Читать книгу Wunder wird es hier keine geben - Goran Fercec - Страница 9

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Der Stadtpark schließt um sechs. Bender steht vor dem versperrten Tor und verzieht das Gesicht. Er möchte die Passanten glauben machen, er sei enttäuscht, weil er zu spät gekommen ist, dabei hatte er gar nicht die Absicht gehabt, den Park von Norden her durch den Haupteingang zu betreten. Hier gelangt man durch ein gusseisernes Tor in der Mauer in den Park, von Süden her durch einen offenen U-Bahn-Tunnel. Der Haupteingang öffnet um elf Uhr und schließt um sechs, den anderen Eingang kennen jedoch nur wenige. Er befindet sich auf der Südseite. Zwei U-Bahngeleise und eine grasbewachsene Lichtung trennen ihn vom nächstgelegenen Wohnhaus. Wenn man aber die genaue Stelle nicht kennt, an der man den Drahtzaun auseinanderbiegen und sich durchschlängeln muss, kann man diesen Eingang nicht finden. Leichter ist es, wenn man in Begleitung kommt. Dann kann man sich gegenseitig helfen. So wurde es Bender erklärt, von den Typen, die den Park regelmäßig nachts frequentieren. Sie kommen und gehen ohne Zeugen und auch ohne jemanden, der ihnen helfen würde. Sie trudeln nach und nach ein, wenn der Nordeingang um sechs Uhr zugesperrt wird. Da auf der Mauer nach außen gebogene Spitzen angebracht sind, hat sich die Stadtverwaltung dagegen entschieden, einen Nachtwächter zu beschäftigen. Für die Männer, die sich nach sechs Uhr hier einfinden, bedeutet das eine Sache weniger, auf die sie in einer Kontrollgesellschaft achten müssen. Für Bender wird es das erste Mal sein. Die Dunkelheit ist auf die Minute pünktlich angebrochen. Der Park liegt im Halbdunkel. Die Vögel sind still. Die Kiefern weichen dem Wind aus. Auf der Straße zum Nordtor bewegt sich Bender so, als würde er ein anderes Ziel anpeilen, irgendwo weit weg vom Park. Dann biegt er ab und setzt seinen Weg auf dem Gehsteig fort, entlang des Geländers, das ihn von der verkehrsreichen Straße trennt, die zum Südeingang führt. Es gibt fast keine anderen Passanten. Der Verkehr ist so dicht, dass keiner der Autofahrer auf ihn achtet. Er nähert sich dem Park von der südlichen Seite. Seine Bewegungen sind sicher, als wäre er schon einmal hier gewesen. Die riskanteste Stelle ist jene, wo es darauf ankommt, zwei U-Bahngeleise zu überqueren. Wer es schafft, dem herandonnernden Zug auszuweichen, dem droht die Hochspannungsleitung. Wer es schafft, alle Hindernisse zu überwinden, den erwartet ein einsamer Spaziergang auf den Pfaden des Parks. Bender beruhigt seinen Atem und horcht. Er überquert die Schienen, anschließend die Betoninsel zwischen den Bahngeleisen, dann horcht er wieder und überquert das zweite Gleis. Er schlängelt sich durch den Bogen des offenen Tunnels und gelangt zu einer Lichtung, die aussieht, als würde sich jemand systematisch um sie kümmern. Unter den Sohlen spürt er Glassplitter, Plastik und Steine. Er geht schnell, in der Überzeugung, dass einem Menschen auf einer Lichtung zwangsläufig Gefahr droht. Mehrmals sieht er sich um. Die Abenddämmerung dauert kürzer als ein Augenaufschlag. Bender verkalkuliert sich und macht einen zu großen Schritt. Er landet ungünstig auf der verletzten Fußsohle. Der Schmerz breitet sich im