Читать книгу Wunder wird es hier keine geben - Goran Fercec - Страница 8
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ОглавлениеBender hockt da und sammelt Haare vom Boden auf. Als er seinen kahlrasierten Kopf berührt, wandern seine Gedanken in die falsche Richtung. Er hätte das schon vor langer Zeit tun sollen. Er steht auf und trägt das abgeschnittene Haar zum Mülleimer. Während er seine Hände säubert, erscheint ihm das Haar wie lebendig. In der halbdunklen Wohnung gibt es genug Nachmittagslicht, um Lebendiges von Nichtlebendigem zu unterscheiden. Er pustet in die Handflächen, dann beschließt er, Hose und T-Shirt zu suchen. Seine ganze Kleidung sieht gleich aus. Das erleichtert die Auswahl. Die schwarze Hose trägt er schon seit Tagen. Es gibt niemanden, der ihn dazu bringen könnte, Kleidung in die Schmutzwäsche zu tun. Eine Hose, ewig und steif wie eine Mönchskutte. Die Hose gilt es zu verschleißen, um zu sehen, wie lange sie seinen Zweifeln standhalten kann. Er zieht den Gürtel zu. Schon ist ihm wärmer. Das Blut fließt wieder durch seine Adern. Als er sich das T-Shirt über den rasierten Kopf zieht, ist er froh, dass die Geste, sich mit der Hand durchs Haar zu fahren, keinen Sinn mehr hat. Er sieht sich im Spiegel an. Seine Kleidung wirkt nicht luxuriöser, als sie aussieht, wenn sie im Schlafzimmer über der Stuhllehne hängt. Einen Augenblick lang erscheint er sich selbst zufrieden, wie er da so mitten im Zimmer steht und sich über die Haut an den Oberschenkeln fährt, durch den ausgedünnten Stoff der Hosentaschen hindurch. Er ist noch immer in der Lage, Annehmlichkeiten zu spüren. In seine linke Hosentasche legt er eine Zigarettenschachtel. In die rechte Hosentasche die Schlüssel. Er wendet sich zum Fenster. Zwischen den Zweigen der Platanen sieht er ein großes, magentafarbenes T mit einem kleinen Zeichen darüber. Dann hat er plötzlich den Eindruck, dass ihm jemand vom waagrechten Teil des T aus zuwinkt. Er geht zum Fenster, schärft seinen Blick und sieht tatsächlich einen kleinen Mann in Schwarz, der ihm zuwinkt. Er wirkt, als würde er tanzen oder Geister beschwören. Bender löst seinen Blick von dem leuchtenden Magenta-T und verlässt die Wohnung. Im Treppenhaus schaltet er das Licht ein, obwohl es noch genug Tageslicht gibt. Er trifft niemanden. Er geht auf die Straße, und eine unbekannte Vibration klebt sich in sein Gesicht statt eines Grußes und macht ihn fast stumm. Zuerst ist es ein ganz leises Brummen wie aus dem Blasinstrument aus Eukalyptusstämmen, das die Aborigines spielen. Die Fensterscheiben erzittern leicht, als würden tausend starke Frauen gleichzeitig die Fenster vor einem Sturm schließen. Das Brummen ähnelt immer mehr einer Katastrophe in Friedenszeiten, dann aber erblickt er eine Lokomotive und begreift, dass es keinen Grund zur Panik gibt. Immer wenn ein Zug gegenüber von seinem Wohnblock vorbeifährt, hält Bender inne. Als würde eine Trauergemeinde vorbeiziehen. Er kann nicht zulassen, dass ein Zug voller Menschen, die die Stadt verlassen, unbemerkt wegfährt. Obwohl manche beschämten Stadtflüchtlinge das vielleicht ganz gerne hätten. Er winkt ihnen nach, starr wie eine Säule, die Hand in Höhe der Schulter gehoben. Er winkt wie jene Kinder, die es gewohnt sind, neben der Eisenbahn zu leben, oder so, wie Geisteskranke winken könnten. Er steht da und winkt. In