Читать книгу Wunder wird es hier keine geben - Goran Fercec - Страница 7

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Er schlief und träumte in Farben. Der Traum duftete nach zerbröselter Erde und Angst. Im Traum trägt er einen Pyjama, er ist einer sommerlichen Nachmittagshitze ausgeliefert, er sitzt im hinteren Teil eines offenen Militär-Jeeps, neben ihm zwei Typen in Uniform. Sie bringen ihn irgendwohin, er kann die Landschaft nicht erkennen. Die Männer haben ihm nichts gesagt, er weiß gar nicht, wie er hier gelandet ist. Er denkt, das könnte ein schmerzloses Ende seiner Reise sein. Die untergehende Sonne brennt auf seinen Rücken. Er muss weglaufen, aber die Wächter halten ihn fest. Sie führen ihn ins Unbekannte. Er ist überzeugt, dass er nicht viel tun kann, um sich zu retten, aber der Traum ist auf seiner Seite, und so muss einer von den beiden Typen, der rechte, seine Blase entleeren. Das Fahrzeug hält an. Das ist die Gelegenheit, die er ausnützen muss. Er schlägt dem linken, tollpatschigeren Wächter auf den Kopf, mit einer Kraft, die nur in Träumen existiert. Der Wächter fällt tot um. Er selbst läuft in ein weiches Gestrüpp, das am Straßenrand wächst, und fällt hin, dann rollt er über die Blätter wie über Wasser. Er lacht, weil genug Licht da ist, dass er seine Hände sehen kann, und wenn es Licht gibt, dann ist auch die Rettung nah. Er springt auf, läuft auf die leere Straße hinaus, schnurstracks den beiden Männern, vor denen er davongelaufen ist, in die Arme. Der rechte, der seine Blase entleert hat, fasst ihn am rechten Unterarm, der linke, lebendig und unverletzt, am linken. Sie zwingen ihn, wieder in den Jeep einzusteigen, und fahren weiter. Er wendet sich an sie und sagt, er glaube, vor ihnen sei schon jemand auf diesem Weg gegangen. Die beiden schweigen zunächst, dann unterhalten sie sich miteinander in einer Sprache, die er erkennt, jedoch nicht versteht. Die stumpfen Sätze, die er aufschnappt, während der Wind in seinen Ohren rauscht, lassen ihn schlussfolgern, dass die Männer ihn an den Ort seines Anfangs führen. Ganz leise, wie ein Kind, das sich mit Unterwürfigkeit Schokolade erschleichen möchte, beginnt er zu bitten, sie mögen ihn freilassen. Und sie lassen ihn frei. Er steht auf der Straße, schaut zu, wie der Jeep weiterfährt, und sieht sich selbst, wie er zwischen den beiden Typen sitzt. Ein anderes Ich. Er dreht sich um, um dorthin zu gehen, wo er herkommt. Er sieht riesige Buchstaben auf einer Werbefläche, durch die die Sonne scheint. Im Kopf reiht er einen Buchstaben an den anderen. AIVALSOGUY. Er steht auf der falschen Seite. Man hat ihn zurückgebracht. Dann wacht er auf. Es ist schon wieder passiert. Es beginnt in den Fingerspitzen und steigt allmählich hinauf in die Schultern. Eine Lähmung, wie wenn man die eigenen Glieder vernachlässigt und die halbe Nacht mit den Armen unter dem Oberkörper geschlafen hat. Er hat es schon vergessen und gedacht, es würde nicht wieder vorkommen. Seiner eigenen Erfahrung nach wiederholt sich jeder Zustand und dauert eine bestimmte Zeit lang. Jetzt ist es wieder soweit. Beim ersten Mal hat er Angst verspürt. Jetzt ist es ihm egal. Er ist wütend auf die Fähigkeit seines Körpers, Signale zu wiederholen, die