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Glowchester City war keine Stadt, höchstens eine größere Ortschaft. Ihre Bewohner hatten sich das hochtrabende »City« nur zugelegt, um sich von dem nicht allzu weit entfernt liegenden Glowchester Court und Glowchester Castle deutlich zu unterscheiden. Inmitten von zur Frühlingszeit herrlich blühenden Obstgärten gelegen, bot der Ort ein Bild ruhevollen Friedens. Früher einmal hatte das schrille Pfeifen einer lokalen Eisenbahn gestört, mit der man London in zwei Stunden erreichen konnte. Aber das war Schnee von gestern. Ein führendes Busunternehmen hatte die Aufgaben der Bahn übernommen, und die Autohupen nahmen sich gegen das Bahngepfeife geradezu melodiös aus.

Wenn man der staubigen Landstraße weiter nach Süden folgte, so gelangte man bald zu einer Kreuzung, die mit großen Verkehrsschildern den Weg nach Glowchester Castle anzeigte. Der Charakter der Landschaft veränderte sich bald grundlegend. Das Obstbäume-Ansichtskartenbild wurde zuerst zur typisch englischen Parklandschaft und bald darauf zu einem mehr und mehr verwilderten Wald, durch den sich die Landstraße nur mühsam hindurchschlängelte. An einigen Stellen, wo die Bäume weiter auseinanderstanden, konnte man in der Ferne die halbverfallenen Mauern von Glowchester Castle sehen, was die geheimnisvolle Stimmung der Gegend noch verstärkte. Erst lange Zeit nach der Zerstörung des alten Kastells entschloss sich ein Verwandter des früheren Burgherrn, ein Lord Glennford, sich wieder in der Gegend um Glowchester niederzulassen. Er ließ zu diesem Zweck nicht allzu weit von der Ruine entfernt ein kleineres Schloss, nämlich Glowchester Court, errichten, das noch heute den Glennfords als Stammsitz diente.

Wie schon erwähnt war Glowchester City alles andere als eine Stadt, und seine Bürger waren alle durchaus friedliche und ehrsame britische Untertanen, die lieber abends im »Harry zur See« aufregende Geschichten hörten, als sie selbst zu erleben. Wenn sie ihr Bier oder ihren Grog getrunken hatten und spät den Heimweg antraten, hätten sie keine zehn Pferde in die Gegend von Glowchester Castle gebracht. Nicht nur, dass die Bäume im Mondlicht gespenstische Schatten warfen, stand es bei den Ortsbewohnern fest, dass es bei den Ruinen nicht ganz geheuer war.

Doch zum Glück gab es mit dem »Harry zur See« ein Lokal, in dem man sich sowohl körperlich als auch seelisch aufwärmen konnte. Der Wirt war früher einmal Seemann gewesen, was den sonderbaren Namen der Gastwirtschaft erklärte. Er hatte schon vor etlichen Jahren die christliche Seefahrt aufgegeben, um an einem ruhigen Platz vor Anker zu gehen. Im Augenblick lümmelte er an der Theke herum – sein Hemd immer so weit offen, dass man den tätowierten Kopf seiner einstigen Liebe sehen konnte – und hörte gelangweilt dem schleppenden Gespräch seiner Gäste zu, das sich hauptsächlich um ein Thema drehte: Eben berichtete der Vikar, der ein weitgereister und zumindest für Glowchester hochgebildeter Mann war, von seinem Antrittsbesuch bei Lady Jane, der jetzigen Schlossherrin von Glowchester Court. Nichts hätte willkommeneren Gesprächsstoff bieten können als die neuerliche Verheiratung des 15. Lords von Glowchester. Sir Glennford hatte mit seiner ersten Gattin, einer Italienerin namens Lucia Ferroni, eine überaus glückliche Ehe geführt. Tragischerweise waren sie und Godwin, ihr erstgeborener Sohn, bei einem Autounfall ums Leben gekommen.

Es war ihr letzter Wunsch gewesen, dass Douglas, der Jüngere, in ein italienisches Jesuitenkloster kommen sollte. Dort wurde er von einem Padre Cruce betreut, der sich intensiv mit den religiösen Gegebenheiten Englands auseinandersetzte und seine Ansichten an seinen Schützling weitergab.

Sir Glennford hatte inzwischen Frank Glennford, einen entfernten Verwandten, als Adoptivsohn angenommen. Frank sollte Douglas gleichsam den verunglückten Bruder ersetzen.

Damit nicht genug, lernte Seine Lordschaft in Frankreich eine sehr attraktive Dame kennen, die er trotz des beträchtlichen Altersunterschiedes heiratete, wodurch sie als »Lady Jane« Douglas’ Stiefmutter wurde.

»Sie ist eine überaus vornehme Dame«, setzte der Vikar seinen Bericht fort.

»Aber sie würde besser zu Frank Glennford als zu seinem Vater passen«, ergänzte Mr. Humps bissig. Jonathan Humps war der Redakteur der Glowchester Post, die mit Mühe und Not zweimal im Monat erschien. Er war der anerkannte Zyniker der Stadt, und es gab nicht wenige, die auf ihn stolz waren.