seiner linken Hand hängt der Müllsack, in dem auch die Reste seiner Haare sind. Die Lokomotive ist ganz nah und die Stahlräder sind so hoch, dass er darunter die Welt auf der anderen Seite der Eisenbahnschienen sehen kann. Wäre er schlau und geschickt genug, könnte er sich darunter durchschlängeln. Jemand hat ihm von einem Mann erzählt, der in den siebziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts unbedingt nach Paris reisen wollte, aber die Behörden wollten ihm keine Reisedokumente ausstellen. Dieser Mann, er kann sich an seinen Namen nicht mehr erinnern, hat sich unter einen Waggon auf der Strecke Belgrad–Paris gehängt. Der Mann hat die gesamte Fahrt durchgehalten. Er hatte seine Schulter an einen Griff unter dem Waggon gebunden und kam fünfzehn Stunden später in Paris an. Bender hat dem Mann, der ihm die Geschichte erzählt hat, nie Glauben geschenkt, trotzdem sucht er jedes Mal, wenn ein Zug vorbeifährt, mit dem Blick den Mann, der an einem Griff unter dem Waggon festgebunden ist. Er sollte seinen Kopf auswechseln. Das Geschrei der Kinder auf den Schaukeln und das Brummen des Zuges, der Richtung Westen fährt, werden von Fahrradglocken übertönt. Die Räder fahren hinter ihm vorbei. Das ist die zweite Angst, die zu überwinden ihm gelungen ist. Anfangs hatte er Panik vor den gebückten Radfahrern und ihren Glocken. Dann wurde ihm klar, dass das Risiko eines Zusammenpralls minimal ist, denn es ist leichter für den Menschen, den Willen des Fahrrads zu beherrschen, als den Willen eines anderen Menschen. Zwar besteht immer die Gefahr, dass ihn ein Radfahrer beim Bremsen leicht streift, aber ein Zusammenprall lässt sich verhindern. Die Radfahrer fahren hinter ihm vorbei. Sie sind ausreichend weit weg, dass er ihre Gedanken nicht spürt. Aus dem Augenwinkel betrachtet, sehen sie aus wie eine berittene Division. Er denkt, er sollte sich ein Fahrrad kaufen, und geht zu einem der drei Container. Mit der linken Hand hebt er den Deckel des zweiten Containers in der Reihe, und bevor er den Müllsack hineinschmeißt, bückt er sich und wirft einen Blick hinein. Er schaut sich an, wo er die Abfälle seines eigenen Körpers entsorgen wird. Es gibt gute Gründe für eine solche Geste. Am Boden des Containers erblickt er den Rest eines Menschen bzw. von etwas, das einmal einem Menschen gehört hat. Ein schwarzer Converse-Tennisschuh mit einem roten Stern auf der Seite. Identisch mit dem Turnschuh, den er selbst gerade am rechten Fuß trägt. Bevor er den Müllsack in den Container wirft, bückt er sich und wühlt darin herum. Mit den Fingerspitzen holt er den Turnschuh heraus. Tadellos. So gut wie neu. Er schaut hinunter auf seinen Turnschuh. Nein, er kann noch immer keine Verbindung entdecken zwischen dem Turnschuh, den er in der Hand hält, und jenem an seinem rechten Fuß. Er lässt zu, dass ein unvermeidliches Gefühl des Zerfalls in ihm aufsteigt wie erhöhte Temperatur, er überzeugt sich selbst davon, dass er hier soeben auf die Überreste gestoßen ist von dem, was aus ihm eines Tages werden wird. Schreiende Kinder freuen sich über seinen Fund. Er hebt seinen rechten Fuß, legt ihn auf das linke Knie und gleicht den gefundenen Überrest mit der Länge seines Fußes ab. Ein Gegenstand, der aller Logik nach ihm gehören könnte, aber überflüssig ist. Wem gehört er dann? Er hat keine Illusionen. Sein Verhältnis