Читать книгу Geschmackssache oder Warum wir kochen - Günther Henzel - Страница 9

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3 Der lange Weg zum Kochhandwerk

Unvorstellbar große Zeiträume liegen zwischen den allerersten Steinbearbeitungen (Chopper) (HOFFMANN 2014)76 der Vor- und Frühmenschen und den handwerklichen Fähigkeiten von Homo sapiens, der vor etwa 44 000 Jahren als moderner afrikanischer Mensch nach Europa und Ostasien einwanderte und vor etwa 12 000 Jahren seine nomadisierende Jäger- und Sammler-Lebensweise aufgab (WONG 2015). Er begann Tiere zu domestizieren, Pflanzen zu züchten, Stallungen und einfache Häuser zu errichten, Felder zu bestellen und zu bewässern. Homo erectus, der zuvor etwa eine Million Jahre überwiegend vom Jagen und Sammeln lebte (LEAKEY 1980),77 wurde sesshaft und legte damit den Grundstein dessen, was wir Kultur nennen (KYTZLER; REDEMUND 1995).78

Hintergrundinformationen

Die oben skizzierte Entwicklung fällt in die Phase der Klimaänderung am Ende der Eiszeit vor etwa 10 000 v. Chr.,79 dem Holozän (griech. hólos »ganz, gänzlich«, kainós »neu«) – die nacheiszeitliche Warmzeit bis heute. Es ist der Beginn der Jungsteinzeit (Neolithikum) und der Anfang der sog. »neolithischen Revolution«, in der erstmals Weizen, Gerste, Einkorn, Emmer, Dinkel und u. a. Schafe, Ziegen und Rinder domestiziert wurden. Die Entwicklung der Landwirtschaft vollzog sich im Gebiet des Fruchtbaren Halbmonds. Klimatisch ist das ein Winterregengebiet, das sich vom Persischen Golf, dem heutigen Irak, über Syrien bis nach Israel erstreckt.80 In mythologischen Erzählungen (biblischer Urquellen) wird besonders diese Region (Mesopotamien) erwähnt und als »Garten Eden« (ein landwirtschaftliches Paradies) verortet (CLINE 2016).

Um von einer nomadisierenden Lebensweise zur bäuerlichen Existenzwirtschaft zu wechseln, sind nicht nur Wissen über ertragreiche Pflanzen und Tierhaltung, Bodenbeschaffenheit, jahreszeitabhängiges Einsäen und Ernten, Lagerhaltung und Haltbarmachung von Nahrung (und kooperatives Verhalten) unabdingbar, sondern eben auch handwerkliches Vermögen. Letzteres ist z. B. in uralten Steinwerkzeugen, Geräten, Gefäßen, Waffen oder Schmuck (sog. dinglichen Erzeugnissen) der Nachwelt erhalten geblieben, die wir archäologisch zu- und einordnen können (BEHRINGER 2010). Dieser Forschungszweig füllt inzwischen Bibliotheken. Allerdings fehlen in den Auswertungen archäologischer Fundstellen durchgängig Belege oder Hinweise auf einen Wandel des prozeduralen Fortschritts auch in der Nahrungszubereitung. Es werden grundsätzlich nur Rohstoffe genannt (ggf. die Art ihrer thermischen Bearbeitung und benutzte Holzarten) (a. a. O., S. 164 f.), die an den untersuchten Stellen gefunden wurden. Angaben jüngeren Datums (Neolithikum 5000–2000 v. Chr.) erwähnen zwar die »gezielte Produktion von Nahrungsmitteln, mit entsprechend verbesserten Techniken der Nahrungszubereitung« (BEHRINGER 2010; S. 59), doch was mit verbesserter Zubereitung gemeint ist, bleibt offen. Grund: Zubereitungen sind nicht konservierbare Prozesse. Spezielle Verfahren, technische Finessen, die es vermutlich in Ansätzen auch schon in prähistorischen Zeiten gab und deren Produkte dem archaischen Homo sapiens besonders mundeten, lassen sich weder belegen noch rekonstruieren – schon gar nicht, wenn es dabei um aromatische oder gesundheitliche Aspekte geht.

Trotz dieser Nachweisprobleme in Sachen Zubereitung müssen regionaltypische Verfahrenstechniken, z. B. Lufttrocknung, Salzlagerung, Räuchern, 'Sauer einlegen' (= 'Fermentieren'), Rohstoffkombinationen und die Verwendung von Kräutern und Gewürzen, Ernährungsvorteile gebracht haben. Weshalb sonst hätten sich diese Verfahren bis in die Gegenwart hinein bewahrt? Da das Nahrungsangebot je nach Klima und Jahreszeit variierte, sich dessen Nutzungsmöglichkeit durch Zubereitungstechniken erweiterte, wuchs insbesondere das Wissen über jene Verfahren, mit denen die Genusswerte und Ernährungswerte verbessert werden konnten. Nur diese Techniken haben sich durchgesetzt und wurden an die nächste Generation weitergegeben. Daraus erwuchs eine Handwerkskunst, die es vermochte, aus roh ungenießbaren oder schwer verdaulichen Rohstoffen schmackhaftes und nahrhaftes Essen zu machen.

Weshalb und wie der Mensch diese Verfahren überhaupt erfinden und schrittweise weiterentwickeln konnte, bleibt vermutlich für immer eine unbeschriebene Seite im Buch der Kochkunstentstehung. Schließlich gab es für die Anfänge, die allerersten Schritte dieser Verfahren, weder »Vorbilder« noch »Wissende«, die die ‚richtigen‘ Handhabungen (schon) kannten oder zeigen konnten. Die Möglichkeit, den ‚Geschmack‘ der Rohstoffe zu verändern, musste erst einmal ‚erkannt‘ werden, bevor sie zur regelhaften (kenntnisbasierten) Zubereitungstechnik werden konnte. Nur wie? Meine Hypothese: Die Nahrungsbearbeitung, das gezielte Verändern von Rohstoffen, hat sich aus der aufmerksamen (der ‚merkenden‘) Beobachtung der Lebenswirklichkeit entwickelt: den wiederkehrenden Wirkungen von Wasser, Sonne und Lagereffekten auf Rohstoffe, dem Erkennen ihrer physikalischen Eigenschaften und Wandelbarkeit.

Diese Arbeitshypothese unterstellt, dass der frühe Mensch nicht nur die Handlungen seiner Artgenossen nachahmte, sondern eben auch das, was ihm die Natur ‚vormachte‘. Demnach war es die Natur selbst, gaben natürliche Ereignisse die »Lehrstunden« für die gezielten Aktivitäten der Hominini im Umgang mit Rohstoffen. Einmal erworbene Verfahrenstechniken wurden durch dauerndes Üben perfektioniert und durch Vormachen (Zeigen) an die nächste Generation weitergegeben. Die Weitergabe von Können (und Wissen) – das Voneinanderlernen – ist »das eigentlich definierende Kennzeichen von menschlicher Kultur«, das den Menschen weit von anderen Primaten abhebt (STOUT 2016).

Die Anfänge der Gartechniken werden mit Feuer und Heißstein-Gartechniken (auch in Erdmulden) (BEHRINGER 2010; S.60) in Verbindung gebracht. Entwicklungsgeschichtlich sind diese aber bereits »vollendete Tatsachen«, sie existieren und werden angewendet. Gleiches gilt für die an vielen Orten der Welt Jahrtausende lang praktizierte Gruben-Gartechnik (HARRER 1988).81 Zwischen diesen belegten Verfahrenstechniken und jenen unserer ältesten afrikanischen Vorfahren liegen grob eine Million Jahre »Entwicklung« im Dunkeln. Denkbar ist, dass es zwischen den ersten »Feuergar-Experimenten« von Homo erectus und den Gartechniken heutiger indigener Völker keine weiteren bedeutenden Entwicklungsschritte gegeben hatte. Warum? Wo Feuer (lange) brennt, werden Sand und Steine durch Wärmeleitung heiß und bleiben es auch für lange Zeit, selbst wenn das Feuer erloschen ist. Diese natürliche Wärmespeicherung bot Möglichkeiten, Rohstoffe auch ohne direkte Feuerwirkung zu garen, da sich die kinetische Energie (Wärme) direkt auf (stets wasserhaltige) Rohstoffe überträgt. Der dabei von selbst ablaufende ‚Garvorgang‘ stand im Verhältnis zur Dauer der Wirkung (ein Zeitfaktor). Im absichtsvollen Herbeiführen dieses thermischen Prozesses musste man sich lediglich in Geduld üben (Unterdrückung des Essverlangens) – nicht aber komplexe Fertigungstechniken beherrschen.82 Solche temperaturabhängigen »Lagereffekte« waren zufällig beobachtet worden, und weil diese »gegarten« Rohstoffe vermutlich sensorisch attraktiver waren als in ihrer natürlichen Beschaffenheit (warm, zart, ‚leckerbissenartig‘), wurde dieser Effekt erinnert und gezielt angewendet.

