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Feuerabend

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Es ist wieder einmal Freitagabend. Eine gut gelaunte Schafkopfrunde blättert einen Trumpf nach dem anderen auf den massiven Stammtisch des Goldenen Adlers. Münzen werden hin- und hergeschoben, allerdings in überschaubarer Zahl. Um ein Vermögen geht es hier nicht, sondern ausschließlich ums Vergnügen. Peter Kleinlein und seine Freunde genießen ihren Feierabend. Die Freunde, das sind Simon Bräunlein, der Dorfmetzger, Lothar Schwarm, Inhaber des gleichnamigen Friseursalons sowie dessen Lebensgefährtin Maria Cäcilia Leimer, die Betreiberin des angeschlossen Schönheitsstudios. Der zweite Vorname Cäcilia kommt allerdings nur bei besonders offiziellen Anlässen in Gebrauch, wenn zum Beispiel eine Amtshandlung ansteht oder die Maria von einer solchen träumt, einer Hochzeit etwa, was aber momentan im wirklichen Leben kein Thema ist, jedenfalls nicht für den Lothar. Noch nicht. Oder er wird benutzt, wenn der Lothar ein ernstes Wörtchen mit ihr zu reden hat. So wie jetzt.

„Maria Cäcilia! Warum hosd nern nedd die Schellnsau gschmierd, wäi ich dem Beder sei Blaue gschdochn hobb? Nou hädd mer logger gwunner!“

„Riad doch koin solchn Schmarrn, Lothar. Zu den Zaidbunkt hobb i doch no goar niad wissen könna, dass mir zwoi zsammerspöhln.“

Das Ö in dem Wort zsammerspöhln, also zusammenspielen, das, so wie Maria selbst aus dem Oberpfälzischen stammt, muss auf eine ganz besondere Weise ausgesprochen werden. Richtig betont klingt es so, wie wenn der betreffende Laut ausschließlich dafür geschaffen wäre, um Ekel oder Abscheu zum Ausdruck zu bringen, etwa angesichts einer verdorbenen Speise, etwa einem Krug sauer gewordener Milch oder beim Einatmen des übelriechenden Inhalts einer seit mehreren Wochen nicht mehr ausgeleerten Biomülltonne bei 35 Grad im Schatten. Mit stark gerümpfter Nase und angespannten Halsmuskeln eben und irgendwo zwischen 30 Prozent Ü und 70 Prozent Ö. Je nach Herkunft innerhalb der Oberpfalz verschieben sich die Prozentanteile beider Buchstaben zudem beliebig.

Die Maria ist keineswegs eine Anfängerin in der hohen Kunst des Kartenspielens und kennt sich mit den zahllosen offiziellen und eher noch zahlreicheren inoffiziellen Regeln des Schafkopfspiels perfekt aus. Sie ist vor einigen Jahren aus dem idyllischen Schönkirch in der hintersten Oberpfalz oder Schöikiach, wie sie den Ort selber auszusprechen pflegt, zu ihrem Lebensgefährten Lothar gezogen, nachdem sich die beiden auf einer abenteuerlichen Rundreise durch Ägypten kennen- und lieben gelernt hatten. Und Schafkopf beherrscht man dort, wo sie herkommt, schon von Kindesbeinen an. Es gehört dortzulande quasi zur Grundausbildung, es rangiert in der Reihenfolge der wichtigsten Vorschulfächer noch weit vor dem Hochdeutschen.

Die ebenfalls anwesenden Ehefrauen von Peter und Simon, Marga und Gisela saßen etwas abseits in ein Gespräch vertieft bei einem Glas Wein. Die Kartelrunde hatte nun schon über eine Stunde ihr Vergnügen gehabt und es wurde daher Zeit für die obligatorische Essenspause. Zudem hatte die Fülle der Gesprächsthemen ein wenig nachgelassen, der Redefluss war im Moment sogar ziemlich ins Stocken geraten, so dass sich Giselas Magen schon seit einiger Zeit in Form eines unüberhörbaren Knurrens bemerkbar machen konnte.