gesamten Turnschuh aus. Er stützt die Hände auf die Knie und rastet kurz. Bis zum sicheren Park sind es wenige Meter, er muss bloß noch einige Hindernisse überwinden, die sich wie in einem Märchen zusehends häufen. Er hebt den verletzten Fuß und macht einige Sprünge. Dann hält er sich am Drahtzaun fest. Den schmerzenden Fuß lässt er kurz auf der Ferse ruhen und wartet, dass sich die Lage beruhigt. Aus dem Park dringt feuchte Luft, es riecht verrottet. Benders Lunge füllt sich mit dem Geruch der toten Blätter. Er beschließt, auf Zeit zu spielen, und zündet sich eine Zigarette an. Damit geht er in seiner exponierten Situation ein Risiko ein. Er macht einige Züge, verspürt jedoch Übelkeit. Er wirft die Zigarette zu Boden. Auf der Ferse humpelt er weiter, den Drahtzaun entlang, und sucht den Durchgang, von dem man ihm erzählt hat. Beim Gehen versuchen seine Knie, eine eigene Richtung einzuschlagen. Das Gehen auf der Ferse vermag den gesamten Körper gegen dessen Besitzer aufzubringen. Die Knie sind die labilste Schwachstelle. Seine Gelenke, geschwächt vom bürgerlichen Leben, versuchen, ihn aus dem Park zu befreien und zurück zum Stadtzentrum zu lotsen. Bender zwingt seine Knie, seinen Willen zu respektieren. Er ist es, der sie führt, und nicht umgekehrt. Er führt sie zu einem Spaziergang aus, den zu erleben bislang nur wenige Knie die Gelegenheit gehabt haben. Ein guter Bürger verdient es, dass sein Weg durchgehend beleuchtet bleibt, bis zum letzten Schritt, so lange, bis er selbst beschließt, in die Dunkelheit einzutreten. Bender hat die Hände in den Hosentaschen vergraben. Der Inhalt seiner Hosentaschen gräbt sich von selbst in die Handflächen. Der Schlüssel in die linke, Feuerzeug und Zigarettenschachtel in die rechte Hand. Rechts ist der Köder. Links die Ängstlichkeit. Er darf den Schlüssel auf keinen Fall irgendwo in der Dunkelheit verlieren. Er muss auf die Geräusche in seiner Umgebung achten. Jedes Geräusch, das nicht hierhergehört, ist ein Hinweis auf eine mögliche Gefahr. Er muss auf den Inhalt seiner Hosentaschen Acht geben. Das ist alles, was er hat. In der Dunkelheit etwas zu suchen, könnte sich als erniedrigend herausstellen. Bender umfasst die Schlüssel fester mit den Fingern. Der scharfe Rand hinterlässt einen Abdruck in der Handfläche. Er hört ein Trällern. Die Melodie bleibt hinter ihm, wie in Parfüm getunkte Brotkrumen. Köder. Vielleicht könnte er wieder eine Zigarette anzünden. Rauch ausblasen. Das Territorium seiner Nervosität kennzeichnen. Die Nacht ist noch jung. Er könnte eine Runde um den Park drehen, sein Begehren so verstecken, wie die Schlange ihre Beinchen versteckt, und nach Hause gehen. Er zündet sich eine Zigarette an. Dort, wo der Drahtzaun des Parks aufhört und eine dicke historistische Säule morphologisch und formal dieses Ende kennzeichnet, biegt Bender ab und geht weiter, wobei er mit der Hand den Zaun nach einer Schwachstelle abtastet. Seit dem neunzehnten Jahrhundert hat sich der Park nicht weiter ausgebreitet als bis zu diesem Punkt. Es gab keinen Platz mehr. Der Park blieb eingeklemmt zwischen Straßen, Wohnhäusern und U-Bahngeleisen. Er wurde zu einer Metapher für das banale bürgerliche Glück, das man tief einatmen konnte. Versteckt zwischen den Straßen