zu Sachen hat ihm noch nie Probleme bereitet. Den Sachen ihren Platz zuzuweisen, das ist ihm immer schon leichtgefallen. Drübersteigen. Verlassen, ersetzen, vergessen. Nur so kann sich die Welt nach einer Katastrophe wieder und noch einmal erneuern. Selbstverständlich ist sie nur begrenzt haltbar. Ort und Zeit sind zufällig, ebenso der Turnschuh in seiner Hand. Die Unbestimmbarkeit des Zufalls löst eine primäre Angst aus, mit der er noch immer nicht zurechtkommt. Er hat Angst, jemand könnte ihn zufällig auf der Straße anhalten, ihm die Hand auf die Schulter legen, ihn an der Wange streicheln, seine Hand drücken, alles dafür tun, dass er sich sicher fühlt, ihn dann jedoch mit einem Faktum abschießen wie mit einer Gewehrpatrone, dummdumm. Mit einem Faktum, das sich auf egal was beziehen könnte. Er legt den Converse-Turnschuh von einer Hand in die andere, wie einen Teil von sich selbst, mit dem er nichts anzufangen weiß. Seine Lippen bewegen sich auf der Suche nach einem Halm, durch den er eine weniger wiedererkennbare Realität mit weniger Fakten einatmen könnte. Wenn er nicht auf der Stelle losgeht, werden alle Spielwarengeschäfte vor seiner Nase schließen. Dann würde er erklären müssen, warum es den starken Aragorn nicht mehr gibt. Um sich dem Kind gegenüber nicht rechtfertigen zu müssen, muss er weitergehen. Aragorn muss wiederauferstehen. Bender legt den Turnschuh neben den Container, für den Fall, dass ein Einbeiniger vorbeikommt. Neben der Tafel mit dem Straßennamen biegt er links ab und geht geradeaus weiter zu dem Gebäude mit dem Archiv, das eigentlich der getarnte Sitz des Geheimdienstes ist. Das hat er sich selbst ausgedacht. Seit er nicht mehr arbeitet, ist das seine Art, die Realität aufrechtzuerhalten. Das Gebäude ist von den trägen Strahlen der Nachmittagssonne überzogen. Am Eingang steht ein Wächter und raucht. Bender sieht die Polnisch-Lehrerin, die ihren Hund spazieren führt. Er hat sie an dem großen, schwarzen Labrador mit dem muskulösen Körper und der feuchten Schnauze erkannt. Er nickt ihr zu, während sie darauf achtet, dass ihr Blick nicht den Blick des Wächters am Eingang trifft. Sie hat sich einen durchsichtigen Plastiksack über die rechte Hand gezogen, damit wird sie den Hundekot aufsammeln. Sie erkennt ihn, schweigt jedoch. Es ist zu wenig Zeit für ein Gespräch. Irgendwann früher, als er noch etwas gemacht hat, hat sie für ihn einen Text über Kieślowski übersetzt. Sie hat ihm geholfen zu verstehen. Irgendwann früher, da kam es vor, dass sie bei einem Treffen ein paar Sätze wechselten. Über den Hund. Oder über Kieślowski. Da gibt es immer irgendetwas, das man hinzufügen kann. Obwohl der Hund sich nicht verändert und Kieślowski schon lange nicht mehr atmet. Sie geht hinter ihm vorbei. Der Hund dreht seinen Kopf und schaut ihn an, als würde er ihn wiedererkennen. Dann reißt er sich los, zieht der Polin den Griff seiner Hundeleine aus der Hand und läuft zu ihm, verlangsamt, während ihm die Zunge wie ein Stück Menschenfleisch aus dem Maul hängt und die Spucke in alle Richtungen spritzt. Bender bleibt wie angewurzelt stehen. Er versucht, der Situation entsprechend zu reagieren. Man muss schnell denken. Eine Entscheidung treffen. Er wird seine rechte Hand für den Biss hinhalten. Seine rechte Hand ist schließlich stärker als seine linke. Er spürt keine Angst, während