Читать книгу Wunder wird es hier keine geben - Goran Fercec - Страница 11
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ОглавлениеEr ist eingeschlafen, obwohl er angespannt gewartet hat, ob jemand ihn beim Namen ruft und die Mauern seiner traurigen Träume zum Einsturz bringt. Der Fall in den Morgen hinein war milde. Es ist die vierte Stunde seit Morgendämmerung. Sein Arm hängt lustlos vom Bett herab. Er zwingt seine Hand, sich der Stirn zu nähern, und berührt diese. Ein Morgen ohne Bauarbeiten begrüßt ihn. Zwischen die dritte und die vierte Stunde seit der Morgendämmerung hat sich das nächtliche Gespräch geschlichen und sich wortgenau wiederholt. Er könnte so tun, als hätte er alles nur geträumt. Er steht auf und stolpert übers Telefonkabel. Er hat vergessen, wie lang das Kabel ist. Mit einer Hand hält er sich an der Tischkante fest und verhindert einen Fall, der sich zweifellos augenblicklich als unheilvoll erweisen würde. Auch wenn ihm scheint, dass das echte Drama erst noch bevorsteht, kann er sich mühelos vorstellen, wie sein eigener Körper ausgestreckt am Boden liegt, den Kopf in einem seltsamen Winkel verdreht. Gerettet hat ihn seine rechte Hand, die das Risiko auf sich genommen hat, zu brechen oder sich zu verrenken. Er macht mehrmals hintereinander eine Faust und entspannt die Hand wieder. Aus der Schublade im Schrank holt er saubere Wäsche. Er hält sich die Unterhose an die Nase. Gewisse Überreste seiner eigenen Lenden hätte er sich schon erwartet. Das ordentliche bürgerliche Leben und die regelmäßige Sorge um die eigene Hygiene neutralisieren jeden Überschuss. Inmitten all der Dinge, von denen er träumt, denkt er so selten an sich selbst. Er hebt einen Arm und schnüffelt an seiner Achsel. Rechts gilt auch für links, mit dieser Regel lässt sich eine unnötige Wiederholung der Geste vermeiden. Es gibt keinen Grund, ein weiteres Mal in die Badewanne zu steigen. Er öffnet das Fenster. Die warme Morgensonne strömt ins Zimmer. Den Entschluss zu verreisen hätte er auch ohne den Anruf des Vaters gefasst. Sein Entschluss hat mit dem Anruf des Vaters somit gar nichts zu tun. Das sind also zwei Dinge, die sich niemals, auch nicht im entferntesten Punkt treffen. Die Parallelen von Bitte und Entschluss verlaufen so aneinander vorbei, dass sich niemals mit Sicherheit feststellen lassen wird, was zuerst war und was danach. In beiden Fällen ist die Rede von einem Begehren oder von einer nicht benannten Sache, die dem Begehren ähnelt. Er ist zu spät aufgestanden, um den Unterschied ausmachen zu können. Er zieht sich eine saubere Unterhose an, deren Steifheit augenblicklich sein gesamtes Verhältnis zur Welt bestimmt, von der Länge seines Schritts bis zur Weite seines Geistes. In einem Leben, das so klein ist wie seines, dreht sich der Geist unaufhörlich im Kreis, gemeinsam mit den Resten der abgestandenen Luft. Es ist kein Platz mehr für allzu viel Weite. Auf halbem Weg zwischen zwei Zimmern verspürt er einen Wechsel in seiner Stimmung, der seinen Entschluss zu verreisen jedoch für keine Sekunde ins Wanken bringt. Beim Gehen bewegt er eine Tasse vom Tischrand hin zur Mitte. Die Traurigkeit, die sich in den Gegenständen versteckt, blitzt auf, wie der Abglanz der Sonne auf der polierten Oberfläche eines unnützen Objekts. An der Tür zum Badezimmer hält er inne, hebt die blut- und schweißdurchtränkte Wäsche vom Boden auf und schmeißt sie in die Waschmaschine. Anschließend streift er mit dem Blick einen Kamm, einen Rasierapparat, eine Zahnbürste, einen Rasierschaum, ein Maniküre-Set, ein Fläschchen mit siebzigprozentigem Alkohol. Alles, was er sieht, sind Überreste seiner Bedürfnisse und Entscheidungen aus früheren Zeiten. Nichts von dem, was er