Читать книгу Sechs Schlüssel ins Jenseits - Günther R. Leopold - Страница 11
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ОглавлениеBei einer kleinen Waldlichtung ließ Hutchingson den Wagen anhalten. Der Melancholiker hatte sich eine Landkarte von Glowchester mitgenommen, richtigerweise war sie ihm von Frumingway mitgegeben worden, die er nun gemeinsam mit seinem Sergeanten studierte. »Hier, der kreisrunde Fleck, das wird die Ruine sein. Natürlich hätten wir die kleine Landstraße weiter bis zur Burg fahren können, aber wir sind eben keine harmlosen Touristen, sondern pflichtbewusste Polizeibeamte, die den geheimnisvollen Wald von zwei Seiten durchkämmen wollen. Hähä, vielleicht hören wir sogar der Singenden Nora wehmütigen Gesang.«
»Sir!«, unterbrach Burke. »Sir, Sie haben schon lange nicht Ihr berühmtes ›Es ist traurig!‹ gebraucht. Dabei wäre es hier angebracht, denn wir bräuchten eine ganze Hundertschaft und nicht zwei einsame Beamte, um dieses Dickicht zu durchforschen.«
Der Chefinspektor wunderte sich. »Glauben Sie denn ernstlich, unser geheimnisvoller Dieb oder die noch geheimnisvollere Nora wird uns in die Arme laufen? Nein, hier gilt es nur, Atmosphäre zu schnuppern und einen Überblick für ein eventuelles späteres Eingreifen zu bekommen. Also los, wir sehen uns bei dem Gebührenhäuschen vor der Ruine wieder!« Sie schwärmten nach verschiedenen Richtungen aus …
Sergeant Andy Burke war bestimmt kein Angsthase, trotzdem hätte er es vorgezogen, lieber unbewaffnet durch ein verrufenes Viertel Londons zu streifen, als hier, mit einer beruhigenden Dienstwaffe in der Rocktasche, den Wald zu erforschen. Zu viele Geräusche ließen ihn nervös auffahren. Das zeitweilige Knacken, wenn er mit seinem Fuß auf einen der abgestorbenen Äste trat, das geheimnisvolle Rascheln, wenn der Wind abgefallenes Laub aufwirbelte, das Krächzen von aufgeschreckten Käuzen, all das ließ den Mr. Tipsy in ihm zu einem vorsorglich mitgebrachten Flachmann greifen. Manchmal, wenn sich der Sergeant rasch umdrehte, glaubte er eine schwarze Gestalt zu sehen, doch blickte er genauer hin, entpuppte sich die Erscheinung nur als abgebrochener Baumstamm.
Es musste gut eine halbe Stunde vergangen sein, seitdem er sich von Hutchingson getrennt hatte, als der Wald plötzlich zu Ende war. Burke stand vor einem Drahtgitterzaun, der zu einem hölzernen Häuschen mit der Aufschrift »Eintrittskassa« führte und wo der Melancholiker schon auf ihn wartete. »Was gesehen?«, fragte sein Vorgesetzter.
Burke schüttelte erleichtert den Kopf. »Nur Einbildungen«, gestand er. »Mir ist es ähnlich ergangen«, kam es misslaunig zurück. »Auf jeden Fall haben wir an Atmosphäre genug genossen. Ziemlich einsame Gegend hier …«
Hutchingson hatte mit dieser Feststellung jedoch nicht recht, weil sich hinter einem dicken Baumstamm eine dunkle Gestalt verbarg, die den Chefinspektor und seinen Untergebenen gespannt beobachtete …
Eigentlich hätte sich Frumingway von Frank Glennford einen Schlüssel für Glowchester Castle erbitten können, aber der Superintendent hatte bewusst darauf verzichtet. Niemand sollte von dem heimlichen Besuch seiner Beamten wissen. Und von Burke hieß es ja, dass er ein Meister im Öffnen von Schlössern und Türen war. Dafür erbrachte der Sergeant auch gleich den Beweis. »Was für eine Idee, aus einer Ruine noch ergiebige Touristeneinnahmen zu erzielen«, wunderte er sich.
Der Melancholiker zeigte wieder einmal seine traurige Miene. »Betrüblich, sehr betrüblich, wenn Sie Glowchester Castle so heruntermachen. Die Burg ist ja nur zu einem kleinen Teil zu einer Ruine geworden. Frank Glennford würde es nie wagen, seine Besucher der Gefahr von herabstürzenden Mauerteilen auszusetzen. Trotzdem werden wir sehr achtgeben …«
Glowchester Castle war einst ringförmig um einen riesigen Felsen erbaut worden, auf dem die Glennford’sche Fahne wehte. Während der rechte Teil der Burg tatsächlich zu einer baufälligen Ruine geworden war, schienen sich auf der linken Seite die ehemalige Burgkapelle und der anschließende Gerichtssaal mit seinen berühmten Foltergeräten noch in gutem Zustand zu befinden. Wieder durfte sich Andy Burke am Kapellentor als Meister der Einbrecherzunft erweisen. Im Inneren zog das große Marienbild, ein katholisches Relikt, sofort die Blicke der Eintretenden auf sich. Es soll wundertätige Kräfte gehabt haben und war einst das Ziel der anglikanischen Belagerung von Glowchester Castle gewesen. Doch die Burg war nie erstürmt worden, nur die Zeit hatte dem rechten Burgflügel etwas anhaben können.
