Читать книгу Sechs Schlüssel ins Jenseits - Günther R. Leopold - Страница 8

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Am Anfang dürfte es wohl nur Zufall gewesen sein, dass sich Freunde und Bekannte von Lord Glennford am zweiten Freitag jedes Monats zu einer abendlichen Gesprächsrunde eingefunden hatten. Aber längst war daraus Tradition geworden. An jedem dieser Freitage trafen nachmittags – zumeist aus London kommend – immer dieselben Gäste in Glowchester Court ein, um nach einem gepflegten Dinner so etwas wie ein Round-Table-Gespräch zu führen. Obwohl Politik und Wissenschaft dabei die Hauptthemen waren, hatte in letzter Zeit ein neuer Gesprächsstoff alles andere in den Hintergrund treten lassen. Es ging um Geschichte. Es ging um die bedeutungsvolle englische Historie, die aus Britannien sowohl in religiöser, staatsmännischer als auch in wirtschaftlicher Hinsicht eine unangreifbare Insel gemacht hatte.

Nur zu verständlich, dass in den Gesprächen Persönlichkeiten wie Heinrich VIII. oder Oliver Cromwell eine besondere Rolle spielten. Für Sir Whildings schien dieses Thema fundierte Erinnerungen an ein früheres Leben wachzurufen. Er war lange Zeit in Oxford ein allseits anerkannter Geschichtsprofessor gewesen, bis er sich im Ruhestand seiner zweiten Leidenschaft, der Orgelmusik, widmen konnte. Was die Musik betraf, hatte Whildings allerdings in Simon Laxter – ebenfalls einer von Sir Glennfords Gästen – einen starken Rivalen gefunden. Laxter stammte aus einer alteingesessenen Orgelbauerfamilie und wurde später als professioneller Organist so erfolgreich, dass er zu Recht als Nummer eins unter den Organisten galt.

Weniger mit Kunst als mit einer gut ausgedachten Künstlichkeit versuchte Asgard Soulbrooke sich in Szene zu setzen: Er war eine Mischung aus Hellseher und Spiritist, der Lady Jane schon oft mit seinen ungewöhnlichen Experimenten erschreckt hatte, aber in Lord Glennford einen unerschütterlichen Mentor besaß. Zum Glück für die anderen Gäste ließ sich der halbverrückte Geisterbeschwörer nur ab und zu in Glowchester Court sehen. Doch er kam noch immer häufiger als Padre Cruce, der als fanatischer Jesuit die Erziehung von Douglas Glennford, dem jüngsten Sohn seiner Lordschaft, maßgeblich beeinflusst hatte. In den letzten Jahren – Douglas war inzwischen von seinem Vater heimgeholt worden – hatte seine Bedeutung für die Familie jedoch stark nachgelassen.

Seltsam, fast nie zuvor war es vorgekommen, dass bei der Gästerunde Seiner Lordschaft niemand fehlte. Vielleicht lag es an dem brandheißen Gesprächsstoff, jenen zwei fast geglückten Anschlägen auf bedeutende Kulturdenkmäler.

»Schade«, bedauerte Sir Whildings, »die Zerstörung von Holbeins Heinrich-Gemälde wäre durch die gesamte Weltpresse gegangen, es wäre ein Fanal gewesen!«

»Was Ihre katholische Seele natürlich erfreut hätte«, spottete Lady Jane.

»Das will ich gar nicht abstreiten«, versteifte sich der ehemalige Geschichtsprofessor auf seine wenig humane Einstellung. »Ich habe ja nie verstanden, wie ein ganzes Land – und damit meine ich vor allem den damaligen Klerus – vor diesem menschlichen Monster so in die Knie gehen konnte. Nicht nur, dass Heinrich seine zahlreichen Frauen erbarmungslos hinrichten ließ, er war auch der Schlächter von mehr als siebzigtausend seiner Untertanen. Und trotzdem konnte er sich als Oberhaupt einer neuen, von ihm eingesetzten Kirche feiern lassen.«

»Vergessen wir die positiven Seiten unseres Monsters nicht!« Lady Jane lachte ironisch auf. »Der Gute hat doch für die Enthauptung seiner Anne Boleyn extra einen französischen Scharfrichter nach England kommen lassen, weil der sein Geschäft besser verstand als der heimische Henker. Schön, nicht? Aber das ist Schnee von vorvorgestern.« Ihr Ton war hörbar ernster geworden. »Glaubt hier wirklich jemand, die Zeit zurückdrehen und die Rechte der armen Katholiken und des noch ärmeren Papstes erneuern zu können?«