taucht der Park stets unerwartet auf und bereitet dem zufälligen Passanten eine Überraschung. Wie ein grüner Stein, mitten im Asphalt. Bender erkennt am Gestank, dass er sich in der Nähe der Stelle befindet, wo Pflanzen, Wurzeln und Dünger verrotten, um Abfälle in Energie umzuwandeln. Der Gestank führt ihn dorthin, wo er hinkommen möchte. In der Zwischenzeit ist es dunkel geworden. Er erkennt nur vage seine Finger, denen sich die Glut der Zigarette bedrohlich nähert. Mit der Hand ertastet er die Stelle, an der die Drahtkonstruktion verbogen ist. Das ist die einzige Stelle, an der man illegal in den Park gelangen kann. Er muss unten durchkriechen, dort, wo schon Hunderte vor ihm das Material verbogen und abgenutzt haben. Der Gestank des verrotteten Grases ist dermaßen stark, dass Bender einen Augenblick lang ans Aufgeben denkt. Er zieht ein paar Mal an der Zigarette. Dann beruhigt sich sein Magen. Alle, die hineingegangen sind, haben den gleichen Weg und die gleiche Methode gewählt. Bender lässt die Kippe fallen und schaut sich um. Er hebt den Drahtzaun leicht an. Er wartet, bis die Autos in der Ferne vorbeigefahren sind, dann zieht er das Drahtgeflecht über seinen Kopf wie einen Schleier. Er schlängelt sich darunter durch, setzt seinen Fuß auf dem haarigen Bauch des Bodens ab und versucht, so leise wie möglich zu sein. Die trockenen Tage haben dafür gesorgt, dass die Feuchtigkeit aus dem Haufen Kompost entweichen konnte. Statt auf den Dünger tritt er auf eine Kuppel. Durch den Tunnel dringt das Donnern der U-Bahn. Die Autos klingen wie zischende Schlangen. Der Park ist still. Er weiß, man hat ihn schon bemerkt. Diejenigen, die vor ihm da waren, stehen im Dunkeln und warten darauf, dass er sich irgendwie ausweist. Er muss beweisen, dass er weder ein Polizist oder Inspektor noch ein Dieb oder ein Migrant mit einer diagnostizierten Posttraumatischen Belastungsstörung ist, oder womöglich eine andere Art eigenwilliger Rechtshüter, der willkürlich beschlossen hat, denen, die sich hier aufhalten, einen Verstoß gegen seine Gesetze vorzuwerfen. Bender zündet sich eine Zigarette an. Er spürt, wie die Stelle, auf der er steht, allmählich nachgibt und ihn wie etwas Lebendiges in sich aufnimmt. Wie Treibsand. Die rotierende Männermaschine hält für einen Augenblick inne und kehrt dann zu ihrem ursprünglichen Rhythmus zurück. Bender nimmt den Pfad, der in einem Bogen in Richtung Westen führt. Der Pfad ist zu kurz, da ist nichts los. Der südliche Teil ist vollkommen finster. Bender spaziert umher, als hätte er auf einer Sitzbank etwas vergessen. Unter den Füßen spürt er die Nervosität der zermalmten Kieselsteine. Er orientiert sich an den Geräuschen und Stimmen aus dem Dunkeln. Immer wieder sendet eine Zigarettenglut ein Signallicht aus. Flüstern und unterdrücktes Schreien sind die einzigen Laute, die ihn umgeben. Er versucht, sicherer aufzutreten. Er hebt den Kopf. Fast Vollmond. Noch ein Millimeter mehr am Rand des Mondes, dann würden die Paare, die sich im Park verstecken, im Mondlicht baden. Bender schreitet voran, als hätte die Tatsache, dass er sich ausgerechnet hier befindet, gar nichts mit seinem eigenen Begehren zu tun. Würde jemand an ihn herantreten und ihm etwas anbieten, ganz gleich