Als Leckerbissen bezeichnen wir jene Rohstoffe, deren Genuss uns »das Wasser« im Mund zusammenlaufen lässt (der vorab sezernierte Speichelfluss) – eine vom vegetativen »Gedächtnis« des Menschen ausgelöste Reaktion auf Geschmackvolles = Gutes (LOGUE 1995), (POLLMER 2003). Auch Homo sapiens wird bei der Zubereitung zunehmend ein Gespür für ‚passende‘ Rohstoffkombinationen und vorteilhafte Aromaeffekte entwickelt haben.83 Dazu waren – neben Kompetenzen im Umgang mit Feuer und Glut (mit heißen Steinen, heißem Sand, heißer Asche, siedendem Wasser) – entsprechende Gerätschaften notwendig (z. B. hitzestabile Hohlgefäße). Spätestens mit Letzteren entwickelte sich »Kochen« zum eigenständigen Handwerk. Mit der Entwicklung von Haltbarkeits- und Konservierungstechniken konnten schließlich verderbliche Rohstoffe bevorratet werden und/oder wurden als Proviant transportabel.

Dennoch: Die Frage nach dem Wie und Warum sich dieses »Zubereitungs-Handwerk« bei den Vorläufern des Menschen (den Hominini) entwickeln konnte, ist nicht wirklich beantwortet. Hier kann unsere o. g. Arbeitshypothese – das 'Lernen aus/von Naturphänomenen' – weiterhelfen. Dazu gehen wir gedanklich noch einmal weit in ihre steinzeitliche Lebensweise zurück und versuchen jene »Handlungsauslöser« zu finden, die Homo erectus zur Bearbeitung von Rohstoffen angeregt haben (könnte).

3.1 Am Anfang war die Beobachtung

Nahezu alle handwerklichen Fähigkeiten haben sich ursprünglich aus jeweils primitiveren Vorstufen entwickelt. Wie und weshalb nur die Vorläufer des modernen Menschen manuelle Techniken entwickeln haben, unsere nächsten Verwandten (Schimpansen) aber nicht, obwohl sie ebenfalls über Arme und Beine verfügen und zeitgleich lebten, beginnt man erst jetzt zu verstehen. Neuere bildgebende Verfahren (DTI-Aufnahmen),84 die verschiedene Gehirnbereiche von Mensch und Schimpansen sichtbar machen können, belegen, dass sich jene Areale zwischen Mensch und Schimpanse erkennbar unterscheiden, die bei handwerklicher Tätigkeit aktiv sind: Die Nervenstränge sind beim Menschen stärker ausgeprägt,85 insbesondere jene, die hin zur rechten unteren Stirnwindung verlaufen, die auch für die Impulskontrolle zuständig sind (STOUT 2016). Offenbar hat die nachweislich rasante Gehirnentwicklung den Menschen zum »Handwerker« (Homo ergaster) und schließlich zum »Homo sapiens artifex« (dem künstlerischen Mensch) werden lassen – aber auch der umgekehrte Fall wird diskutiert. »Was von beiden Ursache und was Folge war, erzählen die Fossilien nicht« (STOUT 2016).

Die Gehirngröße allein aber erklärt noch nicht »von selbst« das Motiv, Steinwerkzeuge, scharfe Klingen, Waffen und schließlich Artefakte aller Art herzustellen. Im Kern geht es um die Beantwortung der Frage, was den Produktionswillen, den Handlungseifer angestoßen hat, gestaltend auf Gegenstände oder Nahrungsobjekte einzuwirken (auch mittels Feuer). Dieses zielstrebige Verfolgen eines handwerklichen Produktes kennen andere Primaten nicht einmal ansatzweise. Bezogen auf unsere Thematik stellt sich die Frage, wie aus einfachen Bearbeitungsschritten (die viele Primatenspezies kennen und täglich anwenden) komplexe Techniken der Zubereitung entstehen konnten. Versuch einer Antwort:

3.2 Von der Beobachtung zur Handlung

Die ersten einfachen (und kognitiv anspruchslosen) Handlungen haben sich vermutlich durch die Nachahmung eines natürlichen (mechanischen) Vorgangs entwickelt, der zufällig beobachtet worden war und Aufmerksamkeit erzeugte. Das kann das Bestaunen des eigenen Produkts bzw. »Erfolgs« gewesen sein, wenn z. B. beim Gegeneinanderschlagen von Steinen Splitter entstanden und/oder wenn das »Nachmachen« von etwas Gesehenem einen direkten Nutzen hatte (PFAFFENZELLER 2016), (HARRER 1988).86, 87 Immer dann, wenn ein natürlicher Vorgang Aufmerksamkeit auslöste, der auch »mit Händen und Füßen« nachgemacht oder herbeigeführt werden konnte, lag in diesem Gesehenen ein »Urmuster« für eigenes Tun. Nur wenige Beispiele mögen das belegen:

Das Hineinblasen in die schwach glimmende Glut erzeugt die gesehene Wirkung starker Winde, und das Löschen von Flammen mit Wasser hatte u. a. der Regen vorgemacht. Sicher nicht zuletzt deswegen verlagerte Homo sein Lagerfeuer vorzugsweise unter Felsüberhänge (Abris) oder in Höhlen (so diese vorhanden waren), wodurch er als »Mitnahmeeffekte« die Erwärmung des Raumes (und die Wärmespeicherung der Wände) und das Abplatzen von Gesteinsflächen (bei extremer Feuerwirkung) beobachten konnte (HARRER 1988).88 Ein umgestürzter Baum überbrückte eine gefährliche Stromschnelle und regte eine Holzüberquerung da an, wo der Weg sonst zu Ende gewesen wäre; ein im Wasser treibender Stamm war das Vorbild des Einbaums. Josef REICHHOLF vermutet sogar, dass die Frühmenschen das Aufschlagen von Röhrenknochen und Schädelkalotten von zwei Geiertypen abgeschaut haben könnten: von den Bartgeiern, die Knochen aus der Luft über Felsen abwerfen, um nach dem Zersplittern an das Mark zu gelangen und den Schmutzgeiern, die mit Steinen im Schnabel Straußeneier aufschlagen (ihre Schnäbel wären dazu nicht hart genug) (REICHHOLF 2008).89 Homo habilis wird nach diesen Beobachtungen faustkeilartige Steine (Chopper) verwendet haben. Schließlich haben u. a. Lavaströme im ostafrikanischen Grabenbruch gezeigt, wie Steppenbrände entstehen und welche Folgen diese für ihren Lebensraum hatten: verkohlte Landstriche, heiße Steine und Böden, verendetes Getier, denaturierte Knollen im Boden. Dies alles lieferte ein ganzes Bündel beobachtbarer Effekte, die allesamt mit Feuer in Verbindung stehen. Für den gezielten manuellen Einsatz von Feuer als »ernergetisches Werkzeug« (eine kognitiv anspruchsvolle Ebene der Anwendung von Beobachtetem) waren vermutlich jedoch nicht die verheerenden Steppenbrände entscheidend, sondern vielmehr der dauernde Kontakt an kleineren Feuerstellen: den Lagerfeuern.

3.3 Der Fellverlust zwang zum Aufenthalt am Lagerfeuer

Der Aufenthalt am Lagerfeuer war für die in der Savanne lebenden HomoSpezies spätestens nach dem Verlust ihrer Körperbehaarung notwendig geworden, da die nächtlichen Temperaturen von etwa 10°C bis 12°C ihnen zu kühl gewesen sein mussten. Nächtliche Lagerfeuer wurden deshalb zur zentralen Existenzsicherung. Deren Wärmestrahlung sorgte aber nicht nur für wohlige Wärme, sondern wirkte auch auf erbeutetes Fleisch, wenn dieses (ohne Felldecke) nahe an der Glut lag: die Oberfläche begann stellenweise zu rösten und inneres Muskelgewebe zu denaturieren. Genau hier lag die für die Entwicklung von Gartechniken alles entscheidende Erfahrung: Diese Stellen waren aromatisch auffällig, sie schmeckten besser (!) als rohes Fleisch (dazu: Der Tagesspiegel 2015). Die dafür notwendige Prozessdauer (die u. a. mit dem Abstand zur Glut variiert), wurde aus unzähligen Lagerfeuererfahrungen verinnerlicht. Das Produktziel, schmackhafteres Fleisch, war ohne Wartezeit (ein Aspekt der Impulskontrolle) nicht zu erreichen – eine unhintergehbare Notwendigkeit.

Neben dem Hauptfaktor Feuer90 waren für das Entstehen und die Entwicklung von Vor- und Zubereitungstechniken eine Vielzahl weiterer Naturbeobachtungen und Erfahrungen vorausgegangen: Der häufige Umgang mit Wasser ließ Quellvorgänge erkennen; ebenso Trocknungseffekte und deren Auswirkung auf das Aroma (besonders bei Pflanzen oder süßen Früchten), wenn diese länger lagerten. Auch lernte Homo, Verdorbenes und Giftiges rechtzeitig u. a. am Duft zu erkennen – zu riechen war stets ungefährlicher als zu probieren. Ein weiterer bedeutender Schritt war die Entdeckung der »Wasser-Aromatisierung« und die Möglichkeit, »neue« Aromen durch Rohstoffkombinationen (insbesondere auch in Flüssigkeiten) herzustellen. All diese Beobachtungen zusammen bildeten den praktischen und kognitiven (durch Erfahrungslernen erworbenen) Hintergrund für den gezielten Umgang mit Nahrung, den wir heute als »Kochen« bezeichnen.