Dennoch stieß sein freimütiger Kommentar auf Widerstand. Vielleicht dachte sich zwar mancher dasselbe, doch man hütete sich, es so unverblümt auszusprechen.

»Seine Lordschaft ist ein Mann in den besten Jahren!«, opponierte der alteingesessene Apotheker lautstark.

»Das sagt er nur, weil er selbst in den besten Jahren ist«, spöttelte Mr. Humps leise seinem rechten Nachbarn gegenüber, aber immerhin so laut, dass es die anderen hören konnten.

Man hätte zweifellos über dieses Thema noch weiter debattiert, wäre in diesem Augenblick nicht Mr. Tobias eingetreten. Es gab Leute, die den Butler von Glowchester Court seit über zwanzig Jahren kannten, doch sie konnten sich nicht erinnern, Mr. Tobias einmal anders als in seinem konventionellen schwarzen Gehrock gesehen zu haben. Es wäre unverzeihlich gewesen, in ihm nur einen gewöhnlichen Bediensteten zu sehen. Zwar galt er allgemein als Lord Glennfords Butler, aber er war auch dessen Chauffeur, Kammerdiener und Krankenpfleger, wenn es darauf ankam – kurz, ein von allen respektierter Vertrauter Seiner Lordschaft. Und die Honoratioren von Glowchester City fanden nichts daran, einen tiefen Bückling vor ihm zu machen.

Dass eine so wichtige Persönlichkeit ein Lokal wie den »Harry zur See« mit ihrer Anwesenheit beehrte, hatte einen allseits bekannten Grund: Jeden zweiten Freitag im Monat traf sich in Glowchester Court eine in vielerlei Hinsicht sehr unterschiedliche Herrenrunde. Die Treffen dauerten manchmal bis in die Morgenstunden, und Mr. Tobias hatte dafür zu sorgen, dass der seltsamen Freundesrunde an leiblichen Genüssen nichts fehlte. Daher war es zu einer Art Ritual geworden, dass der Butler am Donnerstag vorher Glowchester Citys Geschäfte nahezu leerfegte, worauf sich die hiesige Kaufmannschaft entsprechend vorbereitete. Alles wurde der Herrschaft Freitagfrüh zeitgerecht geliefert. So konnte Mr. Tobias einem zweiten Ritual frönen, nämlich seiner regelmäßigen Einkehr am Donnerstagabend im »Harry zur See«. Der Wirt wusste schon, welches Getränk sein Gast bevorzugte, wobei man sich fragen konnte, ob Mr. Tobias’ Lieblingsgetränk ein Tee mit Rum oder ein Rum mit Tee war.

Bei des Butlers Eintritt war das Gespräch über Lord Glennfords junge Gattin sofort verstummt. Zum Glück gab es weiteren Gesprächsstoff, der in letzter Zeit ebenfalls für allgemeines Interesse gesorgt hatte. »Es ist natürlich purer Unsinn, wenn einige Leute behaupten, die ›Singende Nora‹ wieder gesehen zu haben«, ereiferte sich der Vikar, um hierauf salbungsvoll fortzufahren: »Gott, der Herr, gibt jeder verschiedenen Seele die ewige Ruhe!«

»Und wenn ich euch sage«, widersprach ein anderer, »der Gärtner selbst hat sie gesehen, als er Rosen nach Glowchester Court brachte. Sie ist zwischen den Bäumen in Richtung Ruine gehuscht.«

Mr. Tobias hörte interessiert zu. »Schade, mir ist dieses Mädchen, das durch ihren Gesang den jungen Burgherrn betört haben soll, worauf sie sein Vater hinrichten ließ, noch nie begegnet!«

»Fama crescit in eundo«, prunkte der Vikar mit seinen Lateinkenntnissen. »Übrigens gibt es eine zweite Version dieser sagenhaften Erzählung, die mir geschichtlich viel wahrscheinlicher erscheint.«

»Was Sie nicht sagen«, mischte sich der Wirt ein.

»Ein Mädchen namens Nora soll es tatsächlich gegeben haben. Bestimmt haben einige von Ihnen schon«, der Vikar räusperte sich, »von der verwerflichen Unsitte des ›Rechts der ersten Nacht‹ gehört, die besonders in Deutschland, aber auch in England ihre Anhänger hatte. Danach durfte der Burgherr vor der eigentlichen Hochzeitsnacht die Defloration der Braut vornehmen. Manche Jungfrau empfand das als Ehre, andere hingegen als große Schande. Das Mädchen Nora gehörte zweifellos zu Letzteren. Sie soll sich, Psalme singend, vom Altan der Burg gestürzt haben, um nicht auf so schändliche Weise ihrer Jungfernschaft beraubt zu werden.«

»Ach was, egal welche Version auch stimmen mag«, warf Mr. Humps ein – Opposition und Besserwissen gehörten nun einmal zu seinem Charakter –, »wenn man einige Schluck’ zu viel getrunken hat, und der Mond auf den Wald scheint, kann man leicht flechtenbewachsene Baumstämme für eine geisterhafte Gestalt halten.« Der Redakteur hielt erschöpft inne, da es ein langer Satz gewesen war und er an schwerem Asthma litt.

