Читать книгу Wunder wird es hier keine geben - Goran Fercec - Страница 6

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Bender denkt, er könnte alles, was passieren wird, auch falsch verstehen. Dann klingelt es. Bender macht ein paar Schritte, geht zur Tür und öffnet sie. Vor der Tür sieht er niemanden. Er steckt den Kopf durch die Tür und sucht mit Blicken den Flur ab. Die Lifttür schließt lautlos. Jemand ist in den Lift gestiegen. Bender macht einen Schritt aus der Wohnung. Der Mechanismus von Gewichten und Hebeln zieht einen Unbekannten hinunter. Bender spürt das Unbehagen einer Situation, in der die Positionen noch nicht klar definiert sind. Er bleibt vor der offenen Wohnungstür stehen und horcht auf Schritte, Stimmen und Geräusche, in denen er ein Zeichen zu finden hofft, dass all das hier auch ohne ihn so passieren würde. Er kann kein Zeichen finden, das ihn davon überzeugen könnte. Alles Weitere hängt nur von seiner Entscheidung ab. Wenn er in die Wohnung zurückgeht und die Tür hinter sich zumacht, wird der verfallene Flur, in dem der Stuck bröckelt, wieder leer und frei von Zeugen sein. Statt in die Wohnung zurückzukehren und die Situation zu beenden, schiebt Bender mit dem Fuß ein farbiges Flugblatt beiseite und rennt die Treppe hinunter, wobei er immer wieder mehrere Stufen überspringt. Mit der linken Hand hält er sich am Geländer fest, während er mit dem rechten Arm sein Gleichgewicht aufrechthält. Seine Absicht ist es, schneller als der Lift zu sein. Obwohl die Vertikale dafür sorgt, dass der Lift einen kürzeren Weg hat als der Mensch, ist Bender überzeugt, dass er noch vor dem Lift im Erdgeschoß ankommen wird. Bis zum dritten Stock sind es sieben Treppenläufe. Als er unten im Erdgeschoß ankommt, hat er das Gefühl, es waren weniger. Der Lift hält. Bender atmet ein. Die Spannung, in die er seinen eigenen Körper gebracht hat, erreicht einen Höhepunkt, als die Lifttür aufgeht und sich herausstellt, dass da niemand ist. Bender schaut auf sein Spiegelbild im Lift und springt hinein, eine Sekunde bevor die Tür wieder zugeht. Er drückt auf Nummer drei. Als sich die Lifttür wieder öffnet, befindet sich Bender in der Position, von der aus er gestartet ist. Er steigt aus dem Lift und steht vor seiner offenen Wohnungstür. Er könnte schwören, er hat die Tür zugemacht, bevor er sich auf die Jagd nach dem Unbekannten begeben hat. Er ertastet seinen Schlüssel in der Hosentasche. Mit der Hand stößt er die Tür weiter auf und betritt seine Wohnung. Alles sieht genauso aus wie vor ein paar Minuten. Zuerst schaut er hinter die Tür, in der Hoffnung, dass die Gefahr schon dort auf ihn warten wird. Hinter der Tür ist niemand. Er geht weiter durch die Wohnung wie durch eine soeben entdeckte Kolonie, die vom weißen Mann bedroht ist. Er überprüft jedes einzelne Zimmer, und bevor er beschließt, das Spiel zu beenden, ruft er mehrmals HALLO. Das Ausbleiben einer Antwort ermutigt ihn. Er geht zur Eingangstür und schließt sie, zieht sich die Schuhe aus und geht barfuß weiter. Seine Fußsohlen hinterlassen feuchte Flecken auf dem Boden und begleiten ihn bis in die Küche. Bender setzt sich an den Tisch. Die Küche ist voll von diffusen Stimmen, die durch das offene Fenster hereinkommen. Die Geräuschkulisse breitet sich in Wellen aus und trägt all das weg, was er bis jetzt für eine nicht zu hinterfragende Wahrheit gehalten hat. Aus der Küche ins Vorzimmer, aus dem Vorzimmer ins Zimmer, aus dem Zimmer wieder ins Vorzimmer, Wellen von Kinderstimmen, Hundegebell, Stimmen aus dem Radio, weinende Frauen, Geschirr, Schritte. Erneut hört er Schritte vor der Tür. Diesmal wartet er nicht, bis die Türglocke ihm wieder eine Überraschung bereitet, sondern steht auf und geht zur Wohnungstür. Von all dem, was fortgeschwemmt wurde, sind nur noch die Schritte im Stiegenhaus übriggeblieben. Diese Hartnäckigkeit bringt Bender