3.4 Der Faktor Wasser

Homo erectus lebte, wie erwähnt, in wildreichen, savannenartigen Gebieten des ostafrikanischen Hochlands und, besonders während der trockenen Jahreszeit, am Ufer flacher Gewässer (LEAKEY 1980). Das sicherte nicht nur den täglichen Süßwasserbedarf, sondern hier gab es auch viel zu beobachten und wohl auch die Möglichkeit, Tiere in Wassernähe zu erlegen (LEAKEY 1980).91 Was sich über viele Jahrhunderttausende an solchen Wasserstellen tagein, tagaus zugetragen hat, ist für unsere Überlegung nachrangig. Die ältesten Steinwerkzeuge, mit denen Homo erectus Tierkörper zerlegte und Röhrenknochen zerschlagen hatte, wurden am Turkanasee (früher Rudolfsee) in Kenia gefunden.92 Dass er der erste Primat war, der sich auch von Großtieren ernährte, gilt inzwischen als unstrittig (REICHHOLF 2008).

Hintergrundinformationen

Gejagt hat er aber überwiegend in der Weite des Landes, in der es eine Megafauna von Säugetieren in unvorstellbarem Ausmaß gegeben haben muss. Reichholf begründet diesen Sachverhalt mit der Evolution der Geier, die selbst nicht jagen und völlig von der Verfügbarkeit toter Tiere abhängig sind, die es deshalb in Hülle und Fülle geben haben muss. Dass Homo bei der Jagd erfolgreich war, hängt unter anderem mit seiner Fähigkeit zu schnellem Lauf (Sprint) und Dauerlauf zusammen. Nur wer zuerst am frisch verendeten Tier war, konnte sich mit einigen guten Fleischstücken versorgen und sie mit zur Gruppe bringen, bevor andere Großtiere auftauchten. Reichholf vermutet, dass wir deshalb den Sieger bei Wettläufen so bewundern; auch habe sich unser Rechtsempfinden aus dem »Wer-war-zuerst-da«? entwickelt, das das »Recht des Stärkeren« in der Gemeinschaft in Bezug auf den Zugriff von Nahrung ablöste (REICHHOLF 2008; S. 111).

Für unsere Überlegungen zum Faktor Wasser sind vor allem die Lagerplätze in Wassernähe bedeutsam. Da sich Homo erectus nicht ausschließlich von Fleisch ernährte, sondern regelmäßig die Gebiete auch nach nahrhaften Pflanzen, Nüssen, Früchten und stärkereichen Knollen absuchte, wird er dieses Sammelgut auch mit ans Ufer getragen haben. Zufällig (oder aus anderen Gründen) sind Knollen ins flache Wasser geraten, deren anschließender Verzehr das Mundgefühl verbesserte: Sie waren weniger sandig.93 Diesen »Wasser-Reinigungseffekt« gab es sicher auch, wenn starke Regenfälle auf frei liegende Wurzeln und Knollen niedergegangen waren. Der verbesserte sensorische Wert, das angenehmere Mundgefühl, war (und ist) der Impuls, Erdanhaftungen stets zu entfernen (womit zugleich anhaftende Keime mit abgespült werden). Gleiches gilt noch heute, wenn wir Obst, Kartoffeln und Gemüse mit viel Wasser säubern. Es war sicher nur eine Frage der Zeit, bis sich das Reinigen mit Wasser als wiederkehrende, regelhafte »Vorarbeit« etabliert hatte (dazu: CARPENTER 1967, wiss. Film).94 So kamen Rohstoffe nun wiederholt mit Wasser in Berührung, was zu weiteren Beobachtungen führen sollte: Z. B. wurden (an)getrocknete Pflanzen,95 Knollen, Wurzelteile oder Körner, die länger im Wasser gelegen hatten, weicher und saftiger.

3.4.1 Wasser macht quellfähige Rohstoffe weich und saftig

Die Empfindungen 'weich' und 'saftig' signalisieren dem Organismus vorteilhafte Nahrungseigenschaften und werden präferiert (LOGUE 1995). Trockene und harte Substanzen erfordern intensives energieverbrauchendes Kauen und haben eine ungünstigere »Aufwand-Nutzen-Bilanz«.96 Nahezu alle höheren Lebewesen verfügen bei der Wahl ihrer Nahrung über biologische Kontrollmechanismen für Nahrungseffizienz, deren genetische Basis weit in die Anfänge ihrer Evolution zurückreichen. Auf diese Weise werden, wie bereits erwähnt, optimale Nahrungseigenschaften erkannt und langes Kauen auf wertlosen (nährstoffarmen) Anteilen vermieden.

Die moderne Kochkunst steckt voller Techniken, die unsere Rohstoffe weich, saftig und locker (luftig) machen. Gegartes Fleisch muss zart und saftig sein, um uns besonders zu gefallen. Nur Gemüse soll(te) nach heutigem Verständnis noch einen »Biss« haben (was fälschlicherweise mit höheren Nährstoffanteilen assoziiert wird – aber nur vollgares Gemüse kann vom Organismus optimal ausgewertet werden; POLLMER; WARMUTH 2002). Vollgares Gemüse ist nicht mehr »knackig«, hat keinen »Biss«, sondern einen weichen, rohstoffspezifischen Kauwiderstand. Welche Nahrungseigenschaften für den Organismus vorteilhaft sind, entscheidet nicht der Verstand, sondern unterliegt der vegetativen Kontrolle (LOGUE 1995), weshalb auch Tiere die für sie optimale Nahrung (instinktiv) finden. Insofern sind anregende sensorische Merkmale (Duft, Geschmack, Aussehen, Textur) nichts anderes als physische Stimuli, die den Organismus auf das Bessere lenken (sollen).

Unser fiktiver Homo wird solche sensorisch attraktiven Merkmale im täglichen Umgang mit Wasser erkannt und weiche, gequollene Rohstoffe bevorzugt haben. Befand sich der Lagerplatz nicht in unmittelbarer Nähe eines Ufers oder einer Quelle (Brunnen) (Gebr. GRIMM 1935–1984),97 hatte er die Möglichkeit, Wasser (mit Rohhautbeuteln, Tiermägen oder Kalebassen etc.) zu transportieren und in Steinmulden oder anderen Erdhöhlungen kurzzeitig vorzuhalten.98 Ausgehöhlte Baumstämme (Vorläufer der Holztröge und des Einbaums) gab es zu dieser Zeit noch nicht, weil die dafür benötigten Steinäxte und Holzbearbeitungstechniken noch nicht erfunden worden waren. Inzwischen finden sich Holztröge überall auf der Welt, die u. a. als Wasserbehältnisse und Tiertränken verwendet werden.99

Hintergrundinformationen

Weichheit und Saftigkeit werden präferiert (MUTH; POLLMER 2010)100 und sind konnotativ positiv besetzt. Diese Sinneseindrücke tragen eine Art Schlüsselbotschaft in sich, die aus der Vielheit der haptischen Eindrücke besonders hervortritt. Mechanorezeptoren der Haut, die Objekteigenschaften erfühlen und unseren Körper 'informieren', liegen im Mundraum und auf der Zungenspitze besonders dicht (1–5 mm Abstand; siehe auch Wikipedia: haptische Wahrnehmung). Weichheit korrespondiert entweder mit gequollenen, elastischen Zellwandbestandteilen und /oder mit einer elastischen Porosität. Saftigkeit signalisiert hohe Flüssigkeitsanteile, mit der auch der Durst gestillt werden kann. In diesen sensorischen Phänomenen liegen ernährungsphysiologische Vorteile, die z. B. die Resorptionsgeschwindigkeit und den Energieverbrauch (ATP-Bedarf) betreffen, da bei gequollener Nahrung weniger Hydrolasentätigkeit anfällt. Für eine optimale Verdauung und Absorption der Nährstoffe wird ein bestimmtes Verhältnis von festen Molekülen und Wasser im Magen-Darm-Trakt benötigt (LOGUE 1995; S. 93 f.), das offenbar aus der Beschaffenheit der Nahrung bereits im Mundraum »abgelesen« werden kann.

Nur kleinste Bausteine sind resorbierbar. Kompakte Moleküle müssen daher erst hydrolytisch zerlegt werden. Um beispielsweise 1000 Glukoseeinheiten aus einem Stärkemolekül zu zerlegen, werden 999 Moleküle H2O benötigt. Der extrem hohe Wasseranteil von Obst dient in erster Linie der Durststillung; für Hydrolasentätigkeiten (Abbau der Pektinanteile) wird deutlich weniger Hydratationswasser benötigt als bei stärke-, fett- und eiweißreicher Nahrung (LOGUE 1995): „Wir antizipieren einen späteren Bedarf an Wasser und nutzen momentan verfügbares Wasser, um einem Defizit zuvorzukommen“; ein Aspekt des »antizipatorischen Trinkens«; a. a. O., S. 85 ff.

