Читать книгу Geschmackssache oder Warum wir kochen - Günther Henzel - Страница 11
Оглавление5 Älteste Gartechniken und was von ihnen geblieben ist
Würde man Homo erectus erneut auferstehen lassen und ihn einem modernen Menschen gegenüberstellen, ist Letzterer ein neues Wesen, eine andere Art, die über ein wesentlich größeres Nahrungsspektrum verfügt und sich komplexer ernährt. Betrachtet man die ersten Feuergartechniken, die vermutlich vor knapp zwei Millionen Jahren angewendet wurden, mit heutigen, sind diese 'Uralttechniken' jedoch noch (nahezu) erhalten. Ihnen liegen physikalische und chemische Wirkungen zugrunde, die sich begünstigend auf metabolische Vorgänge im menschlichen Organismus auswirken und deshalb unverändert nützlich sind. Die molekularen Stoffwechselprozesse in den Zellen sind nahezu gleich geblieben, nur die Organsysteme (z. B. Darm, Leber, Gehirn) haben sich der thermisch veränderten Nahrung mit entsprechender Enzymausstattung und Größe angepasst. Hinzugekommen sind Verfahrenstechniken, die durch lagerungsbedingte Rohstoffveränderungen (z. B. Gärvorgänge, Fermentation) erkannt worden waren. Auch sie sind ernährungsphysiologisch wertvoll und erweitern heute das Zubereitungsrepertoire in vielen Kulturen. Da solche 'Entdeckungen' jedoch auch an klimatische Bedingungen gebunden sind, gehören diese endemisch entwickelten Verfahren nicht zum Zubereitungsrepertoire aller Kulturen.
Die Garpraxis heute existierender indigener Völker (Danis, Papua, Eipo, Yanomami, !Kung San, Hadza) ermöglichen einen Blick zurück auf zehntausende Jahre alte archaische Feuergartechniken.170 Je nach Lebensraum dieser Ethnien werden Rohstoffe entweder direkt mittels Feuer oder indirekt mit heißen Steinen oder aber in heißem Sand gegart (CLAUS; ROSSIE 1976; wiss. Film). Diese Arbeit erledigen bei den !Kung und Danis überwiegend Frauen, die vormittags das Gelände nach Früchten, Knollen, Wurzeln und Raupen absuchen (ihre Kleinkinder tragen sie dabei in einer Art Ledertasche rücklings oder auf der Hüfte).171 Zurück in ihren Hütten sortieren sie die Feldfrüchte und garen stärkereiche Knollen (z. B. Yamswurzeln, Süßkartoffeln) in heißem Sand oder heißer Glut bzw. Asche,172 bevor sie sie anschließend direkt an der Feuerstelle verzehren. Asche- und Sandanhaftungen werden nur grob abgeschüttelt, also z. T. mit aufgenommen (MUTH; Pollmer 2010).173
Um größere Tiere zu garen, sammeln Papua auf Neuguinea (meist Frauen) Brennholz (auch Rundholz und kleinere Stämme) und entfachen ein großes Holzfeuer, in welchem sie Steine erhitzen. Die von Männern auf der Jagd erbeuteten Tiere werden ausgeweidet (wie auch Hausschweine, die mit Pfeil und Bogen getötet werden), die Borsten bzw. das Fell über dem offenen Feuer abgebrannt und deren anhaftende Reste mit bloßen Fingern abgekratzt. Die im Feuer liegenden Steine dienen als Hitzespeicher und werden mit gabelartigen Holzzangen in eine mit Bananenblättern ausgekleidete Erdmulde gelegt, worauf das entborstete Tier (mit verschiedenen wasserreichen Pflanzen, Palmenblättern und Soden bedeckt) für mehrere Stunden »wie in einem Römertopf« gart. Auch legt man in Blätter eingewickelte Wurzeln hinzu, die aber nicht der »Aromatisierung« des Fleisches dienen, sondern um die in Betrieb befndliche Garstelle sinnvoll zu nutzen (WRANGHAM 2009).174 Vorher entnommene und entleerte Därme füllt man (nach dem Umdrehen – innen nach außen) durch Einspucken einer vorher gut zerkauten Masse aus Kräutern und Pflanzen und gart diese Würste ebenfalls in der Glut.175
5.1 Vom direkten Feuergaren zum Garen in Gefäßen
Das Garen am offenen Feuer, in heißer Glut/Asche, in heißem Sand oder auf erhitzten Steinen (in Gargruben – dazu auch Wikipedia: Erdofen) ist weltweit und unabhängig voneinander erfunden worden. Diese Techniken sind noch heute bei vielen indigenen Völkern in Gebrauch (SCHURZ 2011). Es sind einfache direkte Garmethoden, bei denen die Energie der Wärmequelle direkt auf das Gargut übertragen wird – ausschließlich um den Garpunkt zu erreichen. Sieht man von der vorne genannten »Dschungelwurst-Herstellung« einmal ab, sind diese Garpraktiken für Rohstoffkombinationen, mit denen aromatisch-synergistische Wirkungen erreicht werden sollen, schon deshalb nicht geeignet, weil die dazu notwendigen großvolumigen Gefäße fehlen. Natürliche Behältnisse, wie z. B. Muschelschalen, Straußeneier, Schildkrötenpanzer oder Baumbusrohrbehältnisse, sind für die Befüllung mit vielfältigen Rohstoffanteilen zu klein.