sieht, erscheint ihm irgendwie notwendig. An diesem Morgen oder an einem beliebigen anderen. Er könnte jeden Tag eine Sache wegschmeißen und so tun, als hätte er einen guten Grund dafür. Die Fingernägel kann der Mensch immer auch mit Hilfe seiner Zähne in Ordnung bringen. Er könnte außerdem problemlos auch ohne Nägel sein. Er greift nach der Flasche mit desinfizierendem Alkohol und öffnet sie. Der scharfe Geruch erinnert ihn an einen Nachmittag vor vier Tagen, als er versucht hat, mit einem großen Messer eine noch größere Wassermelone in zwei Teile zu schneiden, und dabei ungeschickt mit den Fingern unter die Rinde gegriffen hatte. Es floss recht viel Blut, aber die Farbe der Wassermelone hatte die Katastrophe rasch neutralisiert. Er hat seinen Finger verbunden und die Apotheke am Eck aufgesucht. Im Treppenhaus hat er einige dunkle Tropfen hinterlassen. In der Apotheke hat er eine Packung Pflaster und ein Fläschchen Alkohol gekauft. Es ist das Fläschchen, das er nun in der Hand hält, drauf und dran, es wegzuschmeißen. Der Schnitt am Finger ist verheilt. Bender hebt den Fuß und tastet die Fußsohle ab. Die Wunde schließt sich allmählich. Es bleibt eine Narbe, die ihn daran erinnern wird. Aragorns Schwert hat sich zu tief in seine Fußsohle hineingebohrt, als dass diese je wieder so werden könnte wie früher. Bender verzichtet darauf, die Wunde zu desinfizieren, macht das Alkoholfläschchen zu, geht in die Küche und legt es vorsichtig auf den Boden des Mülleimers, als würde er ein Duftfläschchen in Meereswellen versenken oder flüssigen Sprengstoff mitten in seinem eigenen Leben platzieren. Er behandelt die Dinge mit einer Vorsicht, die nicht seinem Verhältnis zu ihnen selbst geschuldet ist, sondern zu ihrer Überflüssigkeit. Er benötigt nichts von all dem, was für ihn zum Greifen nahe ist. Er geht zur Balkontür und öffnet sie. Ein Taubenpärchen lebt schon seit Wochen auf dem Balkon. Bender tut schon seit Wochen so, als würde er die beiden nicht bemerken. Jetzt sieht er, dass das Weibchen den Kopf schief hält, in einem seltsamen Winkel, als würde es sich den Blumen auf den Balkonfliesen anbiedern wollen. Aus dem offenen Schnabel des Weibchens sickert Schleim. Das Männchen steht daneben und wartet, dass das Weibchen endlich den Kopf hebt. Der Körper des Männchens erzittert leicht, und der untere Teil seines Rumpfs hebt sich, was seinem Akt der Notdurft eine verfeinerte, würdevolle Note verleiht. Das Männchen scheißt ohne das geringste Bewusstsein von dem, was es tut. Bender tritt auf den Balkon hinaus und nähert sich dem Taubenmännchen, er ist nun keinen Meter von ihm entfernt, aber das Taubenmännchen bewegt sich nicht. Das Weibchen verströmt Gestank. Bender hebt einen Arm und presst eine undeutliche Drohung hervor. Das Männchen rührt sich nicht. Das Weibchen versucht weiterhin scheinbar, sich dem Blumenmuster auf den Balkonfliesen anzubiedern. Bender wiederholt seine Drohung. Das Männchen scheißt ein weiteres Mal. Bender greift nach einem Putzbesen, dem der untere Teil fehlt, und wedelt damit drohend zum Taubenmännchen. Das Taubenmännchen rührt sich nicht. Den nächsten Schwung richtet Bender gezielt gegen das Tier. Das Männchen stürzt über den Balkonrand, und eine Sekunde vor dem tödlichen Aufprall breitet es seine Flügel aus und fliegt träge davon. Das Weibchen bleibt liegen. Bender nähert sich der Taube und geht in die Hocke, um sie besser zu sehen. Als ihm ihr Gestank entgegenweht, muss er sich jedoch fast übergeben. Er geht wieder in die Küche und findet in einer Schublade eine Plastiktasche. Diese stülpt er sich wie einen Riesenhandschuh über die Hand und kehrt zum Balkon zurück. Der Körper der Taube fühlt sich bei der Berührung kleiner an, als er