zu der Überzeugung, dass es dieselben Schritte wie vorhin sein müssen, nur dass er sie zuvor nicht erwartet hat, während er jetzt bereit ist, sich mit ihnen zu konfrontieren. Eine metallische Männerstimme ertönt aus dem Lautsprecher des Radios in der Wohnung über Bender, fällt durch das offene Küchenfenster herein und bestimmt die exakte Stunde, Minute und Sekunde. Die genaue Uhrzeit holt Bender im Vorzimmer ein und bringt seine Absicht, sich unauffällig zu verhalten, ins Wanken. Bender hält mitten in einer Bewegung inne und wartet, dass die Stimme im Radio verstummt. Die Stimme des Radiosprechers ist jedoch weiterhin zu hören, das macht Benders Entschluss zur Konfrontation zunichte, und schließlich verkündet die gleiche Stimme eine Direktübertragung. Nach der Pause, die nötig ist, um die Übertragung technisch zu bewerkstelligen, wird die ganze Wohnung von einem liturgischen Gesang überschwemmt. Das Gebet bricht sich an den Wänden der Kathedrale und schießt wie ein Schrapnell in die Wände der Wohnung. Bender fragt sich, ob das Gebet, das aus dem Radio dringt, einen Zustand des erhöhten Risikos anzeigt. Er hält inne und wartet ab, ob aus dem Lautsprecher eine Explosion ertönt, aber nichts passiert. Der liturgische Gesang setzt sich fort und lässt Benders Schritte feierlich aussehen. Durch den Türspion sieht er einen Mann, der dasitzt, mit dem Rücken gegen die Tür der Nachbarwohnung gelehnt, und eine Zigarette raucht. Auf der Türschwelle der Wohnung hat der Mann eine kleine Decke zusammengerollt und sich daraus einen Sitz gebastelt, daneben hat er einen Aschenbecher hingestellt. Bender hat diesen Mann noch nie an der Türschwelle sitzen und rauchen gesehen. Das sieht er zum ersten Mal. Das Haar des Mannes ist schwarz, seine Haut ist von einer bräunlichen Farbnuance, die man nur einer anderen Rasse zuordnen kann. Bender hat den Mann schon mehrmals im Treppenhaus und im Lift getroffen. Zuerst gingen sie wortlos aneinander vorbei. Später begannen sie, einander zu grüßen, und dann trafen sie sich längere Zeit nicht mehr. Bender war zu dem Schluss gelangt, dass der türkische Nachbar weggezogen war. Sollte er nun Bender doch wieder grüßen, müssten sie sich verschämt und stolpernd in einer Sprache unterhalten, die niemals die ihre sein würde. Nur im wiederholten Stolpern kann die Kommunikation einen Sinn erhalten. Man müsste wieder neu anfangen. Ihn wieder fragen, wie er heißt. Jede weitere Frage würde durch die vorige gerechtfertigt sein. Wer hat die Türklingel betätigt? Für diese Frage müsste man das Terrain vorbereiten. Der Mann bläst Rauch aus, den die Zugluft durch die Risse in Benders Tür in seine Wohnung hereinweht. Bender versucht, unbemerkt zu bleiben, aber er drückt unvorsichtig mit den Händen gegen die Tür. Das Schloss widersetzt sich Benders Gewicht und klickt. Bender spürt, er ist nun aufgeflogen. Der Türke hebt den Kopf und schaut zuerst auf Benders Wohnungstür, dann richtet er seinen Blick auf den Türspion. Bender denkt, eine so subtile Reaktion auf eine kaum merkliche Veränderung muss entweder mit dem Beruf eines Menschen oder mit seiner Volkszugehörigkeit zusammenhängen. Das Gesicht des Mannes ist dunkler, als Bender es in Erinnerung hatte. Das Haar über der Stirn ist schütter geworden. Der Mann atmet den Zigarettenrauch tief ein und in kurzen Stößen aus. Bender betrachtet ihn durch den Türspion und ist sich bewusst, dass der Türke das weiß. Der Türke, der an seine Position als Fremdkörper gewöhnt ist, gibt sein Einverständnis dazu, beobachtet zu werden. Bender hält seine Position des Unsichtbaren aufrecht, eingedenk der Tatsache, dass die geschlossene Tür ihn schützt. Der Türke steht auf, nähert sich Benders Tür und buchstabiert den Nachnamen auf dem Türschild. Bender sieht, wie die Lippen des Mannes sich bewegen und jeden einzelnen Laut formen. Der Türke legt den Kopf schief, als