»Der Gärtner trinkt nicht!«, widersprach der Wirt des »Harry zur See«, der es ja wissen musste. Mr. Humps sah sich um die Wirkung seiner Logik gebracht. »Aber der Pächter drüben am Creek Hill soll die Erscheinung auch schon beobachtet haben. Wie dem auch sei, meiner bescheidenen Meinung nach seid ihr, die Glowchester Bürger, in euren Spuk ja geradezu vernarrt!« Damit hatte er den Nagel auf den Kopf getroffen, denn was wäre ein englisches Schloss ohne Gespenst gewesen?

»Doch gestern Nacht«, ereiferte sich nun der Apotheker, indem er beteuernd an seine Brust klopfte, »habe ich selbst …«

Mr. Tobias fand es an der Zeit aufzubrechen, denn er kannte den Apotheker als berüchtigten Schwätzer, dessen höchster Lebenszweck es war, im Mittelpunkt des allgemeinen Interesses zu stehen.

Der Butler trat auf die Straße und zog den Umhang, den er über seinem Gehrock trug, enger zusammen. Es war kalt, und der heiße Tee mit Rum, den der Wirt des »Harry zur See« so herrlich zu mischen verstand, hatte ihm gutgetan. Er schritt rüstig aus, denn bis Glowchester Court war es zu Fuß ein schönes Stück Weges.

Er beeilte sich, als er bereits den Kiesweg nach Glowchester Court entlangschritt. Die Wolken hatten sich verzogen und ließen den düsteren Park in einem unwirklichen Licht erscheinen. Man konnte verstehen, dass ein nächtlicher Spaziergang durch Glowchesters Wald starke Nerven erforderte.

Abgestorbene Äste von alten Weidenbäumen reckten sich drohend dem einsamen Wanderer entgegen. Hie und da schrie in der nahe gelegenen Ruine ein Kauz. Der Totenvogel rief, so klang es.

Mr. Tobias war diesen Weg schon öfters zu später Stunde gegangen, doch heute fühlte er zum ersten Mal so etwas wie Angst. Er schüttelte unwillig den Kopf. Wie einen solch dumme Geschichten doch unwillkürlich beeindrucken konnten. Aber die heimliche Furcht wollte nicht weichen. Der Wald schien heute anders als sonst.

Plötzlich blieb er stehen und horchte angestrengt. Da war doch ein seltsamer Ton zu vernehmen gewesen? War es nur der eigene Atem, den der Butler hörte? Stoßweise, keuchend, geradezu nach Luft ringend? Schon wollte Mr. Tobias seinen Weg fortsetzen, als er abermals zusammenschreckte: Jetzt war der Ton von vorhin wieder zu hören. Es war ein unsagbar trauriger Klang, der durch die Nacht irrte.

Der Butler fühlte kalten Schweiß auf seiner Stirn stehen. Er duckte sich und zog die Schultern ein, als ob er dadurch die unbekannte Gefahr abwenden könnte. »Die Singende Nora«, dachte er im ersten Augenblick, doch schon im nächsten Moment verwarf er den Gedanken wieder. Unsinn, es gab keine Spukgestalten! Seine überreizten Sinne spielten ihm wohl einen Streich.

Er horchte noch immer, doch nichts war mehr zu hören. Nur der Wind strich durch die kahlen Baumkronen und bewegte die Äste, die seltsame Schatten warfen. Mit einer fahrigen Bewegung wischte sich Mr. Tobias den Schweiß von der Stirn, dann hastete er weiter. Er würde froh sein, wenn er die schützenden Mauern von Glowchester Court endlich sehen konnte. Ab und zu blieb er stehen und lauschte ängstlich. Nichts war zu hören. Doch jetzt schien ihm sogar das Schweigen gefährlich.

Als er bereits drei Viertel des Weges zurückgelegt hatte und die Türme des Herrenhauses vor sich sah, stockte er erneut. Diesmal war es bestimmt keine Täuschung: Er vernahm deutlich den schon vorher gehörten, traurigen Klang. Von überallher schien er zu kommen! Nahe, unheimlich nahe – und doch entfernt: Als ob sich der Ton im Wald verirrt hätte.

Der Butler war bestimmt kein Feigling, aber in diesem Augenblick stürzte er blindlings vorwärts, getrieben von nur einem Gedanken: Glowchester Court so schnell wie möglich zu erreichen. In weiten Sätzen hastete er dahin und hatte dennoch das Gefühl, als ob die wehmütige Melodie immer näher käme.

Jetzt hatte er den Rasen, der sich vor der Hauptfront des Schlosses erstreckte, erreicht. Nach Atem ringend stürzte er auf das große Eingangstor zu und stolperte die nach oben führenden Steinstufen empor.

Er glaubte, es ganz deutlich zu spüren, wie sich eine kalte Hand auf seine Schultern legte. Furchterfüllt drehte er sich um. Etwa ein Dutzend Schritte hinter ihm stand eine weiß umhüllte Gestalt, die ihm zuwinkte und gleich darauf zwischen den Bäumen verschwand.

Sechs Schlüssel ins Jenseits

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