3.4.2 Wasser entgiftet

Homo erectus sollte eine entscheidende Erfahrung mit pflanzlichen Rohstoffen machen, die (zufällig) länger im Wasser gelegen hatten: sensorische Missempfindungen oder körperliche Probleme, die sonst nach dem Verzehr dieser Gewächse gelegentlich auftraten, blieben aus (z. B. waren sie nicht mehr bitter, betäubende Effekte oder Schwindel- und Krämpfe traten nicht mehr auf), weil wasserlösliche Gifte (u.a. Amygdalin, Linamarin, Blausäure)101 – deren Toxizität vor allem dosisabhängig ist – größtenteils ins Wasser übergetreten waren. Bevor jedoch dieser Auslaugeffekt erkannt war und das Einlegen bestimmter Knollen und Pflanzen in Wasser zu den regelmäßigen 'Vorarbeiten' gehören konnte, waren unzählige Erfahrungen zur Dauer (wie lange muss der Rohstoff im Wasser verbleiben?) und zum Zustand (Bearbeitungsgrad: Ab welcher Größe ist die Entgiftung erfolgreich?) vorausgegangen. Dass Homo schließlich diese Zusammenhänge überhaupt erkennen konnte, setzte kognitive Fähigkeiten voraus. Nicht nur, dass er wiederkehrende sensorische Eindrücke für längere Zeit erinnern und deren körperliche »Nachwirkungen« mit Nahrungsmerkmalen in Verbindung bringen können musste – er musste auch das Ausbleiben dieser negativen Körperempfinden als Folge der Wasserwirkung erkennen. Eine grundlegende Einsicht, die die Machbarkeit von Verbesserungen durch handwerkliches Tun ins Bewusstsein treten ließ – die kognitive Basis für alle nachfolgenden Entwicklungsschritte im Umgang mit Rohstoffen.

Auch intensives Kochen hat eine entgiftende und entkeimende Wirkung (wozu allerdings hitzestabile Gefäße notwendig waren, über die Homo sapiens etwa seit 20 000 Jahren verfügte – vermutlich aber schon früher – was jedoch nicht belegt ist). Spätestens mit der Besiedelung Europas und der Sesshaftwerdung wird Homo diese (heute weltweit üblichen) Entgiftungspraktiken gekannt und eingesetzt haben (siehe auch Wikipedia: Maniok).102,103 Wer diese nicht kannte oder missachtete und regional übliche Knollen oder Pflanzenfrüchte ohne vorherige (ausreichende) Wasserbehandlung trotzdem verzehrte, brachte sich in Lebensgefahr (dazu: Hintergrundinformationen).

Hintergrundinformationen

Im Jahr 1860 starben bei einer großen englischen Expedition in Australien u.a. Robert Burke und William Wills, weil sie ihr Busch-Brot (Saatkuchen) nicht mit ausgewaschenem Mehl der Sporenkapseln der Nardoo-Pflanze (Marsilea drummondii) hergestellt hatten, so wie es die Aborigines seit Jahrtausenden tun.104 Auch dürfen Samen der Cycad-Palme (Cycas media) erst nach aufwändigen Vorarbeiten (u. a. fünftägiges Auslaugen in fließendem Wasser) verwendet werden. Nur die gekochte Paste eignet sich schließlich zum Brot backen – roh und unbehandelt sind die Samen stark krebserzeugend. Mais muss traditionell mindestens 18 Stunden in Lehm-bzw. kalkhaltigem Wasser erhitzt werden – Schalen und Einweichwasser müssen entsorgt werden – und darf erst nach dem Trocknen zu einer Paste für Tortillas vermahlen werden. Anderenfalls besteht Gefahr, an Pellagra zu erkranken (POLLMER; NEUMANN 2006)105

3.4.3 Wasser als Suspensionsmedium

Vermutlich wesentlich früher als die oben angesprochenen Auslaugeffekte wird Homo erectus eine weitere, pharmakologisch aber weniger relevante Beobachtung im Umgang mit Wasser und stärkereichen Knollen gemacht haben: Am Boden eines Gefäßes setzte sich immer dann ein weißer, feiner, aber ziemlich fester Belag ab, wenn darin beispielsweise zerkleinerte Knollen zum Auslaugen gelegen hatten. Die Menge des Bodensatzes hing von der Füllmenge ab. Für den damaligen Akteur war das sicher eine bedeutende Entdeckung, denn er hatte beim Waschen und/oder Einweichen von Knollen etwas »hergestellt«, das es vorher nicht gab und er nicht kannte. Der Zufall sollte auch hier eine Entdeckung ermöglichen, die bis in unsere heutige Zeit reicht und in vielen Kulturen (jeweils regional modifiziert, wie unten genannte Beispiele zeigen), praktiziert wird. Eine Wasser-Stärke-Suspension, die länger steht und evtl. durch Sonnenwirkung erwärmt wird, beginnt rasch zu gären. Diese Fermentation kann vor allem durch aus der Luft stammende Hefen, durch Milchsäurebakterien oder auch Enzyme des Mundspeichels in Gang gesetzt werden.

3.4.4 Wasser als Fermentationsmedium

In Amazonien und Südamerika bereiten Indios »Spuckbier« (Chicha) her, indem sie in den stärkehaltigen Brei hineinspucken. Die Stärke wird durch die Alpha-Amylase (Ptyalin) der Mundspeicheldrüsen in Zweifachzucker zerlegt, der dann von Hefen vergoren wird (REICHHOLF 2008). In Polynesien wird auf ähnliche Weise Kava hergestellt. Hier wird allerdings vor dem Ausspucken auf die mit Wasser ergänzten Mais- oder Mehlanteile erst ausgiebig auf Wurzeln des Rauschpfeffers (Piperis methystici rhizoma) gekaut (siehe auch Wikipedia: Kava). Das daraus entstehende berauschende süßliche Getränk wird von allen sehr geschätzt. Auch diese Herstellungstechniken müssen auf zufällige Beobachtungen zurückgehen, wenn z. B. mit Speichelenzymen versetztes Essen über längere Zeit stehen geblieben war. Die Dani, ein auf Neuguinea lebendes Bergvolk, stellen eine für sie äußerst begehrte Ingwer-Kochsalz-Brühe her, indem sie eine zu Brei zerkaute Ingwerwurzel in eine Mulde mit Wasser spucken und nach jedem erneuten Spuckakt Kochsalz hinzufügen (das sie Tuan = »Herr« nennen). Welche Funktion der menschliche Speichel in Verbindung mit Salz hier hat, wäre noch im Chemielabor zu klären. Auf jeden Fall sind es auch hier Fermentationsprodukte, die die Sinne stark stimulieren.

3.5 Wasser – die Wiege feuchter Gartechniken

Der (meist abwertend gemeinte) Hinweis, andere würden auch »nur mit Wasser kochen«, weist in Wahrheit auf etwas Grundsätzliches: Wasser ist die Flüssigkeit, die weltweit als Hauptgarmedium (als Wärmeleiter) eingesetzt wird. Die Gründe hierfür sind vielfältig – eine Auswahl:

– Wasser ist praktisch eine unbegrenzt »aufnahmefähige« Flüssigkeit, in die das zu Garende einfach eingelegt werden kann

– Die Wärme des Wassers wird von allen Seiten gleichmäßig auf das Gargut übertragen; pflanzliche Rohstoffe schweben wie auf einem Luftkissen in der Flüssigkeit und lassen sich trotz ihrer oft amorphen Strukturen (z. B. Blumenkohl) gleichmäßig garen

– Wasser ist geschmacksneutral und kann beliebig aromatisiert werden

– Wasser ist die Basis und Hauptbestandteil flüssiger Speisen

Da nahezu alle pflanzlichen und tierischen Rohstoffe – sieht man von empfindlichen Früchten einmal ab – erst ab Temperaturen von über 65°C vollständig gar werden (ein Zustand, in der alle molekularen Bausteine verkleistert bzw. denaturiert sind), wird, auch aus Gründen der Zeitersparnis, überwiegend mit siedendem Wasser (100°C) gekocht. Vielfältige physikalische Faktoren (s. Hintergr.-Info. unten) wirken dabei auf die Rohstoffe ein und nehmen die sonst vom Magen-Darm-Trakt zu leistenden Zerlegungsarbeiten vorweg, die wir weiter unten genauer betrachten werden.