könnte ihm ein veränderter Blickwinkel aufzeigen, was der Name an der Tür bedeutet. Dann nähert er sich dem Guckloch noch mehr und schaut tief in Benders Iris hinein. Bender bleibt reglos stehen. Der Türke entfernt sich von der Tür und buchstabiert den Namen noch einmal. Eigentlich würde Bender am liebsten die Tür aufmachen und sagen, dass er das nicht ist, dass in seinem Fall der Name an der Tür nicht denjenigen bezeichnet, der mit einem Türschild üblicherweise bezeichnet wird. Wenn er könnte, würde er die Tür aufmachen und mit der Hand auf das Türschild mit dem Nachnamen zeigen und dann mehrmals sagen, er sei nicht derjenige. Das bin nicht ich. Der weiße Körper der Zigarette nähert sich seinem Ende, der Filter ist schon nah, es ist wenig Zeit geblieben. Einen Augenblick, bevor Bender endgültig beschließt, die Tür aufzumachen, lacht der Türke in seinen Bart hinein und drückt die zu Ende gebrannte Zigarette an dem Glas des Türspions aus. Diese unerwartete Geste lässt Bender in die Wirklichkeit zurückkehren, etwas, was ihm bis zu diesem Augenblick gefehlt hatte. Der Türke entfernt sich von der Tür und wirft die Kippe durch das offene Fenster. Bender glaubt zu hören, wie der Filter auf die Metalloberfläche des Vordachs fällt, abprallt und schließlich auf dem Asphaltboden des Innenhofs landet. Das, was soeben passiert ist, fasst Bender als Rache für etwas auf, das sie beide schon vergessen haben. Die Schultern des Türken entfernen sich aus dem Sichtfeld des Gucklochs und verschwinden hinter der Tür der Nachbarwohnung. Ruhe kehrt ein. Bender bleibt noch eine Zeitlang erwartungsvoll stehen, dann kommt ihm ein Gedanke, der ihn wie ein plötzlicher Schlag von der Tür wegstößt. Bender wiederholt den Gedanken. Er führt mehrere Variationen zu dem Thema aus, wobei er den Satz seinem Sinn anzupassen versucht, dann reißt sich die ganze Konstruktion von allen anderen Sätzen los und erklingt in ihrer Unausgesprochenheit wie eine Drohung. So soll man nicht denken. Bender richtet seine Gedanken auf etwas anderes. Er dreht den Schlüssel im Schloss um, bis die Tür versperrt ist, und diese Geste erscheint ihm komisch. Dann bringt er den Schlüssel wieder zurück in die Position, in der die Tür nicht versperrt ist, und entfernt sich, wobei er die Beschreibung dessen, was passiert ist, so wiederholt, als würde er etwas beschreiben, von dem er nicht ganz überzeugt ist oder für das er keine stichhaltigen Beweise liefern kann. Bender kehrt in die Küche zurück. In seinem Kopf stellt er eine Erklärung zusammen. In den letzten Tagen hat eine unbekannte Person gehäuft auf die Türklingel neben der Tür 3a gedrückt, wobei der Bewohner, wenn er die Tür aufmachte, niemanden vorfand. Obwohl der Bewohner selbst ein Migrant ist, schöpft er den Verdacht, dass Migrantenkinder sich einen Spaß mit ihm erlauben, aber für diesen Verdacht hat er keinerlei Beweise, also ist es unmöglich, den genannten Subjekten die volle Verantwortung zuzuschreiben. Die genannten Subjekte gehen den ganzen Tag lang die Straße auf und ab und suchen einen Platz, um Unfug zu treiben, oder aber sie sitzen auf der niedrigen Mauer, die den Park umgibt, und rauchen. Der Bewohner der Wohnung 3a schaut ihnen manchmal vom Fenster zu. Der Bewohner der Wohnung 3a beschreibt das besagte Klingeln an seiner Tür als eine Unannehmlichkeit, aber nicht mehr als das. Er fühlt sich weder unsicher, noch hat er das Gefühl, dass ihm irgendjemand vermitteln will, er sei nicht willkommen. Man hat ihm gesagt, hier sei Platz für jeden. In seinem Kopf setzt er eine völlig unleserliche Unterschrift unter das imaginäre Protokoll. Er spürt Übelkeit. Die Übelkeit ist die Folge seiner schlechten Angewohnheit, jeden Morgen eine große Menge Kaffee auf nüchternen Magen zu trinken. Alles, was er später in den Mund nimmt, führt dazu, dass das schwarze Loch mitten in seinem Magen nur größer