„Hobb etz, Herrschafdn. Letzde Runde, dann bschdell mer woss zum Essn. Mir grachd scho ganz der Moong. Ich hobb seid heid in der Fräih nix mehr zum Essn ghabd. Vor lauder Gschäfd binni heid nedd amal zum Middoochessn kummer. Dess mou mer si erschd amaal durchn Kobf gäih lassn. Normaal iss dess fei nedd. Im wahrsdn Sinn des Wordes wäri ball inmiddn von an goudn Zendner Worschd und ann ganzn Berch Fleisch bei lebendichn Leib verhungerd. Kännd er eich dess vuurschdelln?“

Das konnte und wollte niemand am Tisch, sie selbst eingeschlossen. Angesichts Giselas properer Figur konnte man gut und gerne davon ausgehen, dass ihren vollen Backen selbst eine mehrwöchige Nulldiät keinen wirklich bedrohlichen Schaden zufügen könnte, sondern eher eine förderliche Wirkung haben würde. Alle vier waren sie prall und rund. Aber egal. Hunger oder zumindest Appetit hatten auch die anderen.

„Resi! Bringsd amal die Schbeisekardn?“

Die Resi ist eine flotte Bedienung, nicht nur dem Aussehen nach und so wurden sogleich die Schafkopfkarten bei Seite und die Konzentration auf die reichhaltige Speisekarte gelegt. Wobei man diese eigentlich gar nicht wirklich benötigt hätte, denn die Stammgäste kannten sie schließlich in- und auswendig. Aber irgendwie gehört sie zum Ritual.

Alle hatten bereits ihre Wünsche geäußert, als die Reihe an Peter kam. Der bestellte zum Erstaunen seiner Freunde ein einfaches, paniertes Schweineschnitzel.

„Na horch amaal Beder, weecher an Schnitzl brauchd mer doch nedd in die Wärdschafd gäih. Dess kommer doch derhamm aa hobn. Dou sucher mer scho woss raus, wossi nedd alle Daach gräich“, gab Simon seinen Kommentar, aber Peter hörte gar nicht richtig hin, denn er war bereits in einen intensiven Dialog mit der feschen Resi vertieft.

„Schnitzl. Mid Kardofflsalaad odder Bommes?“

„Naa, kanne Bommes nedd, ich bin froh, wenni widder amaal an anschdändichn Kardofflsalaad gräich.“

Angesichts Resis gerunzelter Stirn setzte er zu einer eingehenden Erklärung an.

„Wissns, derhamm gibdds seid einicher Zeid blous nu immer die so genannde Meddiderraane Kosd. Leichde Küche, verschdennerns Resi? Abnehmer sollerdi nämlich, maand mei Frau. Sie sachd zwar nix, abber ich mergs ja, dass nix gscheids mehr zum Essn gibbd. Dess ewiche Zucchinigelutsche, dess soll ja daadsächli gsund sei, Viddamine und so, abber in Fisch, äs Fleisch, alles blouß mehr nu dämbfd in an Gmäisbedd mid idalienische Gräuder? Ich wass hald nedd.“

Es gehörte eine ganze Menge Mut oder auch nur ene entsprechende Portion Frust dazu, dieses Urteil in so deutlicher Form und im Beisein der für die Ernährung im Hause Kleinlein zuständigen Ehefrau Marga zu äußern. Da schien sich doch tatsächlich zwischen den beiden sonst so patenten Eheleuten ein bisher unausgesprochenes Konfliktpotential aufgestaut zu haben. Maria wollte, noch bevor Marga kontern konnte, schlichtend eingreifen und versuchte die bedrohlich hohen Wogen zu glätten, noch bevor diese sich tatsächlich zu einem zerstörerischen Tsunami aufschaukeln konnten.

„Also, ich finds ja scho mäier zaidgemäß, wemmer haid niad mehr goar a sua fett isst. Mediterrane Küche, warum denn niad. Döi Südländer sann ja olle niad umsonst niad annähernd a sua dick wöi die Leit bai uns dou. Und dou siggd ma ja scho, dass döi laichde Kost vüll gsünder iss als wöi des ganze raichhaldige Essn, weeger dem unseroins ollerwail hoascharf an der Grenze zum Übergwichd balangsiert.“

Es gab mindestens zwei Personen am Tisch, die heilfroh gewesen wären, wenn sie an der Grenze zum Übergewicht balancieren hätten können und zwar gerne auch von jenseits der gefährlichen Grenze aus gesehen. Sie hielten sich wohlweislich vornehm zurück.