unzweideutig darauf hinweisen, dass das, was war, jetzt nicht mehr ist. Wenn etwas verschwindet, dann sollte es nicht mehr sein. Sein Körper signalisiert, dass die Häufigkeit eines Symptoms nichts mit seinem geistigen Willen zu tun hat. Er versucht, seinen Körper zu drehen, als gäbe es keine Kraft, die ihn festhält, an das Bett drückt. Er liegt auf dem Bauch, die Beine gespreizt, den Kopf zur Seite gedreht. Das Bett übernimmt seine Körperwärme. Er würde sich gerne von der Bettoberfläche abstoßen und auf den Füßen landen, so geschickt, als lenkte der Wille eines unsichtbaren Puppenspielers seinen Körper, als wären seine Hand- und Fußgelenke mit dünnen, unsichtbaren Fäden irgendwo befestigt. Das würde bestätigen, dass der Verzicht auf den eigenen Willen endlich Früchte getragen hat. In der Tat gibt es weniger Willensstärke in seinem Geist, und auch sein Körper ist träger als noch vor fünf oder zehn Jahren. Daraus folgert er, dass das gesamte philosophische Denken des Westens zwar gute Gründe hat, das eine mit dem anderen verbinden zu wollen, aber er selbst weiß davon nicht mehr als das, was er bislang aus seinem eigenen gespaltenen Wesen erfahren hat. Mit der linken Hand versucht er, die Finger der rechten Hand aufzuwärmen. Die Angst hat ihn dazu getrieben, sich zu berühren. Sonst würde er das nicht tun. Er vermeidet es tunlichst, seine eigenen Hände zufällig zu berühren. Er meidet Momente, in denen der Körper sich mit sich selbst beschäftigt und sich in seiner Selbstgenügsamkeit zeigt. Immer schon erschauerte er davor, wie einfach es ist, mit der Hand sein eigenes Knie zu umfassen und zu massieren, oder davor, wie schnell seine Hände in der Lage sind, die Finger miteinander zu verflechten, ein perfektes Fischgrätenmuster zu bilden und damit Wärme zu speichern. Es fällt ihm schwer, die Symmetrie des menschlichen Körpers zu ertragen. Des eigenen langweiligen Körpers. Eines langweiligen Körpers, der seinen eigenen Willen durchsetzen will. Er bewegt seine Finger, als würde er einen unsichtbaren Gummiball kneten, und streckt seine Hand wie zum Protest in die Luft. Die Nervosität lässt seinen Hinterkopf brennen. Er hat den Nachmittag verschlafen. Er hebt seinen Oberkörper an und setzt die Füße auf dem Boden ab. Es ist am sichersten, die Stunden, die unmittelbar auf den Schlaf folgen, am Bettrand zu beginnen. Durch das Doppelfenster mit Betonrahmen dringt das Nachmittagslicht, dermaßen verdünnt, dass man sich am Geiz dieses Lichts gar nicht sattsehen kann. Das äußere Glas, überzogen von der Gravur, die das inzwischen getrocknete Regenwasser hinterlassen hat, sieht aus wie ein kleines Kirchenfenster für den Hausgebrauch, für einen einzigen Gläubigen. Wenn er lange genug das Glas betrachtet, dann sieht jeder zufällige Fleck irgendwann wie eine Erscheinung Gottes aus. Vielleicht fehlt Gott ein Auge. Vielleicht fehlt ihm ein Finger, aber wenn Gott den Menschen nach seinem eigenen Bild geschaffen hat, dann kann der Mensch das Antlitz Gottes auch seinem eigenen Ebenbild anpassen. Bender hebt seinen Hintern vom Bett, um einen Furz zu befreien. Die Abenddämmerung bricht allmählich herein. Er steht auf. Das Gleichgewicht im Kopf verliert sein Verhältnis zur Welt und löst eine übermäßige Ansammlung