Читать книгу Sechs Schlüssel ins Jenseits - Günther R. Leopold - Страница 6

1

Оглавление

Er, er hatte gerufen – und sie, sie waren alle pünktlich erschienen. Mit einer Ausnahme: Chefinspektor Samuel Hutchingson, den sie im Yard den »Melancholiker« nannten, trudelte leicht verspätet als Letzter ein. Sir Frumingway, seines Zeichens Superintendent von Scotland Yard (für die Allgemeinheit etwas wie ein Polizeipräsident), hatte seine besten Beamten zu einer dringlichen Konferenz gebeten. Alle waren gekommen: Simon Gregg, der Inspektor mit den zwei verschiedenen Augenfarben, oder Geoffrey Hoggins, der »Milchmann von Scotland Yard«, Inspektor Gordon mit seiner ihm erst kürzlich angetrauten Claire Milders* und und und … Chefinspektor Hutchingsons Verspätung veranlasste Sir Frumingway zu einem ärgerlichen Kopfschütteln. Hutchingson, in seinem viel zu weiten Anzug gleichsam versunken, quittierte es mit einem leisen, aber doch hörbaren »Oft werden die Letzten die Ersten sein«.

Frumingway hatte es sich schon lange abgewöhnt, sich über den Melancholiker zu wundern. Der schrullige Chefinspektor war tatsächlich einer seiner besten Leute. Ohne auf dessen Unhöflichkeit weiter einzugehen, kam der Superintendent auf den Grund der ungewöhnlichen Zusammenkunft zu sprechen. »Wie Sie alle bestimmt wissen, ist das Vereinigte Königreich nicht nur für seine Schlösser mit schaurigen Gespenstergeschichten, sondern auch als Land mit den meisten Geheimbünden bekannt.« Er legte eine kleine Pause ein und sah fragend in die Runde, worauf ihm Namen wie »Freimaurer«, »Templer«, »Rosenkreuzer«, »Illuminaten«, »Skull and Bones« und andere mehr entgegengerufen wurden.

Frumingway lächelte. »Da soll noch einer sagen, dass im Yard nicht auf Allgemeinbildung Wert gelegt wird. Doch Spaß beiseite: Wenn auch einige der erwähnten Namen nicht Old England, sondern ›God save America‹ zuzurechnen sind, im Innenministerium herrscht helle Aufregung, weil es einen neuen Geheimbund geben soll …« Der Superintendent holte tief Atem, worauf Chefinspektor Hutchingson melancholisch einwarf: »›Die Bruderschaft der wahren Christen‹. Wirklich sehr traurig für den Erzbischof von Canterbury, der wieder durch den römischen Papst ersetzt werden soll!«

»Unglaublich, wie können Sie das wissen?« Frumingway war sichtlich überrascht.

Der Chefinspektor nickte. »Es soll tatsächlich ernsthafte Bestrebungen geben, die von Heinrich VIII. abgeschaffte katholische Religion wieder einzuführen.« Chefinspektor Hoggins hatte soeben sein obligates Milchglas leergetrunken. »Das sind doch Kindereien«, meinte er geringschätzig, »das kann man doch nicht ernst nehmen!«

»Sagen Sie das nicht«, konterte Frumingway. »Die im Innenministerium haben sich das ja nicht aus den Fingern gesogen. Um nochmals auf Ihre Allgemeinbildung zurückzukommen: Weiß jemand, wo sich das berühmteste Gemälde von Heinrich VIII. befindet?«

»Im Palazzo Barberini in Rom. Hans Holbein der Jüngere hat es gemalt.« Claire Milders sagte es in einem Ton, als ob es sich um eine ganz alltägliche, banale Frage gehandelt hätte; und ihr Mann, Inspektor Gordon, konnte wieder einmal über seine Frau staunen.

»Stimmt genau«, bestätigte der Superintendent. »Es ist keine Woche her, dass ein Irrsinniger das Bild mit einem Messer zerschneiden wollte. Die Tat wurde im letzten Moment verhindert und der ganze Vorfall totgeschwiegen. Und wissen Sie warum?«

»Weil der Irrsinnige kein Verrückter, sondern ein gut bezahlter, professioneller Attentäter war, was natürlich traurig, sogar sehr traurig ist!« Nur der Melancholiker konnte eine solche Antwort geben.