er im Hintergrund sieht, wie die kleine Polin die Hände in die Höhe hält und den Hund beim Namen ruft. Sie sieht aus wie eine schwarz verhüllte Klagefrau auf einer Insel. Zu ihm dringt nur das Echo eines slawischen Namens, der ebenso stark ist wie der Hund selbst. Witold. Der Hund, der sich ihm mit leidenschaftlicher, jedoch unklarer Absicht nähert, heißt Witold. Sollte Bender deshalb weniger oder mehr besorgt sein? Witold sieht aus, als hätte sich der Schatten des Wächters am Eingang zum Staatsarchiv losgerissen, und als er schon ganz nah ist, hebt Bender den rechten Arm und hält ihn hin, im Bewusstsein, dass er ein Opfer bringen muss. Witold läuft an Bender vorbei, ohne auf ihn zu achten, er lässt ihn stehen, wie angewurzelt, erschrocken und mit erhobenem rechten Arm. Bender lässt den Arm sinken und schaut dorthin, wo die Polin gestanden ist, von der keine Spur mehr zu sehen ist. Er schaut sich nach Witold um, sieht jedoch nur den leeren und gut gepflegten Eingang zum Stadtpark. Das große Metalltor ist offen. Eltern mit Kindern und Hunden kommen lachend aus der klaffenden Dunkelheit des Parks heraus. Eine wenig überzeugende Idylle, gestört durch das eine oder andere Kind, das herumschreit und genervt mit seinen Sachen um sich wirft. Bender beschließt, später hineinzugehen, wenn der Park für Eltern und Kinder geschlossen sein wird. Er geht weiter in Richtung Norden. Von der Nebenstraße kommt er auf die Hauptstraße und stößt mit einem demonstrierenden Menschenstrom zusammen. Wie bei einem Fisch-Exodus bewegen die Menschen langsam ihre Körper und öffnen ihre Münder, wobei sie ihren Singsang nach Norden und Süden hin murmeln. Vielleicht wartet am Ende der Straße ein Wegweiser für ihr weiteres Vorgehen. Alles Verbrauchte sollte man verlassen oder abwerfen. Bender schaut in beide Richtungen. Das, was er sucht, befindet sich in der Richtung, in die die Mehrheit unterwegs ist. Kein Grund zur Panik. Er wird in den Menschenstrom eintreten, und wenn er beim Spielwarengeschäft ankommt, wird er langsam wieder heraustreten. Die Straße ist für Autos gesperrt. Das deutet darauf hin, dass etwas Schlimmes passieren könnte. Eine blaue Neonlichtröhre in einem Schaufenster, das wie ein mit Wasser gefülltes Aquarium aussieht, fesselt seine Aufmerksamkeit. Sein Staunen kennt kein Ende. Hier wird er sich kurz erholen, eine Weile innehalten und sich seinem Begehren nach dem, was hier angeboten wird, hingeben. Die Angebote sind tatsächlich sehr günstig. Bender steht vor dem Reisebüro und reibt seinen Oberschenkel. Kuba. Siebenhundert Euro. Malta. Neunhundert Euro. Dreisternehotel. Istanbul. Vierhundertachtzig Euro. Viersternehotel. Das Angebot für Tansania ist verziert mit einem Foto von Sansibar, aufgenommen von einem Schiff aus. Das Meer ist türkisblau, sein Versuch, das Meer darzustellen, ist gar nicht überzeugend. Die blaue Neonlichtröhre lässt die ganze Szene noch weniger überzeugend aussehen. Häuser im arabischen Kolonialstil wirken verlassen und tot. Auf dem Platz vor den Häusern ist kein Mensch. Die offenen Fenster sind mit stumpfem Schwarz gefüllt. Der Himmel ist weniger blau als das Meer. Das letzte ideale Bild der Welt bietet Griechenland. Das Foto, das die Entscheidung für diese Reise auslösen soll, zeigt die Akropolis. Vor dem weißen Tempel sind gehende Menschen zu sehen, gefangen im Format