„Freili iss gsünder“, gab Peter bereitwillig zu, „abber ab und zu brauchi ebn aa widder amal woss Herzhaffdes. Simmer amaal ehrlich. Wäi iss denn überall? Wos du hiekummsd Dommaade-Mozarella mid a boar Bassilikumbläddler und Balsamigo anschdadds a Drumm Fleisch midd an anschdändichn gmischdn Salaad mit Zwiefeler, Essich und Öl. Balsamigo, dess glingd wäi dess Zeich woss die Maria die Leit auf die Haud schmierd, dass nedd nu völlich ausdruggnd.“

Die beiden zuvor noch stumm gebliebenen Übergewichtigen getrauten sich diesmal wenigstens zustimmend zu nicken. Dann mischte sich auch noch die Resi ein, denn Frauen sind, wenn auch sonst eher Konkurrentinnen in manchen Fragen immer einig. Schon aufgrund ihrer Genzusammensetzung, gewissermaßen infolge eines genialen göttlichen Schöpfungsplanes, sind sie gezwungen, einem jeden Anflug von männlicher Aufmüpfigkeit und sei er auch noch so flüchtig, reflexartig und in sonst ungekannter Geschlossenheit entgegentreten.

„Überdreim ses fei nedd, Herr Gleinlein. Außerdem maaner sie Balsam, dess hodd midd Balsamico nix zum dou.“

„Von mir aus. Abber sie wissns ganz genau wossi sagn will. Und dessweng mächdi etz drotzdem amaal widder a gscheids Schnitzl mid ann Kartofflsalaad.“

Nachdem die grundsätzlichen Dinge geklärt waren rauschte die Resi schmunzelnd ab. Am Tisch kehrte Ruhe ein, teils in Erwartung des guten Essens, teils jedoch Peters Aufmüpfigkeit geschuldet, ganz im Gegensatz zu den beiden zusammengeschobenen Tischen im hinteren Teil des Lokals.

Dort hatten die Männer der freiwilligen Feuerwehr Röthenbach Platz genommen. Sie hatten zuvor im Rahmen der regelmäßigen Fortbildung einen staubtrockenen Vortrag über „die Beschaffenheit der nach „DIN Sowieso“ hergestellten Wasserschläuche im Allgemeinen und deren Verwendung im Dienste der Brandbekämpfung im Besonderen“ gehört, noch dazu von einem mäßig begabten Redner in einer extrem langatmigen Weise vorgetragen, die selbst den Geduldigsten unter ihnen die Kehle nachhaltig ausgedörrt hatte. Da galt es, umgehend für einen angemessenen Feuchtigkeitsausgleich zu sorgen. Wasser benutzen die Herren ausschließlich in Ausübung ihrer aufopferungsvollen Tätigkeit im Dienste der Brandbekämpfung, niemals aber im Rahmen der unvermeidlichen und rein privaten Nachbesprechungen im Adler. So wie eben.

Draußen schien sich ein gewaltiges Unwetter zusammenzubrauen, was sich durch ein stetig lauter werdendes Donnergrollen und durch in immer kürzeren Abständen am Nachthimmel dahinzuckende Blitze bemerkbar machte. Ein paar Mal flackerte die Deckenbeleuchtung im Adler sehr verdächtig. Das Zentrum des Unwetters lag offenbar direkt über Röthenbach, was der Stimmung jedoch keinen Abbruch tat. Die war trotz des durch den heulenden Wind und den krachenden Donnerschlägen verursachten Lärms und aufgrund einiger Gläser Hefeweizen bald schon als durchaus entspannt zu bezeichnen. Die ersten Lachsalven tönten vom Feuerwehrtisch her durch den Raum. Anscheinend wurden Witze erzählt. Nicht alle brandneu. Nicht alle stubenrein.

