stören oder die Seele der Verstorbenen bei deren Aufstieg in den Himmel behindern. Das wurde schon immer so gehalten. Doch verweilte eine Seele überhaupt in der Nähe der sterblichen Hülle, war sie vielleicht schon längst im Jenseits angekommen oder was ging unmittelbar nach dem Tod vor? Niemand weiß das und vielleicht ist auch die daraus resultierende Ungewissheit über das was danach kommt der Grund für dieses beklemmende Gefühl, das einem unweigerlich in der unmittelbaren Umgebung des Todes befällt.
Den toten Körper konnten sie schon allein deshalb nicht stören, weil die Verblichene noch am Todestag vom Gemeindearbeiter und einem Gehilfen abgeholt worden war. Vermutlich lag sie in diesem Moment friedlich in den Geschäftsräumen des Bestattungsinstituts Unvergessen in Erlenbach, um für die bevorstehende Beerdigung präpariert zu werden. Präpariert, welch ein schreckliches Wort, als ob man einen seltenen Vogel oder ein besonders gut erhaltenes Jagdobjekt, einen Marder oder etwa ein Wiesel ausstopfen und an die Wand einer Bauernstube hängen wollte.
Gleich beim Betreten des Wohnzimmers fiel Frau Siebenkäs, die nicht nur im Büro einen beachtlichen Hang zu Ordnung und Sauberkeit an den Tag legt, die dunkelblaue Plastiktüte auf, die völlig deplaziert auf einem Stapel alter Zeitungen und anderen Papierabfällen lag. Wahrscheinlich hatte es Frau Lippl mit der Mülltrennung nicht ganz so genau genommen, wie viele alte Leute, die das in ihrer Jugend nicht gelernt hatten. Oder sie war einfach doch schon mehr überfordert, als man allgemein gedacht hatte. Fleisch- und Wurstwaren Edelmann stand auf der Tüte. Aus Röthenbach war die nicht, hier gab es nur die über die Grenzen des Dorfes hinaus für ihre Spezialitäten bekannte Metzgerei Bräunlein, berühmt vor allem für die mehrfach preisgekrönten, 1A fränkischen Bratwürste. Zerknittert war sie, die Tasche. Wahrscheinlich stammte sie noch aus der Zeit, als die Frau Lippl regelmäßig nach Nürnberg gefahren war, um ein bisschen was vom Leben zu spüren, wie sie es selbst immer so treffend formuliert hatte. Ach ja, seufzte Adele Heller, das war nun auch vorbei. Alles vergeht. Aber die Tüte kam den Damen ganz gelegen. Die Krankenschwester räumte die überzähligen Tabletten, das Verbandsmaterial, die unbenutzten Spritzen aus dem Badezimmerschränkchen und wollte sie kurzerhand in die blaue Tüte stopfen, doch diese war gar nicht leer. Ein kleines, liebevoll besticktes Kissen steckte darin. Da hatte sie der alten Dame wohl Unrecht getan. Sie hatte anscheinend ihre Schätze fein säuberlich vor Staub und dem schädlichen Einfluss des starken Sonnenlichts geschützt. Und nun würde sich kein Mensch mehr dafür interessieren. Sie nahm das Kissen vorsichtig heraus, klopfte es sorgfältig zu Recht und setzte es auf das Wohnzimmersofa.
Das gesuchte Testament lag tatsächlich, genau wie Eleonore Lippl ihrer Pflegerin anvertraut hatte, mit gestochen scharfer Handschrift und mit dunkelblauer Tinte abgefasst und in einem braunen Umschlag steckend, zwischen zwei Lagen der erwähnten Bettwäsche. In der Küchenschublade fanden die beiden Frauen zudem einen Brief nebst Umschlag, der die Adresse des Gesuchten, ebenfalls eines Herrn Lippl, als Absender trug. Es ging die Beiden zwar nichts an, doch vor der Untugend der Neugierde sind auch Amtspersonen und aufopferungsvolle Engel im Dienste der Allgemeinheit und insbesondere der Kranken nicht gefeit. So erfuhren sie, dass der betreffende Mann vor einem Vierteljahr erst die liebe Großmutter um eine Finanzspritze in nicht erwähnter Höhe gebeten hatte, mit der Begründung, dass sie auf Grund ihres hohen Alters mit weltlichen Reichtümern nicht viel anfangen könne, er aber damit einem nicht näher bezeichneten, äußerst lukratives Vorhaben den entscheidenden Anschub geben könnte.