Das einzige volumige »Kochbehältnis«, das z. B. die Krahó-Indianer in Brasilien ersonnen haben, sind Kuhlen, die sie unmittelbar am Ufer eines Gewässers (in handbreitem Abstand) ausheben. Diese Sandmulden werden mit Bananenblättern ausgelegt und mit Wasser aufgefüllt176. In diesen »Naturtopf« werfen sie aus einem am Bachrand entfachten Lagerfeuer entnommene heiße Steine, die das Wasser ausreichend erhitzen, um die darin eingelegten Palmenfrüchte (Bacaba-Palme) zu erweichen. Anschließend werden diese entnommen und ins Lager getragen, gepresst und vergoren. All diese Arbeiten verrichten Frauen. Der leicht alkoholhaltige Saft wird mit Genuss (von Männern) getrunken (SCHULZ 1968; wiss. Film). Diese »Naturtöpfe« müssen an jedem »Küchentag« jedes Mal neu ausgehoben werden, da die Sandgruben nicht überdauern. Es gibt aber auch stabilere Gargruben oder Erdöfen, die auf der ganzen Welt in unterschiedlichen Größen gefunden worden sind, vor allem im Pazifikraum.177
Tiefere Erdöfen (etwa 50–60 cm), die man öfter nutzen wollte, hat man bevorzugt in steinfreien Böden ausgehoben, deren Wandungen formfest blieben. Populationen, die sich u. a. aus klimatischen Gründen in einem Habitat niedergelassen hatten, dessen Böden zufällig aus Lehm oder tonhaltigem Lehm bestanden, konnten nicht ahnen, welche Beobachtungen sie am Lagerfeuer und in ihren Gruben machen sollten, in die sie glühend heiße Steine gelegt hatten. Nicht nur dass der Boden unter der Feuerstelle steinhart wurde und die Wärme lange speicherte – auch die Wandungen ihrer Kochmulden wurden fest.
In seinem natürlichen (feuchten) Zustand waren Lehmböden plastisch, weshalb sich damit Formen aller Art – auch Figuren – modellieren ließen. Gerieten solche »Artefakte« in die Nähe oder direkt ins Feuer, härteten sie aus und blieben erhalten. Diese (wiederum) zufälligen Beobachtungen mit Ton/Lehm und Feuer lösten einen Formungs- und Gestaltungswillen aus, der zur Herstellung einfacher Gefäße führte. Dazu wurden auf einem Tonboden wülstige Stränge kreisförmig zu Wandungen aufgestapelt und mit Wasser geglättet. Diese Behältnisse härteten bereits in unmittelbarer Nähe des Feuers aus. Richtig fest wurden sie aber erst in der Glut. Die ersten gebrannten (nicht glasierten) Tonwaren (Terra cotta) wurden während der letzten Eiszeit erfunden (die etwa vor 21 000 Jahren ihren Höhepunkt hatte).178 Mit der Erfindung der Töpferscheibe (eine der ältesten Basisinnovationen der Menschheit) wurde schließlich eine Handwerkskunst mit Möglichkeiten zur Serienfertigung erfunden – und die älteste Manufaktur der Menschheit geschaffen: das Töpferhandwerk.179
Die ältesten Keramikfiguren sind über 24 000 Jahre alt, Keramikgefäße sind etwa 18 000 Jahre alt und stammen aus China (dazu auch Wikipedia: Töpferei). Es ist gut vorstellbar, dass die Vorläufer der bauchigen Keramikgefäße (Vasenformen) in den Wandungen der wiederholt benutzten Erdöfen entstanden sind, die nach oben etwas verjüngt waren. Die durch Hitzeeinwirkung gerissenen Innenwände wurden wahrscheinlich regelmäßig mit Lehm verschmiert, sodass dann die glutartige Hitze der darin eingelegten Steine nach und nach ein im Erdreich gebranntes volumiges Tongefäß entstehen ließ (dazu auch Wikipedia: Keramik). Vielleicht war es eine Art 'Urmuster' der uns heute vertrauten unzähligen vasenähnlichen Gefäße, in denen wir Naturalien bewahren oder die wir mit Wasser, Wein oder Öl befüllen.