was, würde ihn jemand auch nur um eine Zigarette bitten, er, Bender, würde ablehnen. Ganz ohne Grund, damit bloß nicht jemand denkt, es würde eine Absicht dahinterstecken, warum er zu so später Stunde in einem so dunklen Park spazierengeht, der auf der einen Seite durch Bahngeleise und auf der anderen Seite durch eine hohe, gleichsam mit Speerspitzen gespickte Mauer eingegrenzt ist. Er hält inne und betrachtet die kaum sichtbare Szenerie um sich herum. Im Gegenlicht der Straße sieht er, wie Füße und Beine über die Pfade gehen und aus seinem Blickfeld verschwinden. Der Park ist voller Männer. Bender möchte seine Zeit mit ihnen teilen. Sonst nichts. Er hätte den Park auch leicht umgehen können. Nach links abbiegen statt nach rechts. Um etwas nicht zu tun, muss man einen Grund haben, ebenso wie um etwas zu tun. Die Motivation, etwas zu tun, ist dennoch von komplexerer Natur. Das ist ein Thema, über das im Nachhinein gesprochen werden wird. Jedoch soll man, während es passiert, nicht über die sprunghafte Natur des Begehrens nachdenken. Bender geht weiter und zündet sich eine Zigarette nach der anderen an. Ungeachtet dessen, wieviel Potenzial er in der derzeitigen Situation vorfindet, das Leben, das er sieht, ist zu schlecht beleuchtet, um eine gute Geschichte abzugeben. Wenn er sich nicht mehr anstrengt, wird er keinerlei Nutzen aus dieser Szene ziehen können, weder er noch jene, die an ihm vorbeigehen und ihm ihren Blick als Pfand hinterlassen. Er hat das vierzigste Lebensjahr noch nicht erreicht. Sein Körper gehorcht ihm, und in der Dunkelheit kann er anständig genug aussehen, um in der Morgendämmerung keine Enttäuschung abzugeben. Wenn er tief Luft holt, wölbt sich seine Brust und wirkt größer. Seine Schultern könnten jemanden tragen, der stärker ist als er selbst. Er geht weiter im Kreis. Hier kennt niemand seinen Namen. Er möchte ein Gesicht treffen, das er nicht kennenlernen muss. Der Name kann unbekannt bleiben. Direkt vor sich erblickt er eine Parkbank und zwei Männer, die sie besetzen. Die Männer und die Bank haben die gleiche Farbe. Es ist schwer festzustellen, wo die Bank zu Ende ist, und wo die Körper anfangen. Einer der Männer hebt die Hände und verschränkt sie hinter dem Kopf. Der andere zündet sich eine Zigarette an. Bender steht in der Nähe, und die Flamme des Feuerzeugs in der Hand des Mannes zeigt ihm mehr als genug. Bender kann mit Sicherheit sagen, dass der Mann eine stark ausgeprägte Nase hat, dunkle Augen, Koteletten, die eine hohe Stirn betonen, und außerdem kann er mit Sicherheit sagen, dass sich ein Gespräch mit diesem Mann durchaus lohnen würde. Bender legt noch ein paar Schritte zurück. Der Kies unter seinen Schuhsohlen knirscht, als würde ihn die Natur warnen wollen. Er kann erkennen, dass die linke Hand des rechten Mannes auf dem rechten Oberschenkel des linken Mannes ruht. Die Paarung der beiden vollzieht sich ohne den geringsten Ton. Die Körper haben jegliches Geräusch zunichte gemacht. Die Berührung ist stumm. Möglicherweise ist es auch die für die Abenddämmerung typische Halbblindheit, die alle anderen Reize hat verschwinden lassen. Bender nähert sich den beiden Männern und zieht eine Zigarette hervor. Das brennende Zündholz lässt die Gesichter der beiden zum