von Spucke im Mund aus. Die Spucke schmiert die Speiseröhre, um das Essen leichter aus dem Magen zurückzutransportieren. Die Säure schießt in seinen Kopf, und Bender rast zur Toilette. Mit geschlossenen Augen speit er das Essen aus und spürt den Geruch der Säure. Er öffnet die Augen. In der Toilette ist es dunkel. Er drückt auf den Schalter. Das monotone Vibrieren des Ventilators setzt sich in Gang, und im Licht von fünfundvierzig Watt erwacht ein Fleck zum Leben, der aussieht wie die Spaghetti auf dem Bild I LOVE YOU WITH MY FORD von James Rosenquist aus dem Jahr neunzehnhunderteinundsechzig. Bender hat vergessen, den Klodeckel hochzuheben. Rosenquists Bild ist horizontal geteilt und zeigt drei ganz unterschiedliche Motive, aber während Bender über dem eigenen Erbrochenen steht, kann er sich nicht erinnern, was in der oberen Hälfte von Rosenquists Werk zu sehen ist. Das Einzige, woran er sich erinnern kann, sind die leuchtenden Spaghetti in roter Sauce in der unteren Hälfte des Bilds. Spaghetti, die einigermaßen lebendig aussehen, so wie die Spaghetti, die er in diesem Moment sieht. Irgendetwas von alldem muss doch eine Bedeutung haben, entweder Rosenquists Illusion oder diese Realität hier. Der Fußboden im Vorzimmer ist kalt. Auf Zehenspitzen geht er ins Bad. Er hebt den Kopf und schaut in den Spiegel. Die getrocknete Spur des verdauten Essens auf seiner Oberlippe lässt ihn für einen Moment an eine Hasenschnauze denken. Er dreht das Wasser auf und wäscht sich mit den Fingern das Essen aus dem Gesicht. Er schaut noch einmal hin. Unter dem Waschbecken zieht er einen Putzlappen hervor. Dann nimmt er einen gelben Eimer, füllt Wasser ein und geht zurück zur Toilette. An der Tür bleibt er stehen. Sein Mund füllt sich mit Spucke. Der Ekel im Mund ruft die gleiche Reaktion hervor wie Hunger. Wenn er es nicht schafft, an etwas anderes zu denken, wird er sich noch einmal übergeben müssen. Während er mit dem Putzlappen die ausgespienen Essensreste einsammelt, fällt ihm wieder ein, was in der oberen Hälfte von Rosenquists Bild zu sehen ist. Ganz oben die Vorderansicht eines Ford-Modells aus den Sechzigern, darunter die Seitenansicht eines Frauenkopfs im Zustand der melancholischen Geistesabwesenheit. Er übertreibt. Die Sechziger ertragen nur das Konkrete. Nur das Buchstäbliche. Das Frauenprofil auf dem Bild liebt seinen Ford, und das Unbewusste beschwört Spaghetti herauf. Der Putzlappen hat eine hohe Saugkraft. In nur zwei Zügen gelingt es Bender, die gesamte Unordnung, die er angerichtet hat, wieder einzusammeln. Im Wasser aufgelöst, verströmt die Unordnung keinen Geruch mehr. Das Wasser neutralisiert sowohl die Gerüche als auch die Inhalte. Die substanzlose Mischung im Eimer ist bloß Wasser mit den Resten von etwas, das aussieht, als würde es von einem Menschen stammen. Durchsichtig und namenlos. Vielleicht ein wenig salzig. Konkretisieren lässt es sich nur durch eine unendlich lange Beschreibung oder durch dreistündiges Kochen. Wie Knochen. Aber warum sollte man sich abmühen für etwas, das ohnehin in der nächsten Sekunde in der Klomuschel enden wird? Er hebt den Eimer vom Boden, vermischt den Inhalt durch Kreisbewegungen und schüttet alles in die Klomuschel. Er betätigt die Spülung