einer Fotografie von neun mal dreizehn, Menschen, die nie wieder in ihre Hotelzimmer zurückkehren werden. Eine Tragödie, von der niemand berichtet hat. Bender schaut in das Reisebüro hinein. Innen ist es kühl und leer. Die Frau, die die Reisearrangements verkauft, hat entweder das Büro verlassen oder ist mit den restlichen Sachen verschmolzen. Er könnte versuchen, hineinzugehen und die unsichtbare Frau wieder zurück unter die Lebenden zu holen. Er liest weitere Angebote, bis die Städtenamen sich zum unleserlichen Namen einer inexistenten Megalopolis vermischen. Er löst den Blick von der Glasoberfläche erst, als er darin die Spiegelung einer Menschenmasse sieht, die plötzlich hinter seinem Rücken angewachsen ist und die Straße wie eine Flutwelle erfüllt hat. Bender dreht sich um zu den Demonstrierenden. Niemand achtet auf ihn. Die Menschenmasse bewegt sich langsam. Für einen achtlosen Passanten ist es ein Leichtes, Teil dieser Kolonne von Männern und Frauen in roten T-Shirts mit Transparenten und Fahnen in den Händen zu werden. Die Masse öffnet ihre Münder in einem gemeinsamen Rhythmus, aber die Stimmen, die herauskommen, zerbröseln ohne Bedeutung. Die Masse brummt wie ein Bienenschwarm. Die Passanten stehen mit überraschtem Gesichtsausdruck an der Häuserwand und warten, dass dieser ungünstige Moment vorübergeht. Er erkennt kein einziges Gesicht. Jemand aus der Kolonne hebt die Hand und winkt Bender zu, er solle sich doch der Masse anschließen. Bender ignoriert diese Einladung. Der Mann schlägt sich durch bis zum Rand der Kolonne, kommt ganz nahe an Bender heran und gibt ihm ein Zeichen, das sich nicht mehr ignorieren lässt. Bender lächelt. Das Gesicht des Mannes kommt ihm bekannt vor. Noch bevor er Zeit hat, nachzudenken und eine Entscheidung zu treffen, stößt ihn ein Passant von der Wand weg, und Bender macht einen Schritt mit dem falschen Fuß, hinein in die Menge der Demonstranten. Der Mann, der ihn gerufen hat, ist verschwunden. Bender ist plötzlich mitten in einer Gruppe von Afrikanern, die lauter sind als der Schmerz an seiner Fußsohle. Die Menschenmasse trägt ihn weiter, und hätte er sich nicht mit der Hand an einem unbekannten Mann festgehalten, hätte er das Gleichgewicht verloren und wäre hingefallen. Der Mann dreht sich mit einem fragenden Blick um. Bender schüttelt den Kopf und antwortet mit einem brüderlichen Lächeln. Später auf dem Heimweg wird er darüber nachdenken, wie wenig überzeugend dieses Lächeln war. Einige Schreie lösen eine Kettenreaktion aus. Die Menge beginnt zu brüllen. Bender versucht, die Schrift auf den T-Shirts zu lesen, versteht aber die Botschaft nicht. Die Straße, durch die die Demonstranten marschieren, ist für den Verkehr gesperrt. Polizisten stehen am Rand und beobachten die Lage. Es könnte sich als Fehler erweisen, weiterhin in der Kolonne zu bleiben. Als die Demonstration für einen Augenblick innehält, versucht Bender, durch einen Spalt zwischen den Körpern zu entkommen. Kaum ist er draußen, taucht ein Polizist vor ihm auf und stößt ihn zurück in die Menge. Bender verliert wieder das Gleichgewicht. Der Zustand ohne Gleichgewicht ist vergleichbar mit der Panik, die man empfindet, wenn man seine Dokumente oder seine Geldtasche verliert, oder wenn etwas, das einmal verloren ist, für immer verloren bleibt. Je näher die Kolonne dem Hauptplatz