Hintergrundinformationen

Die physikalischen Voraussetzungen für Quellvorgänge liegen zum einen in der Dipoleigenschaft der Wassermoleküle, die mit nahezu allen organischen und anorganischen Substanzen in elektrostatische Wechselwirkung treten können – sofern diese nicht unpolar oder hydrophob sind (wie z. B. Fette). Zur Reaktionsfähigkeit des Wassers trägt noch ein weiterer Faktor bei: die geringe Größe des H2O-Moleküls. Es ist so winzig, das es eigentlich ein Gas sein müsste (DICKERSON/GEIS 1986).106 Deshalb und wegen der Dipolkräfte kann Wasser nahezu überall eindringen und sich an die hydrophilen (wasserliebenden) Stellen von z. B. Stärke, Pektin, Zucker, Eiweiß und Faserstoffen anlagern. Die Geschwindigkeit, mit der das geschieht, hängt auch von der Brownschen Molekularbewegung ab, also der temperaturabhängigen Eigenbewegung der Moleküle.107 Hohe Temperaturen begünstigen das Eindringen und Aufbrechen der Molekülverbände, da zu den anderen genannten Ladungsfaktoren die Bewegungsenergie als Reaktionsbeschleuniger wirkt. Aufgrund dieser drei physikalischen Eigenschaften kann Wasser unsere Nahrungsrohstoffe quellen, denaturieren und auch auslaugen. Dass mit diesen Veränderungen gleichzeitig auch ein Ernährungsvorteil einhergeht, erklärt sich keineswegs von selbst, sondern ist erst noch zu begründen. Hierzu müssen wir auf die Zellwände (Membranen) unserer Körperzellen schauen, durch die die Nahrungskomponenten hindurchtreten – vorausgesetzt, sie haben die entsprechenden »Transportgrößen« (Abschn. 7.3, S. 124 f.).108

3.5.1 Enzyme zerlegen große Moleküle mithilfe von Wasser

Die Haupteintrittspforte für Nährstoffe in den Körper ist die Darmwand, insbesondere die des Dünndarms. Bevor die Partikel durch die speziellen fadenförmigen Darmzellenfortsätze (Mikrovilli) gelangen, werden sie im Darmlumen (Innenraum) enzymatisch »aufbereitet«. Durch die Epithelzellen (Saumzellen) der Darmwand können nur Kleinstmoleküle aktiv oder passiv in den Organismus gelangen. Sind sie zu groß und/oder nicht zerlegbar, stehen sie als Nahrungskomponenten nicht zur Verfügung und werden »unverdaut« ausgeschieden (bis auf einige Zuckerverbindungen, wie z. B. Raffinose und wasserlösliche Ballaststoffe, die von Dickdarmbakterien entsprechend zu Darmgasen und oder zu kurzkettigen Fettsäuren, z. B. Butyrat, abgebaut werden). Deshalb müssen die großen Nahrungsmoleküle, die wir mit jedem Bissen unserem Körper zuführen, erst in ihre kleinsten Bausteine zerlegt werden, was Verdauungsenzyme (sog. Hydrolasen) erledigen. Sie trennen die (bio-)chemischen Verbindungen durch Anlagerung von H2O-Molekülen.109

Nun wissen wir, dass alle Tiere, die ihre Nahrung uneingeweicht fressen, nicht verhungern. Nutzen können sie ihr Futter aber erst, wenn es im Magen- und Darmsystem hydrolytisch zerlegt worden ist. Das geschieht mithilfe der Wasseranteile aus der Nahrung selbst, zuzüglich der Mengen, die über Saufen aufgenommen werden. Hierdurch werden die großmolekularen Stoffanteile im Magen110 und Darm111 gespalten und resorbierfähig. Nicht zuletzt deswegen ist die Wassermenge (der aw-Wert) im Darm ein entscheidender Faktor für die Hydrolasentätigkeit und die maximal mögliche Aufnahme von Nahrung (LOGUE 1995). Diese Verdauungsarbeit benötigt Zeit und verbraucht Verdauungsenergie.112

3.5.2 Dominanz der Hydrolasen

Dass Darmenzyme Nahrungskomponenten nahezu ausschließlich mit Hilfe von Wasser zerlegen, ist ein Faktum, das naturwissenschaftlich nicht weiter hinterfragt wird, obwohl wir neben den Hydrolasen insgesamt 5 weitere Enzymarten kennen,113 die auch infrage hätten kommen können.114 Allerdings kann die »Bereitschaft« der großen Nahrungsmoleküle, sich besonders leicht von Wasser zerlegen zu lassen, kein Zufall sein, sondern muss einen evolutionsbiologischen Hintergrund haben. Den können wir rasch erkennen, wenn wir auf die Entstehung von Makromolekülen schauen, z. B. während der Photosynthese: Bei jedem einzelnen Zusammenschluss von Kleinstmolekülen – ob es sich dabei um die Entstehung von Zwei-, Mehrfach- oder Vielfachzuckern aus Einfachzuckern handelt, sich Aminosäuren zu Di- oder Polypeptiden verbinden oder sich Fettsäuren über Esterbindungen mit Glycerin zu einem Fettmolekül vereinen – geht eine Abspaltung eines H2O-Moleküls voraus. Das heißt nichts anderes, als dass die Natur aus Mikrokomponenten (den sog. Bausteinen) deshalb große Verbände (Makromoleküle) hatte bilden können, weil an ihren funktionellen Gruppen das reichlich vorhandene Element Wasserstoff (H)115 und Hydroxygruppen (-OH) leicht miteinander reagieren, wodurch als Kondensationsreaktion jeweils ein Wassermolekül (H2O) abgespalten wird.

Das Besondere daran ist nun, dass sich diese chemische Reaktion auch wieder rückgängig machen lässt. Wird Wasser mit Hilfe von Enzymen wieder zugefügt, dann trennen sich diese großen Molekülverbände mit jedem neu angelagerten Wassermolekül nach und nach wieder bis in ihre kleinsten Bausteine. Bis auf wenige Ausnahmen (z. B. niedermolekulare Peptide) können nur diese Mikromoleküle durch die Darmzellen ins Innere des Körpers gelangen.

3.6 Membranfunktionen im Spiegel der Evolution

Natürlich haben die Transportgrößen, die durch die Membranen der Mikrovilli hindurchtreten können, ebenfalls einen evolutionsbiologischen Hintergrund, der in die Anfänge irdischen Lebens vor etwa 4 Milliarden Jahren zurückreicht, nämlich in die Zeit der Entstehung von Einzellern (Archaeen bzw. Archaebakterien und Eukaryoten).116 In diesen erdgeschichtlichen Anfangszeiten entstanden die Strukturen der Zellmembranen, die exakt an die Bedingungen des Meerwassermilieus, dessen Salze und gelöste Stoffe angepasst waren und in heute (!) lebenden tierischen Organismen nahezu unverändert funktionieren, wenn auch in inzwischen hochspezialisierten Zellverbänden. Dass der Stoffaustausch durch die Membranen dieser »Ur-Organismen« winzige Partikelgrößen voraussetzt (durchschnittlich sind die Zellen etwa zwischen 1 und 100 µm groß – für das menschliche Auge nicht erkennbar), erklärt sich von selbst. Wenn Zellmembranen aber heute noch nahezu den gleichen Aufbau wie jene frühen Einzeller (Eukaryoten) haben, wird die Notwendigkeit, große Moleküle im Darm in eine resorbierfähige Größe zu bringen, verständlich.

Hintergrundinformationen

Grundlage für die Osmoregulation117 in der extrazellulären Flüssigkeit heutiger Organismen sind Mineralien, deren NaCl: KCl: CaCl2 Verhältnis bei 100: 2 : 1 liegt und im Meerwasser 100: 2 : 2. Damit ist die Salzkonzentration mit der des Meerwassers nahezu identisch. Ein starkes Indiz, dass alles Leben seinen Anfang im Meer hatte. Vielzeller entstanden durch den Zusammenschluss einzelliger, kugelförmiger Lebensformen zu Großverbänden. Allein der Mensch besteht aus 1014 (100 Billionen = 100 000 000 000 000) Einzelzellen (KEIDEL 1979). Das »einzige« biologische Problem war die Nährstoffversorgung dieser Zellansammlungen, deren Membranfunktionen an das Meerwassermilieu gebunden waren und nur unter diesen Bedingungen optimal funktionierten. An die Stelle des Meerwassers ist jetzt, wie oben gezeigt, die extrazelluläre Flüssigkeit getreten, die die Zellen umspült. Umso verständlicher wird eine der elementarsten Aufgaben unseres Körpers, diese Salzkonzentration auf diesem »Meerwasser-Niveau« zu halten – sei es durch Salzaufnahme, -abgabe oder durch Flüssigkeitszufuhr. Diese Regulation erfolgt durch das vegetative (autonome) Nervensystem, das der direkten willkürlichen Kontrolle weitgehend entzogen ist.118

3.7 Nachtrag: Flüssiges »Brot«

Als Abschluss zum Thema Wasser (als Faktor der Kochentwicklung) soll eine weitere zufällige Beobachtung dienen, die aus Wasser ein nährwerthaltiges Getränk werden ließ. Nahrung könn(t)en wir für eine begrenzte Zeit (einige Wochen) entbehren, nicht aber Wasser. Als nach der Sesshaftwerdung im fruchtbaren Halbmond in Mesopotamien erste Großstädte entstanden (etwa 4000 Jahre v. Chr. – z. B. Uruk, mit 2,5 Quadratkilometern Fläche und bis zu 50 000 Bewohnern) (PODREGAR 2015), galt es, alle Stadtgebiete mit Wasser zu versorgen. Separate Wasserbehältnisse waren problematisch, da mikrobielle Verunreinigungen stehendes Wasser rasch kontaminierten. Für das Lagerproblem von Frischwasser sollte sich (wieder mal) eine Zufallsentdeckung gleich mehrfach als nützlich erweisen: Regenwasser, das durch Leckagen in der Abdeckung oder Bedachung in wasserdichte Getreidevorratsgefäße (RIEGER 2012)119 gelangt war, blieb »keimfrei«. Daraus war ein hefevergorenes (obergäriges) und mit Nährstoffen angereichertes Getreidewasser entstanden, dessen leichte Säure und geringer Alkoholanteil (beides wirkt antiseptisch, bakteriostatisch) die Lagerfähigkeit erhöhten. Der bessere Geschmack und die stimmungshebende Wirkung dieses Getreidetranks (ob es ein »Bier« war, ist strittig)120 führten dazu, dass anstelle von neutralem Wasser nunmehr diese Flüssigkeit getrunken wurde – die Nährstoffgehalte machten es in den Regionen des »Fruchtbaren Halbmonds« (der Wiege des Getreideanbaus) zum »flüssigen Brot« – auch in Ägypten gehörte es zur täglichen Ration (FISCHER 2016).121

3.8 Der Faktor 'Trocknung'

Dass die Verdunstung (das Entweichen von Wasser aus Rohstoffen) auch zur Entwicklung von Kochtechniken beigetragen haben könnte, scheint im Widerspruch zu vorangegangenen Betrachtungen zu stehen. Ohne Wasseranteile in den Rohstoffen, ohne Quellvorgänge, die nur in Gegenwart von Wasser ablaufen, wären Resorptions- und Verdauungsvorgänge nicht möglich. Wie sollten vor diesem Hintergrund ausgerechnet Trocknungseffekte die Entwicklung von Zubereitungstechniken befördert haben? Zunächst: Eine Zubereitung zielt nicht nur auf die Herstellung der Essbarkeit der Rohstoffe, sondern vor allem auf deren Geschmackshebung. Besonders Letzteres lässt sich mit Hilfe getrockneter Anteile erreichen.