5.2 Gefäße ermöglichen das Garen in Wasser
Mit dem Aufkommen einer Gefäßkultur180 wurde die uralte Praxis, Kokosnussschalen, Schädelkalotten, Straußeneier oder Kalebassen als Behältnisse zu verwenden, verdrängt (LEAKEY; LEWIN 1986). Nun konnten Lebensmittel und Flüssigkeiten nicht nur länger gelagert und vor Tierfraß geschützt (bisher in Körben oder Fellbeuteln), sondern auch direkt auf die Glut gestellt werden. Gefäße, die das Essen nicht nur vor direktem Feuer schützen, starke Verbrennungen oder Verschmutzung durch Sand oder Asche verhindern, können mit unterschiedlichen Rohstoffen befüllt werden, die gemeinsam garen. Das war etwas grundlegend Neues in der sich entwickelnden Zubereitungstechnologie. Mit der Herstellung und Nutzung gartauglicher Gefäße veränderte sich das Ernährungsspektrum in bisher nicht gekanntem Ausmaß. Vermutlich begannen hier auch die ersten Aromaexperimente mit Rohstoffen, die in Wasser gegart wurden (Entdeckung der Wasseraromatisierung). Damit war eine Zubereitungsmöglichkeit erfunden worden, die Schmackhaftigkeit weit über das Gegebene hinaus erzeugte. Es war der Beginn einer »aromaorientierten Zubereitung«, die den Coctivor (MUTH; POLLMER 2010), den kochenden Menschen, zum Homo sapiens, dem 'erkennenden' (wissenden) und schmeckenden Menschen machte. Dieser 'weiß', wie man Rohstoffe schmackhaft zubereitet.
5.3 Von der Beobachtung zur Zubereitung – Übersicht
Es ist davon auszugehen, dass alle Verfahrenstechniken zunächst auf Beobachtungen zurückgehen, die unsere Vorfahren in ihren Habitaten und natürlichen Lebenswelten machen konnten. Es sind physikalische und chemische Faktoren – natürliche Wechselwirkungen aufgrund von Naturkonstanten – die ihre Rohstoffe veränderten.
Tabelle 1 Übersicht: Von der Beobachtung der Zubereitung
Beobachtung | Effekte |
Trocknungsvorgänge | Pflanzen: Einige Pflanzen sind lagerfähig, trocknen, ohne rasch zu verderben; der Gehalt an aromaintensiven Inhaltsstoffen erhöht sich im Maße der Verdunstung; »Vorläufer« der Gewürze Tierische Nahrung: An windigen (kühlen) Stellen (Steilküsten) trocknet gelagerter Fisch und bleibt länger haltbar; Salz – z. T. durch Verdunstung von Meerwasser am Fels haftend – erhöht die Lager-fähigkeit. Jagdbeute wird aus Schutz vor Fraß im Geäst aufgehängt, wobei Trocknungseffekte auftreten, die ihre relative Haltbarkeit erkennen lassen |
Quellvorgänge | Getrocknete Pflanzen, Körner verändern in Wasser ihre festen, trockenen Eigenschaften; werden weicher und z. T. saftig; heißes Wasser beschleunigt diese Vorgänge – lässt Stärke verkleistern |
Wirkung thermischer Strahlung – Lagerfeuer | Erbeutete Tiere werden zum Lagerplatz geschleppt und in unmittelbarer Nähe des Lagerfeuers abgelegt, mit Steinklingen zerteilt und verzehrt. Aufgrund der Wärmestrahlung rösten/denaturieren Teile des Fleisches (Grilleffekt) an jenen Stellen, die dichter am Feuer liegen. Fleischmahlzeiten bestehen daher sowohl aus rohen als auch gegarten Teilen. Die zunehmende Präferenz für Gegartes erklärt sich aus der besseren Verdaubarkeit und verbesserter Genusswerte |
Gareffekte auf heißen Steinen / in heißem Sand, heißen Quellen | Besonders durch Lagerfeuer erhitztes Gestein (o. erhitzter Sand) speichert für lange Zeit Hitze; Rohstoffe aller Art, die darauf/darin liegen, werden »gar«; gleiches gilt für heiße Thermalquellen, die bis zu 100°C heißes Wasser oder heißen Wasserdampf ausstoßen können |
Gareffekte in heißer Asche/Glut | Pflanzen und stärkereiche Knollen, die sich neben/unter lange brennenden (glimmenden) Harthölzern befinden, verändern ihre Konsistenz: werden weicher, verkleistern. Als natürlicher Trenn- u. Glutschutz eignen sich Blätter oder ein Lehmmantel |
