Читать книгу Wunder wird es hier keine geben - Goran Fercec - Страница 10
5
ОглавлениеBender steht vor der Wohnungstür, er hat die feste Absicht, den Schlüssel ins Schloss zu stecken und eine neue Seite in seinem Leben aufzuschlagen. Mit dem alten Schlüssel ins neue Leben einzutreten ist keine leichte Sache. Das flackernde Licht im Treppenhaus geht genau in dem Augenblick aus, als Bender mit den Fingern das Schloss ertastet, also muss er sich zusätzlich Mühe geben, um seinen Beschluss zu verwirklichen. Er bemerkt, dass aus dem Guckloch seiner Wohnung Licht kommt. Dabei ist er ganz sicher, dass er beim Hinausgehen das Licht ausgeschaltet hat. Er presst ein Ohr gegen die Tür. Ihm scheint, er hört die Stimmen von Kindern, die partout nicht ins Bett wollen. Das ist nicht die Geräuschkulisse seines Lebens. Dann wird es still. Er verspürt Erleichterung, sperrt die Tür auf und betritt seine Wohnung. Eine Welle unendlicher Freude schlägt Bender entgegen. Alles, was er sieht, freut sich über ihn. Die Wände würden sich bewegen, wenn sie könnten. Der Spiegel zeigt ihm fröhlich das Bild eines Verlierers. Dann bricht auch beim Telefon die helle Freude aus, es läutet. Bender macht drei Schritte und hebt ab. Die Berührung des Telefonhörers verursacht ihm Schmerzen am äußeren Rand des verletzten Ohrs, noch bevor irgendjemand spricht. Bender räuspert sich. Am anderen Ende beginnt jemand zu sprechen. Bender erkennt die Stimme nicht. Er presst den Hörer fester an das schmerzende Ohr. Er ist überzeugt, am anderen Ende muss jemand sein, der seine, Benders, Stimme erkennen kann. Ansonsten wäre dieser Augenblick gänzlich sinnlos. Zwei Stimmen, die sich gegenseitig nicht erkennen, lassen keine Hoffnung für die Zukunft aufkommen. Bender versucht, zum Anfang zurückzukehren, die Stille zu rekonstruieren, die vor dem Telefonläuten geherrscht hat. Es fällt ihm schwer, eine Kette von Ereignissen zu finden, hinter der er wie hinter einer unumstößlichen Tatsache stehen könnte. Er hat versucht, die Tür aufzusperren. Das Licht ist ausgegangen. Er hat das Ohr gegen die Tür gepresst. Er hat die Wohnungstür aufgesperrt. Er hat die Wohnung betreten. Er hat mit Mühe den Lichtschalter gefunden. Er hat das Licht eingeschaltet. Sein Bild im Spiegel hat ihm keine Angst eingejagt, sondern ihn lediglich dazu gebracht, zehn Unterschiede zu finden. Bender vor dem Spaziergang und Bender nach dem Spaziergang. Die Oberlippe hat sich verdoppelt. Das rechte Auge ist zugeschwollen. Seine Handflächen sind so zerkratzt, als wäre er auf allen Vieren nach Hause gekrochen. Die Risse an seinem Hemd sind fatal. Der nasse Fleck zwischen den Beinen ist erniedrigend. Die verschlammten Hosenbeine machen ihn zum Verfolgten und Verfolger zugleich. Er löst seinen Blick vom Spiegelbild und lässt ihn durch den Raum wandern. Die Wände sind ihm um eine Nuance grüner erschienen als heute Morgen. Er hat daraus den Schluss gezogen, dass Farbe sich beim Trocknen verändert, und dann hat das Telefon geläutet. Ein Mal, zwei Mal, drei Mal. Beim dritten Mal läutet es immer so, als wäre es das letzte Mal. Er zieht die Anspannung des Wartens stets absichtlich in die Länge. Bender ist ruhigen Schrittes durch das Zimmer gegangen, hat hinter sich die Tür zugemacht, und noch bevor er den Hörer in die Hand genommen hat, hat er sich geräuspert, damit sein Gesprächspartner nichts von seinem geschwollenen Kiefer bemerkt. Er wartet, dass jemand am anderen Ende einige Worte sagt und erkennbar wird. Bender hört, wie das weiße Rauschen zwischen zwei stummen Punkten vibriert. Am anderen Ende spricht wieder jemand. Die Stimme klingt rau und erschöpft. Irgendwo zwischen Bruno Ganz und Johnny Cash. Ich bin es, sagt die Stimme vom anderen Ende, und