Was weiters auffiel, waren die zahlreichen spätgotischen Reliefs, die samt dazu passenden Bibelworten von der Gläubigkeit früherer Generationen zeugten.
All das wäre allein sehenswert gewesen, und doch wurde es von einer reich verzierten Orgel übertrumpft. Sie sollte zu den ersten mittelalterlichen Orgeln Englands gehören. Man konnte sie nur durch eine hölzerne Stiege erreichen; diese Empore war Simon Laxters Reich. Denn Laxter hatte Sir Glennford angeboten, gleichsam um Gottes Lohn und gegen Aufnahme in die berühmte Freundesrunde, die Orgel aus ihrem Jahrhunderte währenden Dornröschenschlaf wachzuküssen, was einen enormen Arbeitsaufwand bedeutete. Aber wozu entstammte er einer bekannten Orgelbauerfamilie? Außerdem konnte er so den Touristen an hohen Feiertagen seine Kunst als Organist beweisen.
Es dauerte einige Zeit, bis sich der Melancholiker und sein Untergebener an den Sehenswürdigkeiten der Kapelle sattgesehen hatten. Ein schmaler Gang führte zu Glowchester Castles zweiter Touristenattraktion, dem Gerichtssaal. Zahlreiche Foltergeräte, die aus Unschuldigen Hexen oder Satansanhänger gemacht hatten, gab es hier zu bestaunen. »Das ist ja das reinste Gruselkabinett«, schauderte es den Sergeanten.
»Es ist wirklich traurig«, nickte der Melancholiker und diesmal meinte er es ernst, »durch welche Grausamkeit die Menschheit gehen musste, bis man von Gerichten einigermaßen objektiv beurteilt wurde. Zerren, Quetschen, Sengen oder das Gliederabschlagen der Gefolterten dienten als sogenannte ›Peinliche Befragung‹ den damaligen Richtern, um ein Geständnis zu erzwingen.«
»Da ist mir Princetown in Dartmoor oder Old Baily in London schon lieber.« Burke hätte gerne wieder zu seinem alkoholischen Tröster gegriffen, doch der voraussichtliche Spott seines Vorgesetzten hinderte ihn daran. So zeigte er lieber auf ein eisernes Ungetüm, das gleich der Orgel in der Kapelle den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit erregte. Seine Maße entsprachen ungefähr jenen einer größeren Frauengestalt, sodass Burke seine Kombinationsgabe spielen lassen konnte. »Sollte das vielleicht eine der berühmtberüchtigten eisernen Jungfrauen sein?«
»War das jetzt Raten oder Wissen?«, erkundigte sich Hutchingson spöttisch. »Aber höflicherweise nehme ich Letzteres an. Stopp! Stopp!« Der Sergeant wollte eben durch eine offenstehende Tür das Innere der Figur begutachten, wurde aber im letzten Augenblick vom Melancholiker zurückgerissen. »Das ist natürlich wieder sehr traurig. Sie kennen zwar den Namen dieses Folterungetüms, scheinen aber über seine Gefährlichkeit nicht Bescheid zu wissen. Ein Schritt weiter und Sie wären ein menschliches Nadelkissen geworden!«
»Das heißt, dass ich mich bei Ihnen für meine Lebensrettung zu bedanken habe«, witzelte Burke. »Merci und mille grazie …«
»Ich glaube, Sie nehmen das Ganze viel zu leicht.«
»Wissen Sie, was ich glaube? Ob Kapelle, ob Gerichtssaal, ob Burgfelsen oder Ruinenteil, wir haben von Glowchester Castle genug gesehen.«
»Stimmt. Der seltene Fall, einer Meinung zu sein, ist eingetreten, was Sie im Kalender rot vermerken sollten.« Der Chefinspektor wandte sich zum Gehen, blieb aber plötzlich stehen. »Eigentlich bewundernswert, was dieser Frank Glennford aus der halb verfallenen Ruine gemacht hat und wie er damit die Finanzen Glowchester Courts aufbessert.«
Burke lachte. »Ich möchte ein Jahresgehalt gegen einen schäbigen Hemdknopf wetten, wem die Touristenströme zu verdanken sind! Weniger der Kapelle, vielmehr den Grausamkeiten hier. Von den blutigen Gladiatorenspielen im alten Rom bis zur Inquisition im Mittelalter, von heutigen Schandtaten ganz zu schweigen …«
»… hat die Menschheit nichts dazugelernt«, setzte der Chefinspektor fort. »Unglaublich Burke, aber wir sind schon wieder der gleichen Meinung! Was ich menschlich erfreulich, aber dienstlich betrüblich finde, wenn Chef und Untergebener auf gleicher Ebene agieren …« Doch das Letzte sagte der »traurige Sam« nicht laut, das dachte er sich nur.