»Man müsste es wenigstens versuchen. Reden, reden und künstliche Seifenblasen fabrizieren – was nützt das schon!« Der junge Lord Douglas war ein aufbrausender Hitzkopf. »Nur wer handelt, bringt etwas zuwege! Man müsste die Öffentlichkeit, ja das ganze Volk, darüber aufklären, welche Verbrechen unter Heinrich und Cromwell begangen wurden und was die Grundlage der neuen anglikanischen Kirche war.«

Frank versuchte seinen Bruder zu beruhigen. »Douglas, komm wieder runter! Ich verstehe ja deinen Zorn auf die menschliche oder göttliche Gerechtigkeit. Aber das waren Zeiten, in denen sich jeder Herrscher als König von Gottes Gnaden fühlen durfte. Außerdem haben sich Machtmenschen wie Heinrich und Cromwell für England auch bedeutende Verdienste erworben.«

»Zweifellos!« In Sir Whildings gewann der objektive Geschichtsprofessor über den religiösen Fanatiker die Oberhand. »Unter diesen beiden gewann unser Land an Macht, an Pracht und Größe.«

»Da muss ich als Frau doch energisch protestieren!« Lady Jane schien ihre Spottlust vergessen zu haben. »Das eben Gesagte trifft nämlich auf Heinrichs ungeliebte Tochter Elisabeth zu! Nicht umsonst spricht man von keinem Heinrich’schen, sondern von einem Elisabethanischen Zeitalter!«

»Respekt, verehrte Jane, jetzt haben Sie mir eine historische Ohrfeige verpasst!« Sir Whildings verbeugte sich vor der Hausherrin. »Auf jeden Fall war es eine Periode, die große Persönlichkeiten hervorgebracht hat, im Guten wie im Schlechten.«

»Wobei es fraglich bleibt, wo die horrenden Ausgaben für Heinrichs Sportbegeisterung einzuordnen sind«, machte sich Soulbrooke plötzlich bemerkbar.

Lady Jane staunte: »Wie, dieser Fresssack, dieses monströse Fleischgebilde, hat sich für Sport interessiert?«

»Nicht nur interessiert, er hat auch selbst intensiv Sport betrieben. Natürlich nur in jungen Jahren. Neben den üblichen Ritterturnieren gehörte Tennis zu seinen Lieblingssportarten. Er ließ sogar eine Sporthalle bauen, in der ganz Wimbledon Platz gefunden hätte. Und das alles in einem ungeheuer großen Palast, in dem der heutige Buckingham Palast nur ein besseres Pförtnerhaus gewesen wäre.«

»Asgard Soulbrooke, Ihr Wissen, geradezu erstaunlich!« Spott und Ironie schienen bei der Hausherrin zurückgekehrt. »Hat Heinrich Ihnen das bei einer Ihrer Seancen selbst mitgeteilt oder stammt es aus einer der jetzt so beliebten BBC-Dokumentationen?«

Der Hellseher würdigte sie keiner Antwort und wandte ihr den Rücken zu. Auf Douglas schien seine Aussage mehr Eindruck gemacht zu haben.

»Da sieht man es wieder«, ereiferte er sich, »der König und sein Hof lebten in unüberbietbarem Luxus, während das Volk in Dreck und Gestank verkommen ist.«

»Gott hat ihn dafür gestraft!«, erklang es voll Genugtuung. Padre Cruce hatte sich von seinem Sitz erhoben und stolzierte – anders hätte man sein gravitätisches Schreiten nicht nennen können – zu seinem ehemaligen Zögling. »Heinrichs Alter muss furchtbar gewesen sein. Er konnte sich kaum mehr bewegen und verfaulte gleichsam bei lebendigem Leib.«

»Dafür hat sich der zweite Bluthund, Cromwell, eines für damalige Verhältnisse langen Lebens und zahlreicher Ehrungen erfreuen können. Doch wir müssen das Rad der Geschichte zurückdrehen, und ich weiß auch schon wie!«

»Aber Douglas! Deine Bruderschaft der wahren Christen ist bestimmt gut gemeint. Doch in England wieder die katholische Religion einzuführen, weißt du, was das für Unsummen bei Radio, TV und Printmedien verschlingen würde? Dazu müsste man nicht eine, sondern gut ein Dutzend Notenpressen haben.«

Douglas zögerte ein wenig. »Ich weiß, Frank, du warst immer der Realist in der Familie, und ich habe dich ehrlich bewundert, wie du aus der Ruine Glowchester Castle eine ergiebige Touristenattraktion gemacht hast. Doch vielleicht gibt es, gar nicht weit von hier, eine noch ergiebigere Geldquelle. Man muss sie nur finden!«

Sir Huxley Glennford blickte beinahe erschrocken auf seinen jungen Hitzkopf. »Douglas, gehörst du etwa auch zu jenen Tagträumern, die an den sagenhaften Schatz der Glennfords glauben? Wie viele haben schon ihr Glück versucht, und was ist dabei herausgekommen? Nichts! Nur vergeudete Zeit! Dein Namensvetter Douglas Glennford hat laut unserer Familienchronik mit diesem Gerücht nur Spaß getrieben!«