Ob ein Rohstoff in seiner natürlichen Beschaffenheit viel oder wenig Wasser enthält oder ob er dieses durch Verdunstung verloren hat, sind verschiedene Sachverhalte. Insbesondere Verdunstungseffekte bewirken eine Aromaintensivierung, weil der Wasserverlust die Konzentration der Anteile erhöht, die nicht verdunsten (können). Deshalb haben getrocknete Gewürze einen etwa 10-fach höheren Anteil aromawirksamer Inhaltsstoffe (KAHRS-LEIFER 1965) und wirken als 'Geschmacksverstärker' – genauer: Aromaverstärker. Sie verleihen dem Essen die gewünschte Aromanote, die auch pharmakologisch bedeutsam ist. Warum wir kein fades, aromaarmes Essen mögen, betrachten wir genauer in Abschn. 16, S. 233 ff.

Hintergrundinformationen

Die Wasseranteile in Lebensmitteln unterscheiden sich erheblich: Früchte und andere wasserreiche Pflanzen enthalten bis zu 96 % freies Wasser (teilweise mehr);122 tierisches Muskelgewebe etwa 70–72 % (je nach Fettgewebsanteil, der nahezu wasserfrei ist). Sehnen und Bindegewebe haben nur etwa ein Zehntel des Wassergehalts des Fleisches. Fischfleisch hat im Vergleich zu Warmblütern meist einen höheren Wasseranteil (zwischen 61 und 81 %) (BELITZ; GROSCH 1987), der je nach Fettgehalt schwankt. Getreidekörner enthalten, je nach Reifegrad, zwischen 20 % und 50 % Wasser,123 ebenso Nussfrüchte. Damit ist der Wasseranteil in allen Rohstoffen (bis auf wenige Ausnahmen) der Größte. Dieser Anteil ist allerdings janusköpfig: Einerseits ist er, wie betont, relevant für die Ernährungstauglichkeit des Rohstoffs und andererseits begrenzt Wasser die Lagerfähigkeit. Freies Gewebewasser (aw-Wert) beschleunigt den Verderb, da Mikroorganismen und Enzyme in einem wasserhaltigen, nährstoffreichen Milieu ideale Lebensbedingungen finden. Verdunstungseffekte senken zwar den aw-Wert (er ist der zentrale Bakterienwachstumsfaktor), vermindern aber den von uns gemochten Frischewert – dieser ist jedoch nicht für jeden Rohstoff entscheidend.

Rohstoffe, die im angetrockneten Zustand kaum geschmackliche Mängel hatten, wurden von unseren Vorfahren bevorzugt bevorratet – besonders jene, die getrocknet problemlos roh und ungewässert gegessen werden konnten (Früchte, Datteln u. a. m.). Auch eiweißreiche Nahrung (Fisch und Fleisch) ließ sich trocknen. Vermutlich hatte schon Homo erectus Trocknungseffekte erkannt, wenn beispielsweise nach großem Fang einige gelagerte Fische von Winden, besonders an Steilküsten, zunehmend trocken wurden. Die Technik, Rohstoffe mittels Trocknung lagerfähig zu machen, entsprang also nicht einer spontanen Eingebung, sondern war – wie viele andere 'planvolle' Tätigkeiten – der Natur abgeschaut.

Hintergrundinformationen

Zu den einfachen und ältesten Lagertechniken von Fischen (geöffnet, auf Felsgestein auslegt oder an Stöcken in den Wind gehängt) kamen vermutlich in der Phase der Sesshaftwerdung weitere Verfahren hinzu, die deren Haltbarkeit verbesserten: mittels Einsalzen oder Räuchern – oft auch unter Verwendung von Kräutern und Gewürzen. Insbesondere ließen sich damit eiweißreiche Rohstoffe vor Verderb (Schimmel-, Hefen-, Bakterienbefall) schützen und länger bevorraten. Weil diese Verfahren den Zellen Gewebewasser entziehen, sinkt die Wasseraktivität (der aw-Wert) in den Zellen, und der enzymatische Abbau wird gestoppt.

Welche Technik die frühen Menschen entwickelten, hing von den jeweiligen klimatischen Bedingungen ihrer Habitate ab. In eisnahen, kälteren Gebieten verdarben Fleisch-/Fischvorräte (durch das im Muskelgewebe vorhandene Enzym Kathepsin) aufgrund niedriger Temperaturen wesentlich langsamer als in wärmeren. Andererseits wachsen in warmen, tropischen Regionen die für die Haltbarkeit so nützlichen bakteriziden und fungiziden Gewürze – die in Speisen feuchtwarmer Klimazonen geradezu verschwenderisch verwendet werden.

Es ist zu vermuten, dass Trocknungseffekte besonders in Zeiten des Überflusses auftraten, weil Fleisch, Pflanzen, Knollen oder Früchte vor Tierfraß geschützt gelagert werden mussten. Beerenfrüchte, Datteln, Feigen, Nüsse, Esskastanien und Pilze gehörten vermutlich auch zum Nahrungsspektrum von Homo erectus und waren für ihn (an)getrocknet sicher genauso begehrt wie für uns. Je nach Trocknungsdauer erhöht sich im Obst die Süße, das immer dann besonders schmackhaft ist, wenn noch eine gewisse Restflüssigkeit erhalten bleibt. Diese Erfahrungen sollten sich als hilfreich in Zeiten des Mangels erweisen, da diese Rohstoffe über Monate lagerfähig waren. Blieb der Sammel- und Jagderfolg aus, konnte man so auf getrocknete »Reserven« zurückgreifen. Schließlich führten diese Bevorratungstechniken auch dazu, Fleisch und Pflanzen differenzierter zu betrachten: nicht allein nach ihrer Essbarkeit, sondern auch unter Aspekten ihrer Lagerfähigkeit.

Das Gehirn von Homo erectus benötigte energiereiche Nahrung, die zudem dauerhaft verfügbar sein musste.124 Hier konnten getrocknete Rohstoffe (deren Nährstoffkonzentration und Energiewerte insgesamt erhöht sind) den täglichen Bedarf nicht nur in Notzeiten decken, sondern ermöglichten auch, weitere Wegstrecken zurückzulegen und für längere Zeit in unbekannten Gebieten zurechtzukommen. Wir wissen, dass in nahezu allen Kulturen Fisch und Fleisch,125 Obst und Pflanzen an der Luft getrocknet wurden und werden (KAHRS LEIFER 1965). Fleisch wurde am Lager (meist zwischen Baumästen hängend) getrocknet (LEAKEY 1980). Dabei sind immer wieder Rauchschwaden des Lagerfeuers, das vor allem nachts brannte,126 über das »hängende« Fleisch hinweggegangen. Es war eine Frage der Zeit, bis Trocknungs- und Haltbarkeitseffekte des Rauches erkannt und gezielt eingesetzt wurden (s. auch Tab. 1, S. 97).

76 Von engl. »to chop« = hacken; die ersten (einseitig behauenen) Steinwerkzeuge (»Chopper«) markieren den Beginn der Steinzeit vor 2,6 Mio. Jahren; vor etwa 1,6 Mio. Jahren wurden zweiseitig (bifacial) zugerichtete »Chopping Tools« (tropfenförmige Faustkeile mit Schneide) entwickelt. Diese Steinwerkzeuge werden als Acheuléen-Tradition bezeichnet (nach einem Fundort in Frankreich Saint-Acheul). Aus den Grabungen in der Olduvai-Schlucht lässt sich die Geschichte typischer Steinwerkzeuge (Oldowan, Acheuléen) und damit die Entwicklung menschlicher Kultur fast 2 Millionen Jahre lang verfolgen; a. a. O., S. 183 ff.