Vorschein kommen, sie stellen einen Ausdruck falscher Sicherheit zur Schau. Wie bei einer nächtlichen Erscheinung gibt es statt der Augen erschrockene schwarze Punkte. Der Zigarettenrauch durchdringt die Situation, es wird weitergeatmet, und es breitet sich die Überzeugung aus, die Situation würde sich in eine gute Richtung entwickeln. Er steht noch immer vor den beiden und erahnt sie eher, als dass er sie sieht. Aber auch das genügt. Hauptsache, er hat das Gefühl, etwas bieten zu können. Das verleiht ihm die Sicherheit, keinen Schritt von der Stelle zu weichen, an der er erstarrt ist und von der aus er das betrachtet, was der herrschenden Meinung nach Privatsache ist. Neben den beiden, die auf der Bank sitzen, gehen andere vorbei. Der Zigarettenrauch macht sämtliche Dilemmata und nicht gestellten Fragen obsolet. Die beiden Männer ziehen hier ihre Show ab, nur für ihn. Sie tun so, als würden sie ihn nicht sehen. Eine eingeübte Geste des nächtlichen Liberalismus. Jeder hat das Recht auf sein Bedürfnis. Was genau ist sein Bedürfnis? Er spürt, wie der offene Nachthimmel sein Selbstbewusstsein niederdrückt. Es ist Zeit, der Sommer war lang. Mehrmals schluckt er seinen Nasenrotz hinunter. Er versucht, die Luft auszuatmen, bleibt aber aufgebläht wie ein Fisch. Die weggeworfene Zigarette knistert im Flug und brennt kurz stärker. Er weiß nicht, was er mit seinen Händen anstellen soll, nachdem er die Zigarette zu Boden geworfen hat, also vergräbt er sie tiefer in die Hosentaschen. Sein Geschlechtsteil kann er durch die Hosentaschen nicht berühren, die Schlüssel auf der einen und die Zigarettenschachtel auf der anderen Seite hindern ihn daran. Ihm gefällt die Szene, die sich vor ihm in der Dunkelheit abspielt. Dennoch, wenn er sich nicht bemüht, wird er nichts davon haben. Er könnte den Männern noch näher kommen und einen von ihnen am Kopf berühren. Oder beide. Vielleicht würden sie zutraulich werden wie Hunde. Oder aber einer von ihnen würde ihm die Hand abbeißen. Um eine Reaktion zu erhalten, muss er die Hände aus den Hosentaschen ziehen. Freie Hände bedeuten Absicht. Absicht ruft Angst hervor, man könnte etwas voneinander wollen. Bender steht da, aber wenn er weiterhin nur dasteht, kann er bis zum Morgen warten. Aus der Ferne hört er eine Polizeisirene. Sobald die Sirene verstummt, zieht er die Hände aus den Hosentaschen, um seine Absicht zu bestätigen, dann macht er ein paar Schritte auf die Männer zu, die keine totalen Fremden mehr sind, aber noch immer kein Gesicht haben. Als er einen Augenblick lang mutig und verwundbar genug ist, um ihnen die Angst vor seinem eigenen Begehren in allen Nuancen zu zeigen, steht einer der beiden Männer auf und zielt mit der Faust direkt auf Benders Kopf. Benders Fuß ist noch nicht richtig verheilt, und schon nimmt er den nächsten Schlag entgegen. Das Geräusch, das ein Echo bleibt, begleitet von salzigem Blut, das sich sogleich in seinem Mund ausbreitet, ähnelt dem Aufplatzen einer Wassermelone in Zeitlupe, wenn die Frucht jemandem zufällig aus der Hand fällt und am Boden aufschlägt. Eine Tragödie, nicht größer als der Tod, aber so gewiss wie der Tod selbst. Benders Körper krümmt sich nach vorne und wankt. Der Fall ist unvermeidlich. Er versucht, etwas zu