»Hutchingson, nach meinem Geschmack wissen Sie viel zu viel«, ärgerte sich der Superintendent.

»Wissen sollte doch bei einem Kriminalisten kein Nachteil sein.«

»Vorausgesetzt, dass man seiner obersten Behörde, in diesem Fall mir, davon etwas zukommen lässt. Ich stand vor dem Staatssekretär wie das sprichwörtliche ›neugeborene Kind‹.«

»Sorry, für einen Mann der alten Schule bedeuten Vermutungen noch keine beweisbaren Fakten. Aber dafür liefere ich Ihnen etwas, das den Staatssekretär des Inneren noch mehr aufregen wird.« Um die Spannung zu erhöhen, bediente sich der Melancholiker einer seiner bekannten kleinen Kunstpausen, ehe er weitersprach. »Ich darf wohl annehmen, dass jeder der hier Anwesenden die Bedeutung Oliver Cromwells für die englische Geschichte kennt. Wenn auch der Lordprotektor erst nach Heinrichs Tod geboren wurde, auf beide traf doch die gleiche unmenschliche Grausamkeit bei der Verfolgung ihrer Feinde, namentlich aller irischen und englischen Katholiken, zu. Die Historie fragt jedoch nicht danach, für die Geschichte zählen nur staatsmännische Erfolge.«

»Darum steht auch sein Denkmal vor dem britischen Parlament«, warf Simon Gregg ein.

»Eben! Grausamkeit ist zwar, rein menschlich gesehen, im höchsten Maße sehr traurig, aber gibt es einen besseren Platz, um ein Denkmal besonders publikumswirksam in die Luft gehen zu lassen?«

»Verdammt!«, Frumingway war seine Erregung deutlich anzumerken, »Chefinspektor, wollen Sie damit sagen, dass auch hier, wie im Falle von Heinrichs Gemälde, ein Anschlag geplant war?«

»Er stand kurz vor der Ausführung. Sie wissen ja, für den Yard gibt es immer gewisse Kanäle, über die man Informationen erhält, wann und wo etwas geschehen könnte. Ich bedaure ja, dass dies im letzten Moment nicht zur Ausführung gelangte. Wir waren auf alles vorbereitet!«

»Sie und Ihre Methoden der alten Schule!«, entrüstete sich der Superintendent. »Das wird ein Nachspiel haben!«

Hutchingson schien Frumingways Erregung nicht aus der Ruhe zu bringen. »Ich wollte nur diesen Fall, der auch mit den Diebstählen in allerhöchsten Kreisen zusammenhängt, zu Ende führen.«

Der Superintendent wurde immer nervöser. »Aber diese Diebstähle haben doch aufgehört; die Opfer wurden sogar auf geheimnisvolle Weise für ihre Verluste entschädigt. Oder gibt es neue Fälle?«

»Allerdings, die gibt es!«

»Verdammt, ich wurde darüber nicht informiert! Warum, Hutchingson, warum?«

»Weil Sie leider – oder Gott sei Dank – ebenfalls zu jenen ›besseren Kreisen‹ gehören! Aber Sir, ich glaube, wir sollten unsere differierenden Meinungen lieber in einem privaten Gespräch fortführen.« Der Melancholiker verwies auf die fassungslose Kollegenschaft, die ihre Kontroverse gespannt verfolgt hatte.

»Verdammt!« Der Superintendent gebrauchte dieses Wort schon zum zweiten Male. »Wieso habe ich mich nur so hinreißen lassen? Ich wollte meine besten Leute doch nur bitten, Augen und Ohren offenzuhalten. Denn in nächster Zeit dürfte sich einiges ereignen, das versichere ich Ihnen!« Der Allgewaltige raffte seine Unterlagen zusammen und erhob sich. Nicht ohne mit einem langen Finger auf Hutchingson gedeutet zu haben. »Aber Sie, Chefinspektor, Sie kommen mit mir …«

* Beamtin von Scotland Yard, siehe den 1. Fall des Melancholikers, Wachsgesicht

Sechs Schlüssel ins Jenseits

Подняться наверх