noch bevor er weiterspricht, holt der Andere Luft, als hätte er vor, schneller weiterzusprechen, aber er spricht nicht schneller. Er sagt nichts. Es passiert nichts. Wer ist da?, fragt Bender. Zunächst kein Zeichen, dann wieder ein Satz. Die Tage werden immer kürzer, sagt die Stimme und hält inne. Es folgt eine Pause, nach der man entweder zur Rettung eilen oder den Hörer auflegen müsste. Bender lässt seinen Blick über die Wände schweifen und über die Farbeimer, die er in den Keller bringen sollte, um die Sache endlich abzuschließen. Knacken in der Telefonleitung. Atem vom anderen Ende. Erst als die Stimme jegliches erkennbare Timbre verliert und nur noch Einatmen und Ausatmen zu hören ist, erkennt Bender an der Kurzatmigkeit seinen Vater. Er weiß nicht, was er ihm sagen soll, außer dass er ihn erkannt hat. Ich habe dich erkannt, sagt Bender. Vater bläst in den Hörer. Die Luft im Telefonhörer kann vom Lachen oder vom Weinen kommen. Die Stimme, die er als Vaters Stimme erkennt, könnte auch einem anderen Mann gehören. Um das Gespräch fortzusetzen, müsste der Andere so tun, als wäre er sicher, dass Bender ihn erkannt hat. Zumindest jene Reste, an denen zwar der Zahn der Zeit nagt, die aber dennoch stets erkennbar bleiben. Ich habe dich erkannt, wiederholt Bender. Dann verlegt er den Hörer auf das linke Ohr, so wie er sein Körpergewicht verlagern würde. Vater schweigt weiterhin. Sie haben schon viel zu lange nichts mehr voneinander gehört. Ich habe schon viel zu lange nichts mehr von dir gehört, sagt Bender. Durch das offene Fenster dringt das Lachen der Teenager von der Straße herein. Bender denkt, sie lachen über den Satz, den er soeben gesagt hat. Bender wiederholt: Ich habe schon viel zu lange nichts mehr von dir gehört. Anschließend nähert er sich dem Fenster. Die Menschen auf der Straße können ihn sehen, wie er mit dem Telefonhörer in der Hand dasteht, aber sie können ihn nicht hören. Er sieht ihnen zu, wie sie vorübergehen. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite sind Sitzbänke, bei denen sich nachts betrunkene Teenager herumtreiben und tagsüber junge Männer auf dem Heimweg eine Pause einlegen. Sie tragen hängende Sporttaschen über den Schultern und haben Schweißflecken auf dem Rücken. Ihre Heimkehr dauert Jahre. Bender hört Vater atmen und achtet darauf, dass die Teenager ihn nicht am Fenster stehen sehen. Vater hustet und sagt etwas über die Zeit, von der er allzu viel hat, oder so etwas ähnliches. Das Kabel, das das Telefon mit dem Wandstecker verbindet, ist so lange, dass Bender das Gespräch auch am Fenster oder im Bett liegend führen könnte. Bevor Vater noch etwas sagt, setzt sich Bender aufs Bett und stellt das Telefon in seinen Schoß. Das Kabel ist quer durch das Zimmer gespannt und teilt es in zwei Hälften. Käme hier jemand vorbei, könnte er stolpern und hinfallen. Würde noch jemand in der Wohnung leben, wäre jetzt der richtige Augenblick für die Warnung: Pass auf, das Kabel! Ich habe dich mehrmals angerufen, sagt Vater, meist nachts. In den letzten Nächten hat jemand angerufen, sagt Bender. Er zieht am Telefonkabel, so lange, bis es wie eine Saite gespannt ist. Er streckt den Fuß und reißt mehrmals mit dem großen Zeh am Telefonkabel. Das Kabel vibriert kaum hörbar. Hallo, sagt Vater, schlechter Empfang, dann sagt er noch drei Mal hallo. Es ist nur die Angst vor einer als Störung getarnten technologischen Katastrophe, denkt Bender, lässt das Kabel los, das zu Boden fällt, anschließend zieht er die Füße wieder zu sich. Vater sagt, er habe Nachrichten, die nicht gut seien. Ich habe Nachrichten, die nicht gut sind, sagt Vater. Vor zehn Tagen ist sie aus dem Haus gegangen und nicht wiedergekommen. Verschwunden. Sie wird von der