finden, woran er sich festhalten könnte, aber er kassiert noch einen weiteren Schlag auf den Rücken und streckt seine Arme aus, um den Fall abzufedern. Er lässt sich mit unsichtbarer Kraft auf einen Ringkampf ein. Er spürt noch einige weitere Schläge in die Rippen und einen Schlag auf den Kopf. Niemand spricht auch nur ein Wort. Kein Schimpfwort begleitet die Schläge. Der Augenblick, in dem die Sprache in Vergessenheit gerät, verbindet sich mit der Konzentration auf die Effizienz eines Schlags. Er hätte statt der beiden sprechen können. Beide Seiten des Dialogs aussprechen. Ihnen beiden zunächst einen guten Abend wünschen. Guten Abend. Hallo. Die Nacht ist schön. Ja. Der Mond ist fast voll. Nicht ganz. Es stinkt nicht einmal sehr stark. Ihr also auch über die Geleise drüber. Wir auch über die Geleise drüber. Das ist gefährlich. Wir riskieren es. Hier ist es immer ein Risiko. Was hast du anzubieten. Was wollt ihr. Wenn er doch bloß rechtzeitig gesprochen hätte, dann wäre weniger Blut geflossen. Jetzt hört er, wie Schritte und Zischlaute sich entfernen. Am liebsten würde er sich ausstrecken und einschlafen, um nicht unaufhörlich Blut spucken zu müssen. Es hätte ein ganz gewöhnlicher Tag sein können. Ein Tag, an den man sich erinnert, obwohl nichts Wichtiges passiert ist. Er hätte diesen Tag in Erinnerung behalten können als einen Tag, an dem die Stadt für ihn so aussah, als hätte die Pest darin gewütet. Einen Tag, an dem die ganze Stadt sich zu einer Demonstration eingefunden hat, anstatt auf Urlaub zu fahren. Einen Tag, an dem es aussah, als würde endlich der erste reinigende Regen fallen und die Hoffnung auf ein besseres Morgen zurückbringen. Einen Tag, der schließlich jede andere Möglichkeit ausschloss, außer jener, am Ende des Tages vollgepisst im Park zu liegen und zu versuchen, seine Zigarettenschachtel rauszuziehen, die in der nassen Hosentasche feststeckt. Je fester er die Zigarettenschachtel mit den Fingern umfasst, desto zerknitterter und urindurchnässter werden die Zigaretten. Er muss sich retten. Auf demselben Weg, auf dem er hergekommen ist. Er stützt sich auf die Ellbogen, dann auf die Knie und bleibt so auf allen Vieren. Er schaut sich um. Der Park ist klein, aber groß genug, um eine Orientierungstafel zu haben. Er könnte die Diagonale der Wahnsinnigen einschlagen und über die finsteren Pfade laufen, über Grasflächen und umgestürzte Baumstämme springen. Er könnte mit der gleichen Kraft, mit der seine Beine ihn tragen, brüllen. Er hat nicht damit gerechnet, dass es so ausgeht. Er versucht, sich mit den Handflächen einigermaßen zu säubern, und putzt sich mit der Hand die Nase. Er spuckt Fleisch und Blut aus. Als er sich endlich aufrafft, wieder auf die Beine zu kommen, hört er aus der Ferne Explosionsgeräusche, anschließend gehen mehrere bunte Feuerwerke weit über seinem Kopf auf. Das Feuerwerk erleuchtet den Park ihm zu Ehren. Die Autos verlangsamen ihre Fahrt. Die Passanten schauen hinauf. Die Lichtblumen verschließen sich. Seinem verdreckten Kopf zu Ehren geht im südlichen Teil des Himmels ein weiteres Feuerwerk auf. Gebückte Körper versuchen, sich im Dunkeln zu verstecken. Alle Geheimverstecke sind aufgedeckt. Die Statisten, die in der Dunkelheit für die Illusion zuständig