77 A. a. O., S. 148

78 Von lat. colere: bebauen, pflegen, verehren; Kultur: neben geistigen und künstlerischen Lebensäußerungen Nutzung, Pflege und Bebauung von Ackerboden; a. a. O., S. 1047

79 Die Eiszeit, das Pleistozän (von griech. pleistos »am meisten« ,kainós »neu« – ein neuer Abschnitt der Erdgeschichte von 2,6 Mio. bis 11 000 Jahre vor heute), endet mit Beginn des Holozän; (BEHRINGER 2010; S. 60)

80 Von J. Henry BREASTEDT 1916 eingeführte Bezeichnung für das Winterregengebiet am nördlichen Rand der Syrischen Wüste, die sich im Norden an die arabische Halbinsel anschließt. Der »Fruchtbare Halbmond« gilt als eine der Ursprungsregionen der neolithischen Revolution, dem Übergang von der wildbeuterischen Lebensweise zu Ackerbau und/oder Viehzucht ab dem 12. Jahrtausend v. Chr. (gefunden in: Wikipedia: Fruchtbarer Halbmond)

81 A. a. O., S. 135 ff.; wobei diese möglicherweise auch mit einem großen Pferde- oder Rinderleder ausgekleidet werden konnten, bevor Wasser und heiße Steine folgten. Auf diese Weise konnte man darin Rohstoffe in erhitzter Flüssigkeit garen (mündl. Auskunft von Rainer-Maria WEISS, Direktor vom Archäologischen Museum Harburg)

82 Dass dabei das Essen graduell entgiftet und die Keimfracht vermindert wurde, war den Akteuren nicht bewusst

83 Spätestens in der Phase des Jungpaläolithikums – etwa 40 000 Jahre vor unserer Zeit (eine Vermutung, die jedoch nicht belegt werden kann). Höhlenmalereien (jungpaläolithische Kleinkunst) dokumentieren die ästhetische Ausdrucksfähigkeit des Cro-Magnon. In den künstlerischen (auch farblichen) Darstellungen u. a. von Jagdszenen erkennt man seine genaue Beobachtungsgabe. Diese Sensibilität wird er sicher auch für aromatische Kreationen entwickelt haben

84 DTI: Diffusions-Tensor-Bildgebung (engl. diffusion tensor imaging) ist eine Variante der Magnetresonanztomographie, mit der man insbesondere die weiße Substanz der Nervenfasern des Gehirns darstellen kann (STOUT 2016; S. 36). Ein Tensor ist eine mathematische Funktion, die eine bestimmte Anzahl von Vektoren (mathematische Größen einer Richtung) auf einen Zahlenwert abbildet

85 Der Nachweis erfolgte bei aktiver Tätigkeit (während der Herstellung von Faustkeilen), indem Studenten über die Fußvenen radioaktiv markierter Zucker injiziert wurde, dessen Verteilung in den aktiven Hirnbereichen nachgewiesen werden konnte. In den DTI-Aufnahmen von Schimpansengehirnen zeigte sich das geringere Maß jener neuronalen Stränge, die beim Menschen während handwerklicher Tätigkeiten aktiv sind (STOUT 2016)

86 Prallen Steine aufeinander (z. B. beim Abrollen vom Hang), können scharfkantige Bruchstücke und Splitter entstehen; manuelles Aufeinanderschlagen von Steinen kann vergleichbare Bruchstücke erzeugen. Kapuzineraffen wurden dabei gefilmt, wie sie immer wieder Felsbrocken aufeinanderschlagen, dabei Steinwerkzeuge produzieren (Faustkeile, die sie aber nicht verwenden), um den pulverisierten Steinbelag abzulecken – vermutlich, um auf diese Weise Mineralstoffe aufzunehmen

87 So trennen die Yanomami die unzähligen kleine Palmfruchtkapseln aus den Fächerzweigen, indem sie auf ihnen rumtrampeln; diese Trenntechnik hatten sie beim Durchqueren des Waldes erkannt, als sie über einen vom Baum niedergegangenen Zweig wiederholt laufen mussten; beim Spalten von Steinen »hat blinder Zufall mehr zu seiner neuen Form getan als sehender Geist«; a. a. O., S. 8

88 HARRER beschreibt die Steinaxtherstellung der Papuas auf Neuguinea: unterhalb von Felsüberständen wird ein starkes Feuer entfacht, bis Steinflächen abplatzen, aus denen besonders scharfe und haltbare Äxte hergestellt werden; a. a. O., S. 81 ff.

89 A. a. O., S. 134

90 Am Lagerfeuer sollte auch die Entdeckung berauschender Wirkung von Rauch gemacht werden, wenn entsprechende Hölzer mit halluzinogenem Rauch verbrannte. »Rauch und Be(weih)räuchern nehmen insbesondere in kultisch-religiösen Ritualen eine zentrale Position ein, um die Menschen aufnahmefähig zu machen« (REICHHOLF 2008; S. 253). Viele Pflanzen in tropischen Niederungsgebieten Südamerikas, aus Amazonien, werden (heute) angebaut, obwohl sie für die Ernährung bedeutungslos sind. Sie enthalten aber Rauschmittel. Hochlandindios und nordamerikanische Indianer bliesen sich gegenseitig den Rauch dieser Drogen in die Nasenlöcher; a. a. O., S. 255

91 Als Wiege der Menschheit gilt der Ostafrikanische Grabenbruch; berühmt sind die Funde aus der Olduvai-Schlucht, die Hinweise auf die Orte und Lebensbedingungen der frühen Menschen geben. Sie bevorzugten wildreiche Ufergebiete des damaligen Sees und entwickelten je nach Region unterschiedliche Steinwerkzeugkulturen (u.a. »Handäxte«, Meißel, Schaber, Ambosse). Die sog. Karari-Kultur am Rudolf-See kannte schwere Schabersteine, aber auch fein zugespitzte Steinwerkzeuge, mit denen sie Tierkörper wie mit einem Messer zerlegen konnten; a. a. O., S. 98 ff. und 109

92 Auch andere Fundplätze lassen eine solche Aussage zu: Kada Gona liegt am Fluss Awash im Norden Äthiopiens; Omo, ein ganzjährig Wasser führender Fluss im südlichen Äthiopien; Koobi Fora am Turkanasee, auch am Victoria-See wurden tausende Steinartefakte gefunden (siehe auch Wikipedia: Oldowan)

93 Sand wird als unangenehmer Fremdkörper im Mundraum erlebt (führt zu Missempfindung). Ein genetisch begründeter Reflex auf wertlose Nahrungsanteile und Zahnschutz-Effekt, da Sand/Erde die Zähne schädigt/ abschmirgelt (Demastikation)

94 Filmaufnahmen von Rotgesichtsmakaken in Japan zeigen, dass auch Primaten die Reinigung mit Wasser kennen. Sie zeigen ein Weibchen, das mit den Händen am Ufer ausgelegte Süßkartoffeln wäscht, was schließlich von allen Gruppenmitgliedern nachgemacht wurde, die das beobachtet hatten. Spätestens wenn auch das Alpha-Männchen diese Technik übernommen hatte, blieb das Kartoffelwaschen ein typisches Verhalten dieser Population; schließlich präferierte diese Gruppe das Waschen in Salzwasser

95 Die Dani (eine indigene Population auf Neuguinea) tauchen getrocknetes Gemüse in eine natürliche Solequelle als Saugschwamm, um auf diese Weise (nach ihrem erneuten Trocknen) Salz zu gewinnen (HARRER 1988; S. 166 f.)

96 Hierzu Theorie der optimalen Futtersuche (LOGUE 1995; S. 204–218)

97 A. a. O.: Brunnen und Quelle haben semantisch die gleiche Bedeutung; etymologisch gehören 'Brunnen' und 'brennen' zusammen. Hier wird das 'Hervorzüngeln' einer Wasserquelle aus dem Erdreich 'flammenbildlich' ausgedrückt; vgl. born, brunnen, brennen

98 Bergpapua auf Neuguinea kennen große runde Baumrindenwannen (HARRER 1988) a. a. O., S.83; in Sibirien kennt man Gefäße aus Birkenrinde (Papier-Birke: Betula papyrifera – sie hat eine weiße, glatte wasserdichte Rinde), deren Öle diese Gefäße konservieren (LEFLER 2015), (WÖHRMANN 2005)

99 In der jüngeren Entwicklungsgeschichte, etwa mit dem Beginn der Sesshaftwerdung vor 10 000 Jahren, wurden Holztröge in Brettform, sog. Zuber gebaut; aus altd. »zuoamber«, das auch zu »Amper« wurde und einen Eimer mit Tragegriffen auf zwei Seiten bezeichnet; s. auch: Bottich und Bütte bei Wikipedia

100»Im Rahmen von Futterwahlversuchen wurden Schimpansen, Bonobos, Gorillas und Orang-Utans rohe und gegarte Speisen (Karotten, Kartoffeln, Fleisch, Äpfel) angeboten. Vorher konnten die Tiere gekochte Nahrung probieren, um Neophobie zu vermeiden. Alle bevorzugten die leichter verdauliche gekochte Nahrung. Aber auch Schimpansen, die nie gekochtes Fleisch bekommen hatten, griffen sofort zur gekochten Version. Die Autoren WOBBER et al. (2008) schlossen auch aus Versuchen mit gemahlener oder zerdrückter Nahrung, »dass dafür die weichere Textur verantwortlich sei«, in: MUTH; POLLMER 2010; S. 53