Ob sie dem Ansinnen nachgegeben hatte, wusste man nicht und man konnte es auch nicht erfahren, ohne den gesamten Haushalt auf den Kopf zu stellen, wovon man aus Gründen des angeborenen Anstands und der gebotenen Pietät schließlich doch absah.
„Scho ungewöhnlich, dass heidzudaach nu jemand Briefe schreibd. Abber wahrscheinli iss nedd anders ganger, wall sich die Frau Libbl, obwohl ich ihr dess ja immer widder angeradn hobb, einfach ka Dellefon zulegn hodd wolln“, meinte die Gemeindeschwester.
„Wohrscheinli wars rer zu deier“, steuerte Frau Siebenkäs, die Teilzeitgemeindesekretärin, eine naheliegende Vermutung bei.
„Möglich“, meinte ihre Mitstreiterin, „aber sie hodd aa zu mir immer gsachd: Woss solli denn mid an Dellefon? Mich rufd doch ka Mensch nedd an und ich kenn aa kann, mit dem ich dauernd über so einen Abbarad blaudern müsserd.“
Was auch immer der Grund für ihre Abneigung gegen das Telefonieren war, spielte nun, nach ihrem Tod ohnehin keine Rolle mehr. Und die Adresse des gesuchten Verwandten stand ja nun ebenfalls zur Verfügung.
„Schreiben brauchi dem abber nedd, dess dauerd ja vill zu lang. Bis dou hie muss die arme Frau doch scho längsd beerdichd werdn. Ich schau amal, ob ich zu derer Adress a Rufnummer ausfindich machen konn. Dann dellefonier in glei an, dasser so schnell wie möglich kummd.“
So wurde es dann auch gemacht und daher war es kein Wunder, dass bereits tags darauf im Laufe des Vormittags der vermeintliche Erbe auf dem Gemeindeamt vorstellig wurde. Er hatte Glück Frau Siebenkäs persönlich anzutreffen, denn die Größe der Gemeinde, beziehungsweise der Mangel an derselben, brachte es mit sich, dass das Büro nur stundenweise besetzt war. Ob es nun an seinem Pflichtbewusstsein lag oder eher andere Gründe vorlagen, jedenfalls hatte der trauernde Enkel keine unnötige Zeit verstreichen lassen.
Obwohl das Testament erst vom zuständigen Amtsgericht geprüft und anerkannt werden musste, damit in Folge dessen ein entsprechender Erbschein ausgestellt werden konnte, hatte Frau Siebenkäs keine Bedenken, dem Herrn Lippl, als der er sich zweifelsfrei ausweisen konnte, den Schlüssel zum Trauerhaus auszuhändigen, damit er sich wenigstens die Übernachtungskosten im Goldenen Adler ersparen konnte, welche seine aktuellen finanziellen Möglichkeiten über Gebühr auf die Probe stellen würden, wie er beschämt zugeben musste. Würde die Großmutter noch leben, so hätte er schließlich auch dort Quartier genommen. Bezüglich etwaiger, auf ihrem Weg ins himmlische Jenseits herumirrender Seelen oder anderer Beklemmung verursachender Umstände hatte der Mann keine Bedenken. Er schien eher der praktische Typ zu sein. Frau Siebnkäs‘ ebenso praktische Veranlagung machte es ihr leicht dieser überzeugenden Argumentation zu folgen.