sind, sind einander nun gezeigt worden. Die Spannung ist dahin. Bender steht auf und macht einen Schritt. Er macht noch einige Schritte, dann hält er inne. Er kann sich nicht entscheiden, welchen Weg er nehmen soll, um den Ausgang zu finden. Der Himmel ist nach dem Feuerwerk voller Rauch. Man sieht weder den Mond noch die Sterne. Man sieht auch die Milchstraße nicht, die den Verirrten hilft. Er kann nur mit Mühe seine Füße bewegen. Den Blick auf das Signallicht neben der U-Bahn geheftet, nähert er sich dem Drahtzaun, ertastet mit den Händen den Durchgang und schlängelt sich hindurch, halb kriechend. Er richtet sich auf und geht weiter, zum beleuchteten Teil der Straße. Im Lichte der Straßenlampe überblickt er die gesamte Katastrophe jenes Augenblicks, in dem Begehren auf Aggression getroffen ist. Sein braunes Hemd ist mit Blutspritzern übersät. Es sieht nicht erschreckend aus, sollte ihn überhaupt irgendjemand anschauen wollen. Allerdings ist seine Hose ein offensichtlicher Beweis für seinen Misserfolg. Der nasse Fleck fühlt sich auf der Innenseite seiner Oberschenkel kühl an und zieht die Blicke der Autofahrer auf sich, die zwar schnell unterwegs sind, aber doch langsam genug, um seine Schande zu sehen. Die raucherfüllte Luft nagt an seinen Nasenlöchern. Er denkt, an vorderster Front muss es wohl so ausgesehen haben. Er zieht die Ärmel seines Hemds über die Handflächen hinunter und wischt sich damit das Gesicht ab. Dann krempelt er die Ärmel über die Ellbogen hoch. Er bricht auf zur Hauptstraße. Am Eingang zur U-Bahnstation stehen Menschen und tun so, als würden sie weder ihn noch seine verletzte Nase sehen. Er hätte an ihrer Stelle das Gleiche getan. Sie schauen hypnotisiert auf einen Punkt. Das Feuerwerk hat sie geblendet und ihnen Freude bereitet. Für einen Augenblick haben sie beschlossen, gut zu sein. Heute wollen sie niemanden verurteilen. Keine Verachtung zeigen. Die braven Bürger werden so tun, als sei alles in bester Ordnung. Die Hose ist nicht vollgepisst. Die Nase ist nicht gebrochen. Unter den Nägeln ist keine Erde. Die Schuhe sind nicht schlammig. Das Gesicht ist nicht von Prügeln gezeichnet. Das Blut bleibt lieber im Kopf, als durch die Nase herauszukommen. Die Muskeln sind stark genug, um sich zu verteidigen. Fremde werden hier wie lästige Anhängsel geduldet. Die glückseligen Blicke der Bürger, die da und dort an Bender hängenbleiben wie Kletten, sind lediglich ein Symptom. Die, an denen er jetzt vorbeigeht, werden es niemals schaffen, gute Zeugen zu sein, weil sie Angst haben vor dem, was sie sehen. Ihre Kälberblicke und die leicht geöffneten Münder verraten sie. Bevor ein Zeuge begreift, was er da sieht, muss er dreihundert Mal blinzeln. Wenn er es endlich begriffen hat, ist das Blut schon getrocknet, und die Bilder, deren Zeuge er wurde, haben sich bereits in Luft aufgelöst. Für die Passanten mag es aussehen, als wäre er aus dem Kampf als Sieger hervorgegangen. Vom Park nach Hause wie von der Schule nach Hause. So viele Köder für einen Unschuldigen. Die Kommentare, die er hört, erscheinen ihm seltsam. Das ist nicht seine Sprache. Er muss sich bemühen, um sie zu verstehen. Der Sinn kommt nur von der rechten Seite. Die Stille auf der linken Seite ist Folge der eingesteckten