kommt, desto schneller wird ihr Rhythmus. Bender spürt den Geruch von Verbranntem. Er tastet seinen Körper ab, aus Angst vor Flammen, dann sieht er eine Fackel, die einer von den Anführern in den ersten Reihen angezündet haben muss. Der Rauch füllt die Kolonne dort, wo am wenigsten Leute sind. Der Polizist kommt näher und zwingt den Mann mit der Fackel, diese zu löschen. Man hört Pfeiftöne und Geschrei. Der Polizist achtet nicht auf die Beschimpfungen. Das Stimmengewirr wird bald durch Pfeiftöne ersetzt. Von irgendwoher kommt ein Feuerzeug geflogen und fällt wenige Meter von Bender zu Boden. Die Explosion des Feuerzeugs übertönt die Stimme aus dem Megafon. Bender wird sich erst jetzt der Stimme bewusst, die die Kolonne schon die ganze Zeit begleitet hat. Die Stimme aus dem Megafon zerstört die Illusion eines friedlichen Nachmittags. Bender erkennt die Wörter Recht, muss, nehmen, Hände. Danach beginnt die Menge zu klatschen, und Bender verliert den Sinn des Satzes. Die Stimme aus dem Megafon macht weiter, sobald der Applaus verstummt. Jemand neben Bender erwähnt den Tod. Bender schaut in die Richtung, aus der das Wort gekommen ist. Er sieht eine Gruppe von Frauen. Eine von ihnen hat einen Strumpf über das Gesicht gezogen. Sie würde erschreckend aussehen, wäre da nicht ihr rundlicher Körper, der ihr ein träges Aussehen verleiht, so dass sie nicht bedrohlich wirkt. Bender stellt sich auf die Zehenspitzen eines Fußes und versucht zu sehen, was vorne geschieht. Das ist nicht die Richtung, in die er gehen wollte. Er will die Kolonne ausnützen, um bis zu dem Spielwarengeschäft am Ende der Straße zu kommen. Dann wird er rechtzeitig die Demonstration verlassen und seines Weges gehen. Er geht weiter. Jemand schubst ihn und gibt ihm ein Zeichen, dass er sich beeilen muss. Er versucht, seinen Rhythmus zu halten. Der Schmerz im Fuß zwingt Bender zu humpeln. Er ignoriert den Schmerz. Er konzentriert sich auf den Punkt, wo die Menge am dünnsten ist. Er sucht nach dem Loch, durch das er schlüpfen kann, um seinen Weg fortzusetzen. Ein Stein, den jemand auf die Kolonne wirft, trifft ihn fast an der Schulter. Er versucht, sich auf beide Zehenspitzen zu erheben, aber der Schmerz hindert ihn daran. Vorne scheint sich etwas zusammenzubrauen. Bender hüpft auf einem Bein herum. Er wiederholt den Sprung so viele Male, wie nötig ist, um zu sehen und zu begreifen, dass die Kolonne auf eine Mauer von Polizisten zusteuert, die nicht so aussehen, als würden sie die Demonstrierenden durchlassen. Sobald die Demonstrierenden die Polizisten sehen, schreien sie lauter und werfen Parolen wie Gummigeschosse. Bender versteht, ein Zusammenstoß mit der Polizei ist unvermeidlich. Dieser Zusammenstoß zwischen dem Gefühl der Ungerechtigkeit auf der einen Seite und dem Befehl auf der anderen Seite könnte Narben an der Zeit hinterlassen. Bender versucht, seine Panik vor dem offensichtlichen, aber unklaren Befehl, dem die Kolonne sich nähert, in den Griff zu bekommen. Er weiß nicht genau, wie er sich verhalten soll, falls er mitten im Konflikt landet. Als die Demonstration sich dem Polizeikordon nähert, wird es auf einmal still, und für einen Augenblick kann man keine einzige Stimme mehr hören. Bender hebt den Kopf und sieht in einem Fenster in der Ferne eine menschliche Figur, die reglos dasteht. Bender stellt fest, für diese Person