und lässt dreizehn Liter Wasser hinunter, wodurch die restlichen Bilder aus dem Traum ebenfalls hinuntergespült werden. In zehn Sekunden werden die Überreste des Traums schon im Untergrund sein. Er erinnert sich an den Traum. Was sagt ihm der Traum über das Leben? Nichts. Er bringt den Eimer zurück zu seinem Platz unter dem Waschbecken. Er wäscht den Putzlappen in der Badewanne, und während er versucht, ihn zum Trocknen auseinanderzuziehen, läutet das Telefon im Wohnzimmer. Er wirft den Putzlappen achtlos in die Badewanne und trocknet sich die Hände am Hemd ab. Er läuft und tritt mit bloßen Füßen auf den Boden, und kurz bevor er in das Zimmer kommt, in dem das Telefon läutet, spürt er, wie sich etwas Spitzes in den weichen Bogen seiner Fußsohle bohrt. Er konstruiert einen Fluch aus Wut, Schmerz und Überraschung. Er wiederholt ihn und humpelt auf dem linken Fuß zum Telefon. Während er sich über den plärrenden Apparat beugt, spürt er, wie die Neugier ihn verlässt. Es genügt, nur einen Augenblick lang nachzudenken; am anderen Ende der Leitung kann niemand sein, mit dem er gerne sprechen möchte. Das Telefon läutet hartnäckig noch etwa dreißig Sekunden lang, dann verstummt es. Bender bleibt lange genug aufrecht in seiner verletzten Haltung stehen, um die Wut vom anderen Ende der Leitung zu besänftigen. Er wartet, bis das Läuten ganz aus seinem Bewusstsein verschwunden ist, dann zieht er den Stuhl heran und setzt sich hin. Er hebt den Fuß. Der Fuß blutet. Die Wunde auf der Fußsohle sieht aus wie jene, die beim Heiligen Thomas Verdacht erregt hatte. Wenn Bender seine Zehen bewegt, weitet und verengt sich die Wunde. Er berührt sie leicht mit der Spitze seines Zeigefingers. Er spürt überhaupt keinen Schmerz. Das ist ein Memento aus der Ferne, eine Warnung, die ihm diejenigen schicken, die noch immer glauben, ihn zu lieben. Er steht langsam auf. Sich nur auf die Ferse stützend, humpelt er zu dem Gegenstand, der auf seinem Weg gelegen hat, und hinterlässt dabei kleine Stempel aus Blut. Im Vorzimmer ist es halbdunkel wie in einem Übergangsraum. Er kann das Stück Plastik auf dem Boden kaum erkennen. Er schaltet das Licht ein. Auf dem Boden liegt ein kleiner Mann aus Plastik, der trotzig seine Arme ausgebreitet hat. Im ersten Moment erkennt er die Warnung nicht. Ein Stück Unbekanntes. Bender bückt sich. Er versucht, in die Hocke zu gehen, aber der Schmerz in der Fußsohle zwingt ihn dazu, sich auf den rechten Fuß unter seinem Hintern zu setzen. Er nimmt das Stück Plastik in die Hand. Er hält es näher ans Gesicht und schaut genau. Das Männlein ist keine zwanzig Zentimeter groß. Es ist so genau gearbeitet, dass Bender für einen Moment scheint, als würde es aus eigenem Willen seine Glieder bewegen. Die kleine schmutzige Hand ist zu einer masturbationsartigen Faust geballt und hält den Griff des Schwerts fest, das Bender die Haut durchbohrt hat. Mit den Fingern fasst Bender die Plastikhand und versucht, sie am Körper der Figur entlang hinunterzudrücken. Doch wie er es auch anstellt, die Hand kehrt in ihre ursprüngliche Position zurück. Bender verliert die Geduld und biegt die Faust selbst in ihre kriegerische Stellung. Ihm wird klar, dass er eine Sünde begeht, aber da ist es schon zu spät. Die