aussieht. Er greift die Taube vorsichtig an. Zwar hat er wieder das Gefühl, er könnte sich übergeben, aber der Gedanke, dass er mit dem Überziehen der Plastiktasche eine kluge, einfache und funktionale Handlung gesetzt hat, lenkt ihn vom Gestank ab. Das Äußere wird zum Inneren, und die Hände bleiben sauber. Eine gute Strategie gegenüber dem Tod, der ihm auf seinem Balkon droht. Er stülpt die Plastiktasche über den gesamten Körper der Taube. Die Leiche ist hart und fühlt sich ziemlich fest an. Bender macht einen Knoten in die Plastiktasche und schmeißt sie in eine Ecke des Balkons. Er beschließt, die Tasche später hinunterzutragen und gemeinsam mit allen anderen Sachen, die sich als unnütz erweisen, im Container zu entsorgen. Unnütz, auch wenn sie nicht stinken. Während er versucht, die Balkontür zu schließen, hebt er den Kopf und schaut zum Fenster im gegenüberliegenden Wohnhaus. Er erblickt orangefarbene Wandtapeten. Die Wandfarbe in seiner Wohnung scheint ihm eine bessere Wahl zu sein. Das Morgenlicht macht die Tiefe im Inneren der Wohnung gegenüber zunichte. Bender denkt, dort könnten jederzeit ein Kameramann, ein Regisseur und ein Filmteam auftauchen. Er sollte irgendwo in Deckung gehen, falls er weiterhin zuschauen möchte, denkt er. Der Wind wirbelt Staub und Vogelgefieder auf dem Balkon durcheinander und überzieht seine nackten Füße damit. Am Fenster der gegenüberliegenden Wohnung taucht zuerst ein Mann mit nacktem Oberkörper auf. Er ist vermutlich knapp über dreißig. Er greift sich an die Brust. Dann kratzt er sich am Hintern. Er bewegt sich durchs Zimmer, als würde ihm jemand eine Choreografie und die Abfolge seiner Bewegungen diktieren. Er öffnet den Mund. Öffnet den Kasten. Holt eine Tasse. Schließt den Kasten. Öffnet den Mund. Plötzlich hält er eine Zigarette in der Hand. In dem Moment, als er die Zigarette anzündet, kommt eine Frau mit kurzen Haaren dazu. Sie sieht aus wie ein Junge, der nicht älter ist als sechzehn Jahre. Ihre Brüste sind unter ihrem T-Shirt kaum zu sehen. Sie steht ganz in seiner Nähe. Sie berührt seine Hand. Zwei Personen, eng aneinandergeschmiegt, versuchen, den Tag zu beginnen. Die Nähe lässt ihnen wenig Spielraum. Beide öffnen den Mund. Die Frau steckt sich ein Stück von etwas in den Mund und beginnt zu kauen, zugleich deutet sie mit der Hand. Irgendetwas stimmt nicht. Irgendetwas läuft an diesem Morgen schief. Die Frau verschwindet aus dem Bild. Der Mann öffnet den Mund, zugleich bewegt er den Kopf gerade genug, um Bender auf dem Balkon zu sehen. Der Mann schließt den Mund. Ihre Blicke treffen sich in dem Moment, in dem beide sich wünschten, unbemerkt zu bleiben. Der Mann hebt den Arm und winkt. Bender denkt, er sollte sich besser verstecken, sich in einen weggeworfenen Gegenstand verwandeln. So wie jetzt, so bloßgestellt, wartet er nur darauf, dass der Mann auf der anderen Seite das Feuer eröffnet. Der junge Mann ist stärker, hat breite Schultern und Brusthaare. Schon nach dem ersten Schlag würde der junge Mann den Sieg davontragen. Bender kann keine Rechtfertigung dafür finden, dass er auf seinem Balkon steht und die Außenwände des Lebens dieser Leute betrachtet. Der Mann öffnet das Fenster, hebt eine Hand, streckt sie durchs Fenster und winkt langsam, aus der Schulter heraus. Bender weiß nicht, was er ihm antworten soll, und ignoriert den Mann. Er muss ein Alibi für seinen Aufenthalt auf dem Balkon finden. Bender bückt sich und hebt die Plastiktasche mit den Überresten der toten Taube, trägt sie in die Küche und schließt die Tür. Der Mann bleibt am Fenster stehen. Der Zigarettenrauch, den er durch Nase und Mund bläst, sieht aus wie warmer Dampf in kalter Winterluft. Der Mann hebt die Arme und atmet ein. Bender