Polizei gesucht. Das Protokoll liegt hier neben mir, aber die Buchstaben sind zu klein, ich kann sie nicht lesen. Der Polizist hat gesagt, jedes Jahr verschwinden eintausendfünfhundert Menschen, eintausendfünfhundert ist viel, manche werden niemals gefunden, sie sind einfach weg, sagt Vater. Bender lässt zu, dass Vater ihn in eine Situation des totalen Chaos führt. Bender fragt: Über wessen Verschwinden wurde ein Protokoll in zu kleinen Buchstaben angelegt, das er neben sich liegen habe? Vater wiederholt die Sätze in derselben Reihenfolge, aber er fügt das fehlende Substantiv hinzu. Vater sagt: Mutter, vor zwei Tagen ist sie aus dem Haus gegangen und seitdem nicht wiedergekommen. Verschwunden. Sie wird von der Polizei gesucht. Das Protokoll liegt hier neben mir, aber die Buchstaben sind zu klein. Bender sagt: Soeben hast du gesagt, sie ist vor zehn Tagen weggegangen, und jetzt sagst du, vor zwei Tagen. Vor zehn Tagen, sagt Vater nervös. Der Polizist hat gesagt, jedes Jahr verschwinden eintausendfünfhundert Menschen. Eintausendfünfhundert ist viel. Manche werden niemals gefunden. Sie sind einfach weg. Es folgt Stille. Es gibt keine Zeugen, es wäre gut, wenn du kommen könntest. Du kannst dich in ein Flugzeug setzen, fügt Vater noch hinzu und ersetzt weitere Worte durch seinen Atem. Vater hat recht. Bender hat kein einziges Argument, außer der Tatsache, dass seit ihrem letzten Treffen ein, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben Jahre vergangen sind. Unumstößliche Tatsachen durchbrechen getroffene Entscheidungen wie ein Eisbrecher das Eis. Nach den sieben Jahren sind die Lebenden nicht mehr am Leben und die Toten sind vergessen. Bender antwortet nicht. Er hört, wie Vater am anderen Ende eine Zigarette anzündet. Zuerst hört er das Knacken des Streichholzes, dann glaubt er den Rauch riechen zu können. Du rauchst?, fragt Bender. Vater bläst den Rauch aus. Die Teenager unterm Fenster sind weg, Bender kann ihre Stimmen nicht mehr hören. Bender steht vom Bett auf. Er betrachtet die Mulde, die sein Hintern hinterlassen hat und die langsam verschwindet. Die Dinge kehren an ihren Platz zurück. Immer ist es so. In einigen Minuten wird keine Spur mehr davon zeugen, dass hier jemand gesessen und ein Telefongespräch geführt hat. Wenn es keine Zeugen gibt, dann ist auch nichts passiert. Bender unterbricht Vater beim Ausblasen des Rauchs und sagt: Wenn es keine Zeugen gibt, dann ist auch nichts passiert. Vater hält für einen Augenblick inne, unfähig zu erkennen, was vorher und was nachher kommt. Mutter ist die letzte, die weggeht. Bender sagt, er glaube ihm nicht. Ich glaube dir nicht, sagt Bender. Es handelt sich allerdings um einen nicht durchdachten Satz, denn die Verschwundene könnte ja in der Zwischenzeit auch zurückgekehrt sein. Vater antwortet nicht. Bender fragt: Wie lange ist Mutter schon weg? Vater zählt halblaut, um die Situation überzeugender aussehen zu lassen, und hört bei der Zahl neun auf. Sie ist seit neun Tagen weg, sagt Vater. Das ist weniger als zehn Tage, sagt Bender. Neun, sagt Vater. Bender wiederholt die Zahl, die Vater ihm als Antwort gegeben hat, und denkt darüber nach, was ein Tag weniger für denjenigen bedeutet, der weggegangen ist, im Bezug auf denjenigen, der geblieben ist. Vater sagt: Niemand hat sie weggehen gesehen. Sie hat keine Nachricht hinterlassen. Sie ist einfach weggegangen. Vater schließt seine Aufzählung mit einem Satz, der einen Fehler in der logischen Gedankenabfolge freilegt. Ich denke oft an dich, sagt Vater. Kein Satz, den Vater aussprechen oder Bender erwarten könnte, wäre weniger logisch. Der Satz wurde weder aufgezeichnet noch auf Tonband aufgenommen. Für diesen Augenblick braucht es eine andere Sprache, aber