Hand des Kriegers bleibt zwischen Benders Daumen und Zeigefinger zurück, wie ein abgerissenes Insektenbeinchen. Ein Krieger ohne Hand. Kein Blut. Keine Adern, Muskeln oder Sehnen. Bender versucht, den abgerissenen Körperteil wieder anzubringen. Für einige Sekunden ist alles wieder beim Alten, dann fällt die Hand des Kriegers von allein wieder ab. Niederlage. Die Hand hat doch nur versucht, sich selbst zu verteidigen. Sie hat Benders Fußsohle eine Wunde zugefügt und ist umgekommen. Es ist seine Schuld. Bender gerät in Panik. Die kleine Figur von Viggo Mortensen aus dem Herrn der Ringe hat nun ihre Hand verloren. Bender hat Aragorn mit einem einzigen Auftreten seines Fußes besiegt. Jemand wird ihn dafür zur Rechenschaft ziehen. Die Putzfrau hatte gestern ihr Kind dabei. Das Kind nimmt sein Spielzeug, den Krieger, überallhin mit. Das Kind hat das Spielzeug auf dem Boden liegen gelassen, um sicher zu gehen, dass es wieder in die Wohnung zurückkommen wird. Das ist eine mögliche Erklärung, warum der Spielzeug-Krieger auf dem Boden im Vorzimmer gelegen ist. Bender muss einen Weg finden, der Putzfrau und ihrem Kind zu erklären, dass er das, was er getan hat, nicht mit Absicht gemacht hat. Er steht auf, indem er sich auf seine linke Hand stützt, als hätte er soeben einen Weitsprung absolviert und seine Sporthose wäre voller Sand. Er klopft sich mit den Händen auf den Hintern. Dann schaut er auf die Wanduhr über dem Spiegel im Vorzimmer. Er wird hinausgehen und einen neuen Krieger kaufen müssen. Um einen Fehler wiedergutzumachen, bleibt einem immer zu wenig Zeit. Er darf es nur nicht vergessen. Bender merkt sich den Stand der Uhrzeiger. Dann schaut er auf den Spiegel unter der Wanduhr. Das hätte er nicht tun sollen. Das Fehlen der Brille führt dazu, dass er sich im ersten Moment gar nicht erkennt. Direkt vor sich sieht er sein Bild im großen Spiegel. Er sieht aus wie ein Idiot. Alles ist schief oder zu weit nach rechts oder nach unten verschoben. Es gibt keinen einzigen sicheren Punkt, den er als seinen eigenen erkennen könnte. Er löst sich auf wie eine Spiegelung im Wasser. Das zerrissene Hemd, das er ausziehen sollte, überdeckt die ausgewaschene Unterhose. Ein zu hoher Haaransatz, zerzaustes Haar, winzige Augen, ein schmales ausdrucksloses Gesicht wie aus Marmor. Jean-Luc Godard. Er sieht aus wie Jean-Luc Godard. Er greift nach einer Zigarette und steckt sie sich in den Mund. Er hebt die Hände und versucht, Godards Skalp vom eigenen Kopf zu entfernen. Er zieht das Haar in die Stirn runter. Noch schlimmer. Dann streicht er sich das Haar mit einer verschwitzten Handfläche zur Seite. So ist es schon besser. Aber der Franzose, der sich hierher verirrt hat, steht noch immer in seinem Spiegelbild und grinst ihn an. Bender denkt nicht daran, sich auch noch eine Brille aufzusetzen. Das wäre eine Kapitulation vor dem eigenen Spiegelbild. In einer Ecke des Spiegels erblickt er die verstümmelte Plastikfigur und begreift, dass er verloren hat. Kapituliert vor Aragorn und Godard. Um weitermachen zu können, ist er gezwungen, die verwischte Erscheinung im Spiegel aus dem Gedächtnis zusammenzusetzen. Er streicht sich mit der Hand durch das schüttere Haar und stellt fest, dass es am besten wäre, sich