steht neben der Balkontür mit der toten Taube in der Plastiktasche und versucht, sich davon zu überzeugen, dass er vernünftig gehandelt hat, allerdings hat sich der Gestank bereits im gesamten Raum ausgebreitet. Er findet noch eine Plastiktasche und nimmt eine zusätzliche Mumifizierung der Überreste vor. Er atmet durch den Mund. Sollte der Gestank ein weiteres Mal bis in seine Wahrnehmung vordringen, würde er ihn erschlagen, wie man einen Hammerschlag auf den Kopf eines Schweines setzt. Er schickt seine Gedanken zu den Dingen, die schon lange abwesend und weit weg sind. Er denkt an all das, wofür man eine übermenschliche Konzentration benötigt, um es zu denken, an Dinge, die zu schwach sind, um selbst einen Beweis für ihre eigene Existenz zu erbringen. Bender schaut zu dem Mann, dem in der Zwischenzeit ein weiteres Paar Arme gewachsen ist. Gleich unter den Schultern befindet sich ein Paar schmaler Arme, die den Mann um die Brust halten, während er den Rauch der morgendlichen Zigarette ausbläst. Dann entfernt sich die Frau und nimmt ihre Arme mit. Die Illusion funktioniert nur dann, wenn sie nicht allzu lange währt. Bender zieht den Vorhang der Balkontür zu. Mit wenigen Schritten geht er von einem Zimmer ins andere, dann ins dritte, wobei er versucht, mit seinen Schritten den Trübsinn an unzugängliche Stellen hinter die Dinge zu befördern. Der allzu lange angesammelte Trübsinn wiegt immer schwerer. Bald wird Bender nicht einmal mehr eine Blumenvase von der Stelle bewegen können, geschweige denn einen Schrank oder einen Tisch. Man müsste die Eimer mit Farbe in den Keller tragen. So bald wie möglich. Sie in die Dunkelheit verfrachten wie in den hinteren Teil des Gehirns, wo alles, das nirgendwohin gehört, in der Schwebe aufbewahrt wird. In der rechten Hand dreht sich die Plastiktasche trotz der Reglosigkeit des toten Fleisches, das in ihr aufbewahrt ist. Bender scheint, dass der Inhalt der Plastiktasche zuckt. Er schüttelt sie mit der Hand. Die Rückkehr ins Leben ist die Hoffnung der Lebenden. Die Toten denken nicht an sich und haben keine Wünsche. Abermals schüttelt er die Plastiktasche mit dem toten Tier darin. Kein Wunder geschieht. Wunder muss man sich für Beerdigungen, Hochzeiten, Sonntage und andere unerträgliche Augenblicke aufheben. Er legt die Plastiktasche auf einen Eimer mit Farbe und kehrt wieder in die Küche zurück. Er macht den Vorhang an der Balkontür auf. Einige Minuten wartet er noch, aber das Paar auf der anderen Seite taucht nicht mehr auf. Er erblickt ein weiteres Vogelpaar, das auf der zugeschissenen schattigen Seite des Balkons sitzt. Er hebt eine Hand und schreit, um den Vögeln Angst einzujagen, aber das gelingt ihm nicht. Er setzt sich an den Tisch. Er nimmt Papier und Bleistift zur Hand. Man muss eine Nachricht hinterlassen. Das Papier faltet er in der Mitte. Er zeichnet ein Gitter. Anschließend schreibt er in jedes zweite Feld je einen Buchstaben. Leere Felder. Die Wörter haben keine Bedeutung, obwohl die Buchstaben innerhalb der Quadrate überzeugend und stabil aussehen. Neben den Quadraten zeichnet er das Gesicht von Mickey Mouse. Es ist die einzige schablonenhafte Zeichnung, die er beherrscht. Die Nachricht hinterlässt er angelehnt an den Rest des Marmorkuchens. Außer ihm wird niemand wissen, wie man diese Nachricht lesen muss.
Der Ablauf sieht folgendermaßen aus: zunächst der Trieb, dann die Vorahnung einer unvermeidlichen Veränderung, die, noch bevor sie stattfindet, zu Übelkeit führt – ein legitimes filmisches Verfahren.
Bender kehrt ins Zimmer zurück, zieht sich eine Hose an und steckt seine nackten Füße in Schuhe. Mit jeder Hand nimmt er einen Eimer mit der nicht verwendeten Wandfarbe und verlässt die Wohnung.