für die andere Sprache hat er keine Zeit mehr. Er könnte von Vater verlangen, ihm detailliert zu beschreiben, wie und woran er genau denkt, wenn er an ihn denkt. Wo beginnt er und wo endet er, und wie sehen die Bilder zwischen Ende und Anfang aus. Und wenn möglich, soll er versuchen zu beschreiben, wie er ihn sich vorstellt, welche Kleidung er trägt, wie lang sein Haar ist, ob er einen Bart hat und welche Farben seine Augen haben. Bender stellt keine dieser Fragen. Das Gespräch könnte in die falsche Richtung abgleiten und sich in Details wiederholen. Es würde dunkel werden. Der Abend würde in die Nacht übergehen. Die Nacht in den Morgen. Der Morgen wieder in den Tag. Bender spürt einen Schmerz in der Schulter. Er legt den Hörer in die andere Hand und presst ihn wieder an das schmerzende Ohr. Vaters Stimme klingt plötzlich müde und deutet ein Ende des Gesprächs an. Die Stimme wird immer tiefer und langsamer, wie ein Tonband, das verlangsamt abgespielt wird. In der Wohnung über Bender übt jemand Klavier. Die gleiche Phrase wird schon seit Stunden wiederholt, aber der Klang dringt erst jetzt zu ihm durch. Vermutlich ein Mädchen. Nur Mädchen können so hartnäckig sein. Jemand übt Klavier, sagt Bender in den Hörer, schon seit Stunden wiederholt sich das gleiche Thema. Vermutlich ein Mädchen, sagt Bender. Vater verstummt. Bender hofft, dass Vater nicht mehr so dumm ist wie früher. Unbeschreiblich und selbstzufrieden dumm. Dumm zum Quadrat. Dümmer als groß. Ich kann es hören, aber nicht erkennen, sagt Vater nach einer längeren Pause. Das war genau, was er sagen sollte. Reue und Zweifel zeigen. Er kann es nicht erkennen. Bei dem Mädchen, das Klavier übt, hat er soeben zehn Punkte gutgemacht. Bender schaut auf die digitale Uhr, die neben dem Kopfende des Betts flackert. Wie lange dauert das Gespräch schon? Einem Zeugen könnte es scheinen, dass es zulange dauert. Der Dialog gleicht einer Slow-Motion-Aufnahme, die von der Sprache verlassen wurde, die Sprache ist geflüchtet. Geblieben sind nur vage Geräusche und langgezogene Stimmen, die an die Unentschlossenheit von Tieren gemahnen. Er hat nichts versprochen. Es ist noch zu früh, um Vater ein Versprechen zu geben. Vater könnte sein Schwanken erahnen. Das Gespräch kann nicht mehr allzu lange dauern. Vater zündet sich eine weitere Zigarette an und bläst den Rauch direkt in den Hörer, als wollte er Benders Desinteresse damit narkotisieren, für den Fall der Fälle. Bevor sie das Gespräch beenden und jeder an seinem Ende den Hörer auflegt, begreift Bender, dass er Vater auch dann nicht glauben würde, wenn dieser jetzt in Tränen ausbrechen sollte. Vater schweigt, und anschließend produziert er das allerfeinste Geräusch des Kummers, das ein Mensch zu produzieren in der Lage ist. Die feine Linie der Trauer zieht sich wie Nasenrotz in die Länge, zwischen Geschichte und Wahrheit. Ein Ton, der von der Unverrückbarkeit der Tatsache zeugen soll, erfüllt den Telefonhörer, und Bender spürt, dass dieser sogleich in seiner Hand explodieren könnte. Er legt den Hörer auf, verlässt das Zimmer und geht ins Bad. Dafür benötigt er nicht mehr als zehn Schritte. Das Bad ist der Ort, wo noch Hoffnung besteht. Man muss nur den heißen Wasserstrahl aushalten. Bender zieht sich das blutbefleckte Hemd aus, dem nicht mehr zu helfen ist, anschließend seine Hose, und dann die restlichen Kleidungsstücke, die noch an seiner Haut kleben. Er stöpselt den Abfluss in der Badewanne zu und lässt Wasser ein. Während er darauf wartet, dass die Badewanne sich füllt, tastet er seinen ganzen Körper ab, auf der Suche nach Schwachstellen. Seinem Gesicht widmet er die meiste Aufmerksamkeit. Dann steigt er in die Badewanne, holt tief Luft und geht ganz unter.