die Haare ganz abzurasieren. Er wendet seinen Körper nach links, um in die Küche zu gehen. Einige Schritte lang bleibt sein Spiegelbild noch stehen, es ist identisch mit seinem physischen Wesen, ein Körper im weißen Hemd mit einer weißen schlabbrigen Unterhose. Er sieht es nicht, weiß aber, dass hinter seinem Rücken seltsame Dinge passieren. Jemand hat Milch über den Küchentisch verschüttet und sie stehen gelassen, damit sie sauer wird. Die Welt hat sich verlangsamt, die Dimensionen haben sich vermischt. Diesen letzten Gedanken überprüft er, indem er den Finger in den Marmorkuchen steckt, den er, ohne nachzudenken, für einen solchen Nachmittag gekauft hat. Eine weitere unnötige Geste der Aufmerksamkeit sich selbst gegenüber. Unter der Oberfläche ist der Kuchen ganz gesund. Bevor Bender hierher kam, wusste er gar nicht, was ein Marmorkuchen überhaupt ist. Er hätte nicht laut sagen sollen, dass er sein ganzes Leben lang ausgerechnet einen Marmorkuchen kosten wollte, auch wenn es die Wahrheit war. Doch leider nehmen die Leute manche Wahrheiten durchaus wörtlich und reagieren dann direkt darauf. Die Leute erzählten ihm also alles über die Zubereitung von Marmorkuchen und über deren ethnischnationalen Zusammenhang. Mehrmals. Damit er ja nicht vergessen möge, wo er gelandet ist und woher er kommt. Er kann den Marmorkuchen nicht mehr loswerden. Der Marmorkuchen als Ersatz für alles, was fehlte. Marmorkuchen als Grund für seine Ankunft hier. Marmorkuchen für die Augenblicke seiner Einsamkeit. Marmorkuchen, um das Bewusstsein über seine Herkunft in seinem Inneren zu versenken. Er könnte zurückkehren, und sei es nur, um dem Marmorkuchen zu entfliehen. Er setzt sich auf den Stuhl, so bequem wie möglich, ohne ihn unter dem Tisch hervorziehen zu müssen. Die Stuhllehne bohrt sich in seinen Rücken wie eine falsch gewachsene Rippe. Er bricht ein Stück Marmorkuchen ab und legt es sich in den Mund, wobei er den Kopf zurückwirft. Ein paar Krumen fallen ihm auf die Brust und bleiben zwischen seinen Brusthaaren hängen. Dass es keine einfache Methode gibt, um die Krumen aus den Haaren zu entfernen, ruft bei Bender eine überbordende Bedrücktheit hervor sowie eine Verachtung aller Dinge, die eine Tendenz aufweisen, Krumen zu bilden. Er putzt seine Brust mit der Hand und wirft die Krumen zu Boden. Als er vor fünfzehn Jahren flüchtete, musste er einen Zufluchtsort finden, selbst wenn er dort für immer hätte bleiben müssen. Jetzt hat er keine andere Sicherheit außer der Tatsache, dass es in seiner Wohnung, obwohl noch Sommer ist, kalt geworden ist. Er steht auf, reibt sich die Hände und geht, den Schmerz auf der Fußsohle vergessend, als ob nichts, rein gar nichts Enttäuschendes passiert wäre, zum Fenster und schließt es. Die einzige Hoffnung, die noch nachhallt, als die Stimmen nicht mehr von der Straße hereinkommen, ist in seinem Kopf. Die Hoffnung ist immer ein Wunsch, der sich in eine Frage verwandelt. Während er die Stirn gegen das Glas lehnt, leuchtet die Frage in seinem Kopf wie eine Neonreklame. DAS ZUCKEN, DIE LÄHMUNG IM RÜCKEN, DIE ER IM NACHMITTÄGLICHEN TRAUM GESPÜRT HAT, HAT DIESE LÄHMUNG EINEN NAMEN?

Wunder wird es hier keine geben

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