101 Cyanogene Glycoside sind weit verbreitete Pflanzengifte in Yamswurzel, Süßkartoffel, Zuckerhirse, Bambus, Leinsamen, Limabohne, Bittermandeln. Magen-Darmenzyme spalten diese Moleküle, wobei hochgiftige Blau-säure freigesetzt wird, die entfernt werden muss. Maniok wird nach einer alten Methode der Ureinwohner Amazoniens geraspelt und einige Tage eingeweicht. Anschließend presst man ihn aus und röstet den Rest. Das so gewonnene Maniokmehl wird dann vor allem zur Herstellung von Fladenbrot, Soßen, Suppen, Brei und von alkoholischen Getränken, wie dem sogenannten Kaschiri, benutzt

102 Maniok ist eine stärkereiche Wurzel, die ursprünglich an der brasilianischen Atlantikküste beheimatet war und den Ureinwohnern als Ernährung diente. Erste Zeugnisse von Entgiftungstechniken sind (seit dem 16. Jahrhundert) von Indianern aus dem Amazonasgebiet bekannt, die die Knollen erst schälen, dann zerreiben oder raspeln und dann in Wasser einweichen. Nach einigen Tagen presst man die Masse aus, wäscht sie durch ein sogenanntes Tipiti (ein langes geflochtenes Behältnis aus Palmfasern) und röstet sie in Öfen

103 »Sie lernen allmählich unangenehme oder schädliche Substanzen aus den Speisen durch mühsame Zubereitungsarten ausscheiden, wie bei der Tarofrucht, den Yams, dem Maniok, der Kassavefrucht, sie wissen durch Schaben und Reiben, durch Klopfen und Filtern, durch Pressen und Gären Verwandlungen herbeizuführen, welche der Nähr- und Schmackhaftigkeit ihrer Küche gar sehr zugute kommen« (HABERLAND 1912)

104 Die durchtränkte Saat muss erst verrieben und zu einer Paste verarbeitet werden, um die Thiaminase (ein Enzym, das Thiamin zerstört) auszuwaschen.

105 Bei auf diese Weise hergestellten Maisgerichten werden die stets vorhandenen Mykotoxine weitgehend hydroxyliert [eine chemische Reaktion, bei der eine oder mehrere Hydroxygruppen (–OH) angelagert werden] und in ihrer Giftigkeit deutlich vermindert

106 Die Edelgase Argon, Krypton, Xenon und Radon haben einen z. T. erheblich größeren kovalenten Radius als ein H2O-Molekül

107 Die Bewegung kleinster Teilchen (Atome, Moleküle) steht mit der Temperatur bzw. Wärmeenergie in Zusammenhang. Je höher die Temperatur, desto schneller bewegen sich die Teilchen, wodurch sich ihre intermolekularen Anziehungskräfte lockern und schließlich Ladungen freigelegt werden, an die sich dann H2O-Moleküle anlagern können.

108 Einfachzucker, Aminosäuren und Fettsäuren haben Molekülgrößen, die nur mittels Transportmechanismen (in ligandengesteuerten Kanälen als aktiver oder passiver Transport) von Carrier-Proteinen durch die Membranen geschleust werden können; Biomembranen sind selektiv und nur für kleine lipophile (fettliebende) Moleküle (CO2, Alkohole und Harnstoff) durchlässig (diffundieren)

109 Von griech: hydor = Wasser und lýsis: Lösung, Beendigung; Verdauungsenzyme sind Hydrolasen. Sie werden als inaktive Vorstufen gespeichert und bei Bedarf in den Darm sezerniert und aktiviert (LEHNINGER 1985)

110 Mittels Salzsäure und Pepsin, die die mit der Nahrung aufgenommenen Proteine hydrolysieren (spalten)

111 Dessen Enzyme stammen zum Teil aus den Brunner-Drüsen im Zwölffingerdarm: Trypsin - ein Gemisch dreier Verdauungsenzyme, die im Dünndarm Eiweiße zersetzen (hydrolysieren); Galle emulgiert Fette; Enzyme aus dem Pankreas spalten Eiweiße, Kohlenhydrate und Fette hydrolytisch in ihre Grundbestandteile – die von der Darmschleimhaut aufnehmbaren (resorbierbaren) Größen (LÖFFLER / PETRIDES 1988)

112 Nahezu alle enzymatischen Vorgänge verbrauchen ATP (bis auf nicht-hydrolytische Spaltungen durch Lyasen)

113 Die allermeisten Enzyme, die Nahrungsstoffe zerlegen, sind Hydrolasen: Lipasen, Peptidasen, Nukleasen, Glycosidasen (LEHNINGER 1985)

114 Oxidoreduktasen katalysieren Redoxreaktionen; Transferasen übertragen die funktionelle Gruppen von einem Substrat auf ein anderes; Lyasen katalysieren die Spaltung oder Synthese komplexerer Produkte aus einfachen Substraten (ohne ATP-Verbrauch); Isomerasen beschleunigen die Umwandlung von chemischen Isomeren; Ligasen oder Synthetasen katalysieren Additionsreaktionen mithilfe von ATP (LEHNINGER 1985)

115 Ist Wasserstoff (H) an ein stark elektronegatives Atom, zum Beispiel an Sauerstoff, gebunden, tritt eine Ladungsverschiebung auf und das H-Atom wirkt nun positiv polarisiert, da sein Elektron zum Bindungspartner hingezogen wird

116 Archaeen sind Mikroorganismen (einfache Zellen ohne Kern oder Organellen). Sie werden auch als Prokaryoten bezeichnet, deren Größen von etwa 0,4 bis zu 100 µm variieren; im Durchschnitt sind die Zellen etwa 1 µm - Mikrometer = 10-6 m = 0,000001 m = 1/1000 mm) groß; Eukaryoten haben einen abgegrenzten Zellkern und sind in der Regel wesentlich größer, ihr Volumen beträgt etwa das 100- bis 10 000-Fache der Prokaryoten.

117 Die Regulation des osmotischen Drucks zwischen extra- und intrazellulären Flüssigkeiten eines Organismus

118 Osmoregulation; mittels körpereigener Hormone, wie Antidiuretisches Hormon, Aldosteron und Angiotensin II, kann der menschliche Körper die Nierentätigkeit regulieren (LÖFFLER; PETRIDES 1988)

119 Weshalb Getreide in geflochtenen, mit Gips oder Bitumen verdichteten Körben gelagert wurde, ist wissenschaftlich umstritten. J. Reichholf sieht genügend Indizien dafür, dass der Getreideanbau weniger mit Brot zu tun hatte als mit der Herstellung von Bier (REICHHOLF 2008)

120 Damerow, P., Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte in Berlin, bezweifelt, dass das in der antike populäre Getreidegebräu das Bier war, was wir darunter verstehen; dazu auch JORDAN 2012

121 »Alle frühen Hochkulturen kannten und schätzten … das Bier. Sowohl in der ältesten Literatur der Menschheit, dem Gilgamesch-Epos, als auch in ägyptischen Papyri und Inschriften findet der Trunk Erwähnung. Aus der sumerischen Kultur des Zweistromlandes sind Indizien überliefert, dass Brot möglicherweise zuerst ein Nebenprodukt der Bierproduktion war – als einfache Möglichkeit, die wesentlichen Zutaten zu lagern und zu transportieren – und erst später seine eigenständige Bedeutung als Nahrungsmittel erlangte. Für die ägyptische Gesellschaft war Bier so zentral wie für uns heute Brot. Das Getränk hatte eine eigene Göttin, fand als Opfergabe ebenso Verwendung wie als Zahlungsmittel und tauchte in rituellen religiösen Formeln auf. Arbeiter, zum Beispiel an den Pyramidenbaustellen, erhielten tägliche Bierrationen« (FISCHER 2016)

122 Auf diese Weise kann mit der Nahrung ausreichend Wasser aufgenommen werden: »… die Eingeborenen (trinken) fast nie Wasser: ihre Nahrung ist so flüssigkeitshaltig, daß ein richtiges Durstgefühl fast überhaupt nicht aufkommt« (HARRER 1988)

123 Man unterscheidet verschiedene Reifegrade: 50 % Wassergehalt (Milchreife), 30 % Gelb- oder Wachsreife, 20–25 % Vollreife; nach dem Nachtrocknen (Totreife) etwa 14–26 % Wassergehalt

124 Allein im Ruheumsatz verbraucht das Gehirn etwa 20 % unserer zugeführten Nahrungsenergie, deren Bedarf sich bei konzentrierter Denkleistung nahezu verdoppeln kann (ROTH 2011)

125 Die über 5000 Jahre alte Gletschermumie Ötzi hatte vor ihrem gewaltsamen Tod ein üppiges Mahl aus getrocknetem Steinbockfleisch und weiteren fettigen Fleischstreifen gehabt (FILSER 2014)

126 HARRER (1988) berichtet von Beobachtungen, dass viele der Dani, ein Volk auf Neuguinea, große Verbrennungsnarben an Hüften, Knien und Schultern hatten. Grund: »Nachts, wenn es kalt wird, kriechen sie zum Schlafen so nahe an das offene Feuer heran, daß aufsprühende Funken oder sogar glühende Holzstücke auf ihre nackten Körper fallen und schwer heilende Wunden hervorrufen«; a. a. O., S. 149

Geschmackssache oder Warum wir kochen

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