am Fenster muss all das hier wie eine Massenszene in einem Film aussehen, in der es absolut egal ist, wogegen die Menschen in der Kolonne eigentlich aufbegehren. Die Person am Fenster verschwindet, kehrt aber dann mit einem Fotoapparat zurück und richtet diesen auf das leere, angespannte Feld zwischen Demonstration und Polizeimauer. Ein Hund taucht zufällig dort auf und läuft umher, wobei er mit dem Schwanz wedelt und zuerst die eine, dann die andere Seite beobachtet. Aus den hinteren Reihen kommt wieder Lärm. Statt Worte wirft jemand einen Stein auf den Polizeikordon. Nun vermag nichts mehr die Köpfe aufzuhalten, die schneller sind als die Körper und auf die Polizeischilde zulaufen. Vom Fenster aus betrachtet, muss der große Körper der Masse müde und unwichtig aussehen. Der Mensch am Fenster hält mehrmals die Kamera ans Auge, zieht sich dann in die Dunkelheit seiner Wohnung zurück und schließt das Fenster. Das geschlossene Fenster ruft bei Bender das Gefühl hervor, dass es keinen Ausweg gibt. Er hört einen dumpfen Schlag, Faust gegen Kopf. Die ersten Reihen der Demonstranten mischen sich unter die Polizisten. Der Durchbruch sorgt für Schweigen in der Menge. Dann schreit jemand eine Parole, die sich wie Tränengas ausbreitet. Die Augen füllen sich mit Tränen. Eine Frau beginnt zu schreien. Ein Mann neben Bender reißt die Arme in die Höhe, als wäre er bereit, einen Schuss ins Herz aufzunehmen. Für Bender scheint die Geste des Mannes erschütternd. Bender versucht, eine Stelle zu finden, von der aus er sich aus der Masse entfernen kann, die ihn für einen Gleichgesinnten hält. Als Menschenrechte erwähnt werden, bricht eine Frau mit einer Zigarette in der Hand in Tränen aus. Bender geht zum Ende der Kolonne, in die Gegenrichtung der Demonstration. Er schlägt sich mit Hilfe seiner Schultern durch. Er bekommt ein paar Schläge in den Rücken ab, dreht sich aber nicht um. Er ist überzeugt, dass er bis zum Ende weitergehen muss. Am schlimmsten ist es, die Flucht anzutreten und dann auf halbem Wege stehenzubleiben. Jemand ruft ihm zu: Feigling! Bender hebt den Blick, findet den Schuldigen aber nicht. Er geht weiter, bis zum Ende. Dass er am Ende angelangt ist, begreift er, als er eine leere Straße voller Papier, Dosen und Zigarettenkippen erblickt. Einfach weiterzugehen, erscheint ihm dumm. Er dreht sich um. Von dort, wo er steht, sieht er, wie immer mehr Polizeihelme sich unter die Masse mischen. Wie auch sonst im Leben führt auch ein anderer Weg zum Spielwarengeschäft. Bender geht die Straße weiter, in Richtung Norden. Ein paar Straßen weiter sieht es aus, als wäre gar nichts passiert. Er geht weiter nach Osten und durch die Fußgängerzone zu einem kleinen Platz. Dann noch ein paar Meter nach Süden. Während er sich dem Spielwarengeschäft nähert, scheint ihm, als würden die Mütter mit den Kinderwägen ihm wohlwollende Blicke oder ein Lächeln schenken. Vielleicht sieht er aus wie ein Mann, der soeben aus einer Schlacht kommt. Er stellt sich vor den Eingang des Spielwarengeschäfts und wartet, dass die Tür aufgeht. Die Tür geht nicht auf. Bender kommt näher, aber das ändert nichts. Die Tür ist noch immer zu. Bender nähert sich weiter, und erst als er das gedämpfte Licht im leeren Geschäft sieht, versteht er, dass es geschlossen ist. Er bückt sich. Er hält sich die Hände über die Augen und schaut