Schläge. Sein Blickwinkel ist verschoben, und er ist nicht mehr ganz sicher, was es ist, das er da sieht. Was genau sieht er, wenn nicht das Spiegelbild seiner eigenen Panik in den Gesichtern der Männer, die ein Grüppchen bilden, und auf die er zugeht und die auf ihn zugehen? Er erkennt sie. Es sind die Demonstranten vom Nachmittag, die von ihrem Sieg überzeugt waren, allerdings fühlen sie sich, sobald es dunkel wird, als Verlierer. Eine Überzeugung, die sich nie wieder in das Gefühl, es sei die Sache wert gewesen, verwandeln lassen wird. In einer Hand halten die Männer Fähnchen mit Parolen, in der anderen je eine Bierflasche. Einer von ihnen steckt sein Fähnchen in die Flasche und zeigt das den anderen. Sie machen Geräusche, die Verwunderung und Begeisterung ob der praktischen Idee zum Ausdruck bringen sollen. Nun stecken alle ihr Fähnchen in ihre Bierflasche. Jetzt haben sie je eine freie Hand, wissen aber nicht, was sie mit ihr tun sollen. Bender geht an ihnen vorbei, den Blick auf den Boden gerichtet. Sie sagen etwas zu ihm, aber er kann sie nicht hören. Er sieht nur ihre Münder, die sich öffnen. Die blutige Nase fordert immer dazu auf, zu überprüfen, ob noch Trotz in ihm steckt. Bender begreift, dass sie ihn einladen, sich ihnen anzuschließen. Nasenbrüder. Niederlagenbrüder. Sie spüren, dass sie das Recht haben, ihn anzusprechen. Er muss doch einer von ihnen sein. Einer von den Hundert, denen es gelungen ist auszuweichen, vor Feuersbrunst, Verstümmelung, Hängen, Kastration und Komasaufen. Geblieben sind ihnen Willkür, Selbstbewusstsein, Selbstverachtung und vollgepisste Oberschenkel. Gerade daran erkennen sie ihn, während er an ihnen vorbeigeht. Er ist ihr Mitkämpfer, der sich vor Angst in die Hose gemacht hat. Sie verstehen ihn. Am liebsten würden sie ihn an der Schulter tätscheln und ihm zuflüstern, er solle doch den nassen Fleck auf seiner Hose vergessen. Er sieht nur ganz zufällig wie einer von ihnen aus. Alle Niederlagen sind gleich, alle Verlierer sehen gleich aus. ER SELBST SIEHT GANZ ZUFÄLLIG GENAUSO AUS! Sie haben ihn als einen Verlierer erkannt und somit als einen, der zu ihnen gehört. Sie winken ihm zu, als hätten sie jemanden gesehen, der ihnen Trost spenden kann. Jungs, sollte er zu ihnen sagen, Jungs, nehmt eure Hände wieder runter. Fuchtelt hier nicht so rum wie Käfer auf dem Rücken. Jungs, er hat sich nicht vor Angst angepisst. Er hat sich angepisst, weil er an sich selbst gedacht hat, in einem Augenblick, als er an etwas anderes hätte denken sollen: an sich selbst als ein nützliches Mitglied der Gemeinschaft. An das Zugehörigkeitsgefühl. An Würde. Vielleicht sollte er zu ihnen gehen, mit ausgestreckten Händen, um sich vor einer falschen Verbindung zu schützen. Aber was soll er ihnen sagen? Dass Würde, Zugehörigkeitsgefühl und Nützlichkeit in der Gemeinschaft so etwas sind wie das Fähnchen in der Bierflasche? Bender zieht an ihnen vorüber, so wie die Tage an ihnen vorüberziehen. Mit einem schnellen Blick in ihre Gesichter erfasst er die tragische Maske ihrer Enttäuschung. Es ist keine kurzfristige Konsequenz, sondern ein endloser Zustand. Bender geht weiter und blickt zu Boden.

Wunder wird es hier keine geben

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