Gär- und Fermentierungsprozesse | Fruchtmark, Fruchtfleisch wurde/wird mit natürlich vorkommenden Hefen vergoren (vermutlich zuerst vor etwa 9000 Jahren in China); auch Stärkebrei lässt sich mittels Speichelamylase fermentieren; Ursprung der Bierherstellung (historisch jüngeren Datums: etwa 5000 Jahre v.Ch.) in China; Göbekli Tepe (Türkei) |
Dickwerden der Milch | In Mägen der Kälber fand man Quark: Dicklegung erfolgt durch das Labferment Chymosin (auch Rennin), ein Milchgerinnungsenzym aus der Schleimhaut des Labmagens (wird heute gentechnisch hergestellt) |
Effekte des Salzens/ Räucherns/Säuerns | Haltbarkeitseffekte (besonders bei tierischen LM) wurden zufällig erkannt; Salz ist hygroskopisch, führt zur Herabsetzung des aw-Wertes; Rauchschwaden des Feuers reduzieren ebenfalls freies Wasser; Aerosole und Säuren (Essigsäure, Milchsäure) sind u. a. bakterizid, verbessern die Haltbarkeit |
Geschmacksunterschiede, Wasseraromatisierung | Gelagertes Fleisch verdirbt weniger rasch, wenn es mit bestimmten Pflanzen (den späteren 'Gewürzen') eingewickelt transportiert/gelagert wird; aus zeitökonomischen Gründen werden Rohstoffanteile gleichzeitig in derselben Flüssigkeit gegart, die ein entsprechendes Aroma erhält |
170 Der Gebrauch von Feuer wurde in Swartkrans auf bis vor 1 Million Jahre datiert und wird als zweitältester bekannter Nachweis für die Nutzung des Feuers in der Welt angesehen; dazu auch Wikipedia: Swartkrans. Aus heutiger Sicht wird der Gebrauch des Feuers zur Herstellung leichter verdaulicher Nahrung als die eigentliche Ursache für die Entwicklung zum vernunftbegabten Menschen gesehen (WRANGHAM 2009)
171 Die Länge und Dauer des Weges wird vom Tagesrhythmus (Helligkeitsdauer) bestimmt. Auf diese Weise gibt es ein natürliches Gleichgewicht zwischen dem Sammelerfolg (Nahrungsmenge) und der Populationsgröße des Dorfes. Es können maximal so viele Menschen ernährt werden, wie der Sammelerfolg in einem Ablauf-Radius um das Dorf ermöglicht. Je nach Region und Klimagürtel sind das zwischen 35 und 65 Menschen (LEAKEY; LEWIN 1980)
172 Noch im letzten Jahrhundert warfen Landarbeiter liegengebliebene Kartoffeln nach der Kartoffelernte in die Glut/ Asche des verbrennenden Kartoffelkrauts
173 Asche-/Erdanhaftungen oder der Verzehr spezieller Tonerden (Geophagie) dienen manchen Populationen auch als Mittel zur Entgiftung von kochstabilen Alkaloiden (z. B. Blausäure – hemmt die Atmungskette in den Mitochondrien); a. a. O., S. 47
174 A. a. O., S. 133
175 Offenbar verfügen sie über 'Kenntnisse', welche Pflanzen sich zu diesem Zweck – der Herstellung von 'Dschungelwürsten' – eignen. Auch belegen diese Techniken, dass alle Teile des Tieres verwendet werden
176 Der Wasserstand der Mulde ist mit dem Wasserspiegel des Baches auf gleicher Höhe und versickert nicht (physikalisches »Prinzip kommunizierender Röhren/Gefäße«)
177 Auch Aborigines in Australien verwenden bis heute unterschiedliche Formen von Erdöfen; ebenso kalifornische Indianer, in der Karibik und Südamerika; siehe auch Wikipedia: Kochstein
178 Sehr informativ dazu auch Wikipedia: Urgeschichte
179 Das Töpferhandwerk hat eine Vielzahl weiterer kulturbedeutsamer Techniken nach sich gezogen, z.B. ein »Expertenwissen« über Bodenbeschaffenheit, Brenn-, Lager- und Transporttechniken, sowie die verschiedenen Anwendungsmöglichkeiten und den Handel mit diesen neuen Gebrauchsgegenständen
180 Fragmente von Keramikgefäßen wurden in einer Höhle in der chinesischen Provinz Jiangxi gefunden und sind etwa 20 000 Jahre alt. An den Keramik-Scherben aus der Xianrendong-Höhle wurden Brandspuren entdeckt, die ihre Verwendung als Kochgefäße erkennen lassen (WEBER 2012). Tatsächlich ist die Verwendung von Gefäßen auch zu Garzwecken vermutlich wesentlich älter – nur kann das nicht belegt werden, weil entsprechende Funde fehlen