hinein. Das, was er für lebende Menschen gehalten hat, sind Puppen, die Mütter und Kinder darstellen. Väter gibt es keine. Außer einen. Einen lebenden. Während ein pickliger junger Mann in einer Wächteruniform aus dem Inneren des Geschäfts auf ihn zugeht, steckt Bender die Hände in die Hosentaschen und begreift, dass er eine Bewegung gemacht hat, die der junge Mann als bedrohlich aufgefasst haben könnte. Bender lässt die Hände in den Hosentaschen, obwohl jemand denken könnte, dass er eine Bombe festhält oder eine andere Bedrohung parat hat, die den idyllischen Ort des Glücks in einen Ort der gesellschaftlichen Frage nach Schuld und Verantwortung verwandeln könnte. Darauf hat er keine Lust. Er hat ganz andere Gründe, vor der Glastür des geschlossenen Spielwarengeschäfts zu stehen. Er spürt, dass sein Rücken taub wird. Er hebt einen Arm und hält sich die Nase an die Achsel. Der junge Mann nähert sich der Tür und zeigt durchs Glas künstliche Zähne, die einen Satz kauen. Bender versteht nicht, was der junge Mann versucht, ihm zu sagen, also nähert er sich der Tür und gibt dem jungen Mann mit dem Kopf ein Zeichen, er solle das, was er gesagt hat, wiederholen. Der junge Mann wiederholt seine Grimasse, aus der Bender die Silben GE-SCHLOS-SEN herausliest. Bender richtet seinen Blick auf die Schulter des jungen Mannes. Eine angenähte Epaulette mit einem Adlerkopf. Selbst wenn Bender es sich vorgenommen hätte, diese Situation ist viel zu sinnlos, um es mit Ehrlichkeit zu versuchen. Er müsste durch die Glasscheibe erklären, dass er eine Kriegerpuppe sucht, auf die er draufgetreten ist und deren Hand er gebrochen hat. Er sagt nichts. Er starrt nur ins Gesicht des jungen Mannes, das sich in das Gesicht eines Buben verwandelt hat. Das Bubengesicht schaut ihn noch einige Momente erschrocken an, dann entspannt es sich, nimmt eine Habt-Acht-Stellung ein und setzt wieder eine Grimasse auf. Der Bub bewegt seine Lippen WIR-HA-BEN-ZU-WE-GEN-DER-DE-MON-STRA-TIO-NEN, dann zuckt er mit den Schultern, dreht sich um und geht wieder zurück zu den schlafenden Puppen, wobei er sich mit der rechten Hand die Unterhose aus der Arschspalte zieht. Während der Bub-Wächter in der Dunkelheit des Spielwarengeschäfts verschwindet, gibt die zu kurze Hose den Blick auf dessen Elefantenbeine frei. Bender entfernt sich vom Eingang und geht die Straße hinunter. Als er um die Ecke biegt, gerät er in die zerschlagene Kolonne, die er schon ganz vergessen hatte. Als wäre das alles vor dreißig Jahren passiert, und nicht vor fünfzehn Minuten. Um sich nicht wieder reinziehen zu lassen, nimmt Bender den Eingang zur U-Bahn und steigt humpelnd auf die Rolltreppe, die ihn in den Untergrund bringt. Am Bahnsteig sieht er eine große chinesische Familie, die von einem Ausflug zurückkommt. Der Schmerz im Fuß zwingt Bender, sich auf den Blechstuhl unter einem körnigen Plakat zu setzen. Er hebt seinen Fuß, löst die Schuhbänder am Turnschuh, zieht langsam seinen Fuß heraus und sieht einen Blutfleck auf der weißen Socke. Er zieht die Socke aus und bewegt die Zehen. Er spürt nichts. Dann berührt er die Wunde mit den Fingern und glaubt, das Geschrei jener, die sich noch immer der Polizei widersetzen, zu hören. Bender horcht. Die Stimmen der Demonstranten werden übertönt von einem U-Bahn-Zug, der mit großer Geschwindigkeit in die Station einfährt.