Ein Gewitter regt heutzutage niemand mehr auf. Die Häuser haben alle Blitzableiter. Die Zeiten sind lang vorbei, wo die Oma vom ersten leisen Donnergrollen an bis zum Ende des bedrohlichen Naturschauspiels ohne Unterlass zu den Wetterheiligen Johannes und Paulus betete, eine geweihte, schwarze Wetterkerze anzündete und im ganzen Haus nur noch leise geflüstert werden durfte, so als ob die lauten Stimmen das Unglück magisch anziehen würden. Die beiden angerufenen Nothelfer haben übrigens nichts mit den bekannten Aposteln gleichen Namens zu tun. Sie waren der Legende nach Hofbeamte im Dienste der Tochter von Kaisers Konstantin, dessen Nachfolger sie wegen ihres standhaften Glaubens kurzerhand enthaupten ließ. Von Wundertaten im Allgemeinen oder gar im Zusammenhang mit Unwettern im Besonderen ist nichts bekannt. Weil aber ihr Gedenktag inmitten der Jahreszeit liegt, wo es die meisten Gewitter und Hageleinschläge gibt, wurden sie vom Volksglauben, ohne einschlägig in die Geschicke eingegriffen zu haben, zu Wetterheiligen befördert. Die Oma wusste das zwar alles nicht, war sich aber schon immer sicher, dass Beten in jedem Fall alle Arten von Gefahren abzuwenden im Stande ist. Wenn es vielleicht auch nicht in dem angestrebten Sinne half, der Oma verhalf das Ritual auf jeden Fall dazu, während der schlimmsten Minuten Ablenkung zu finden.

Heutzutage droht die größte Gefahr vielleicht den vielen teuren Hi-Tech-Elektrogeräten, die es in allen einigermaßen modernen Haushalten gibt und die im Falle einer Überspannung einen bleibenden Schaden davontragen können. Aber den würde doch sowieso die Versicherung tragen, oder? Für größeren Ärger sorgen da schon die starken Regenfälle, weil sie beim Empfang des Fernsehprogramms über eine Satellitenschüssel regelmäßig zu einem Totalausfall von Bild und Ton führen, natürlich immer im falschen Moment. Möglicherweise sogar während einer spannenden Sportsendung, am Ende gar während der Live-Übertragung eines enorm wichtigen Clubspiels. Nur noch beständiges Rauschen und ein Bild, für das der treffende Begriff „Schimmel im Schneesturm“ eigens erfunden zu sein schien, zerrten dann an den Nerven der Zuschauer. Bezüglich des 1. FC Nürnberg sind die Nerven der Franken, sofern sie Anhänger dieser Glaubensrichtung sind, auch ohne Unwettereinflüsse derzeit stark angespannt. Seit der virtuelle Blitz in die hochtrabenden Pläne des Nürnberger Renommiervereins eingeschlagen war und den Anhängern den achten Abstieg aus der Bundesliga beschert hat, ist der Begriff Totalausfall ein immer häufiger vorkommender Gast in den einschlägigen Sportberichten. Totalausfall vor allem in Bezug auf gute Nachrichten. So mancher wäre angesichts der aktuell gezeigten Leistungen für einen gelegentlichen Bild- und Tonausfall geradezu dankbar gewesen.

Doch das alles spielte im Wirtshaus zum Goldenen Adler keine Rolle. Man ließ sich die Laune nicht verderben. Es war immerhin Freitagabend und die meisten durften am folgenden Morgen ausschlafen. So war es jedenfalls geplant, zumindest bis zu dem Moment, wo die lustigen Geschichten und Anekdoten zunächst durch einen ungeheueren Knall unterbrochen wurden. Die Jüngeren fühlten sich an einen irregeleiteten, wenige Zentimeter vom Ohr entfernt detonierenden Sylvesterböller erinnert, die Älteren sogar noch an die Bombennächte des zweiten Weltkriegs. Kurz darauf folgte ein durchdringender Heulton. Alarm! Scheibenkleister! Alle stürzten, so gut es nach mehreren Hefeweizen eben noch ging im Laufschritt zur Garderobe, um Helme und Jacken zu holen und um danach Hals über Kopf zum Feuerwehrhaus aufzubrechen. Die übrigen Gäste schauten dem Treiben aufgeregt zu.

„Woss issn lous? Hodds wo eigschloong?“, war an allen Tischen die vorherrschende Frage. Doch auch die Wehrler wussten natürlich noch nichts Genaues, wenngleich die Intensität des zuvor gehörten Explosionsgeräusches kaum einen anderen Schluss zuließ, als dass es irgendwo im Dorf gewaltig eingeschlagen hatte

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