Auf Douglas hatten seines Vaters Warnungen wenig Eindruck gemacht. Er zeigte auf ein goldgerahmtes Gemälde, das seinen Vorfahren zeigte. »Sieht er mir nicht ähnlich, lächelt er mir nicht zu?« Das Porträt wies tatsächlich eine erstaunliche Ähnlichkeit mit Douglas auf. »Ich glaube zu wissen, wie man an seinen Schatz kommt, ohne sich dabei Mr. Soulbrookes spiritistischer Seancen bedienen zu müssen.« Sein Blick hatte plötzlich etwas Abwesendes, Geheimnisvolles bekommen.

»Die Bruderschaft der wahren Christen wird bald über das benötigte Geld verfügen.« Er bekreuzigte sich und schien plötzlich wieder ganz der religiöse junge Mann von früher zu sein. »Übrigens – wie heißt es doch gleich? Ach ja, der Zweck heiligt die Mittel!«

Niemand wusste mit diesen Worten etwas anzufangen. Nur Padre Cruces Augen leuchteten erfreut auf. »Oho, ein Jesuitenwort im anglikanischen England! Da soll noch einer sagen, es gäbe keine Wunder mehr …«

Später, kurz vor Ende der Freitagabendrunde zog der Jesuitenpater seinen früheren Zögling vertraulich beiseite. »Lord Douglas …«

»Den Lord können Sie bei unserer langjährigen Beziehung vergessen«, warf der junge Mann rasch ein, aber Cruce ließ sich nicht abbringen.

»Nein, nein, Ehre, wem Ehre gebührt. Ich werde Eure Lordschaft für längere Zeit nicht sehen. Fürs Erste gehe ich nach Spanien zum Grab des heiligen Loyola, wo ich mich seelisch auf meine nächste Aufgabe vorbereiten werde. Wie Sie ja wissen, sind wir Jesuiten in Südamerika stark vertreten. Dort hat es einige Vorkommnisse gegeben, die ich im Auftrag unseres Ordens, na, sagen wir, aufklären soll. Das wird einige Zeit beanspruchen. Doch meine Südamerika-Aufgabe wird nicht für ewig sein. Ich freue mich schon auf unser Wiedersehen; Eure Lordschaft wird dann im besten Mannesalter sein.« Er umarmte Douglas und wollte gehen, aber der junge Lord hielt ihn zurück.

»Einen Augenblick noch, ich habe ein Geschenk für Sie!«

»Ein Geschenk?«, staunte der Padre. »Wie komme ich dazu, dass Sie mir …«

»Vielleicht ist es gar kein Geschenk«, unterbrach Douglas. »Vielleicht ist es mehr eine Verpflichtung.« Er suchte kurz in seinen Taschen und zog einen seltsam geformten Schlüssel hervor. »Die Bruderschaft der wahren Christen soll kein leeres Gerede sein. Und wie mein Stiefbruder Frank so nachdrücklich ausführte, bedarf es hierzu einer Menge Geld, vielleicht sogar eines Schatzes.«

»Heißt das, an der Geschichte mit dem sagenhaften Schatz ist wirklich etwas dran?«, wollte der Padre wissen.

Sein ehemaliger Schüler ging auf diese Frage nicht ein. »Das hier ist einer von sechs Schlüsseln, alle mit einem kleinen Kettchen versehen, sodass man sie leicht um den Hals tragen kann. Es wird noch fünf weitere Schlüsselbesitzer geben, die einander teilweise kennen werden. Sollte mir etwas zustoßen, müssen sich alle zu erkennen geben und gemeinsam nach dem Glennford-Schatz in Glowchester Castle suchen. Ein Schlüssel allein würde nicht genügen.«

Der Padre blieb skeptisch. »Ein Schatz, ein richtiger Schatz, das klingt wie ein Märchen.«

Seine Lordschaft konnte sich ein spöttisches Lächeln nicht verkneifen. »Vielleicht ist es gar kein Schatz, vielleicht handelt es sich nur um viel, viel Geld.«

»Bei mir können Sie sicher sein, dass ich, was wir auch finden, unserer gerechten Aufgabe zukommen lasse. Aber sechs Schlüssel, das bedeutet auch sechs verschiedene Persönlichkeiten. Und Geld, noch dazu viel Geld, verdirbt oft den besten Charakter. Ich habe Angst, lieber Freund, große Angst: Die sechs Schlüssel könnten zu sechs Schlüsseln ins Jenseits werden …«

Sechs Schlüssel ins Jenseits

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