wird. Das Loch ist größer als der Magen und droht, größer als der gesamte Körper zu werden. Er ist überzeugt, dieses Loch unter Kontrolle zu haben, obwohl das Loch so angeboren ist wie Augenfarbe oder Kahlköpfigkeit. Es gibt Methoden, um die Übelkeit erträglich zu machen. Manchmal hilft ein Glas Wasser, manchmal hilft gar nichts. Heute wird vermutlich nichts helfen. Er ist viel zu schnell die Treppe hinuntergelaufen. Häufig überschätzt er seine Möglichkeiten. Das liegt an der Resignation, die sich wiederum aus seinem Unterlegenheitsgefühl ableitet. Er wird seine Symptome ignorieren, um sich Spaghetti mit Sauce Bolognese zubereiten zu können. Der größte Topf ist für die Spaghetti, der etwas kleinere für die Sauce. Alles ist schon halb fertig. Jedes Mal, wenn er ein Glas mit der fertigen Sauce in die Hand nimmt, macht ihn die Größe der Packung wütend. In der Ökonomie des Handels existieren Alleinstehende nicht als Zielgruppe. Ihre Bedürfnisse werden in die Bedürfnisse von mindestens zwei oder höchstens vier Personen eingerechnet. Bender schließt daraus, dass die Gesellschaft zu langsam ist, öffnet das Glas und schüttet die Hälfte des Inhalts in den Metalltopf. Er wird nicht überleben, wenn er nicht lernt zu improvisieren. Die Improvisation dauert weniger als eine Viertelstunde. Die Zeit, die in die Zubereitung der Mahlzeit investiert wurde, ist nicht proportional zu dem, was serviert wird. Das Produkt ist immer besser als die Menge der investierten Zeit. Er setzt sich mit dem Rücken zum Fenster und beginnt zu essen. Außer dem, was auf seinem Teller ist, hat nichts einen eigenen Geruch. Obwohl Bender schon seit Jahren allein lebt, isst er nicht wie ein Schwein, er benützt noch immer Löffel, Gabel und Messer, noch immer isst er nicht vom Boden. Allerdings isst er manchmal gar nicht. Kaum hat er zu essen begonnen, hört er wieder Schritte im Stiegenhaus. Er beschließt, dass das Schritte sind, vor denen man am besten weglaufen sollte, fährt aber dennoch fort mit dem, was er gerade tut, schiebt sich das Essen in den Mund, kaut und schluckt. Er dreht den Kopf und horcht. Die Schritte verraten nichts über die Person, die die Treppen hinaufsteigt. Weder ihr Alter noch ihr Geschlecht, noch ihr Gewicht. Das Einzige, was die Schritte verraten, ist, dass derjenige, der hinaufsteigt, seine Schritte absichtlich verlangsamt, je näher er Benders Wohnungstür kommt. Das ruft Nervosität hervor. Bender schaut sich um. Seine Wohnung könnte einen nicht angekündigten Besucher empfangen. Die Putzfrau war erst gestern da. Die Farbeimer müsste man in den Keller bringen. Das Flügelgeflatter der Tauben, die sich auf dem Balkon paaren, übertönt die Schritte, aber als die Tauben sich wieder beruhigen, sind die Schritte nicht mehr zu hören. Bender fällt ein, dass er ja jederzeit so tun könnte, als wäre er nicht da. Den Atem anhalten und an der Stelle, wo der Parkettboden am wenigsten knarrt, stillhalten. Bender entspannt seinen Körper und entlässt die Luft aus der Lunge, aber er tut es zu früh. Der Angriff erfolgt aus beiden Richtungen gleichzeitig. Die Türklingel ertönt im selben Augenblick wie das Läuten des Telefons. Bender geht zur Tür und ignoriert das Läuten, aber dann dreht er doch um und geht zum Telefon. Er wischt sich mit der Hand über den Mund, bevor er den Hörer abhebt. Sein abgewischter Mund grüßt ins Leere. Auf der anderen Seite ist Stille. Bender fordert die Stille mehrmals heraus, bekommt jedoch keine Antwort. Er ist zu alt, um an einen Zufall zu glauben. Er legt den Hörer auf, die Schritte im Flur setzen sich wieder in Bewegung und steigen weiter hinauf, zu den höheren Stockwerken. Bender akzeptiert die Schritte wie ein unvermeidliches Echo eines Lebens, das sich parallel zu seinem abspielt, und kehrt in die Küche zurück.

Wunder wird es hier keine geben

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