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1.1 Einführung zum psychologischen Umgang mit Träumen

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Sehr tiefsinnig heißt es im Talmud: „Ein ungedeuteter Traum ist wie ein ungeöffneter Brief.“2 Greifen wir die Metapher vom „Brief“ auf, dann ergeben sich zwei Fragen: Wer schreibt diesen Brief? Und welchen Inhalt bringt er mir nahe? Auf dem Hintergrund des christlichen Glaubens umfasst die Antwort auf diese Fragen zwei Dimensionen, eine psychologische und eine theologisch-seelsorgliche Dimension. Ich spreche von Dimensionen, weil – wie später noch gezeigt wird – für den christlichen Glauben die Antworten auf die oben genannten Fragen zwar zu unterscheiden sind, trotzdem aber dicht nebeneinanderliegen und wechselseitig aufeinander bezogen sind. Es ist eben nicht so, dass dort, wo das Unbewusste im Spiel ist, Gott auszuklammern wäre. Umgekehrt wäre es auch nicht angemessen zu behaupten, dass dort, wo Gott als Autor des Briefes in den Blick kommt, das Unbewusste nichts mehr zu suchen hätte.

Betrachten wir hier zuerst die psychologische Dimension der Antwort auf die Frage nach dem Autor des Traumbriefes:

Der Psychologe oder Neurologe wird zur ersten Frage sagen: Der Schreiber dieses Briefes ist das Unbewusste. Denn die moderne Traumforschung ordnet die Entstehung der Träume dem sogenannten Unbewussten zu. Dieses umfasst, allgemein ausgedrückt, all das, was zu unserer Persönlichkeit gehört, ihr jedoch nicht oder noch nicht zugänglich ist. So regt der Traum unter psychologischem Gesichtspunkt das Selbstgespräch zwischen Bewusstem und Unbewusstem an. Das Unbewusste teilt sich dem bewussten Ich so mit, dass der wache Mensch seine Botschaft bewusst aufnehmen kann.

Das führt uns zur zweiten Frage nach dem Inhalt des Briefes, der im Traum geschrieben wird. Psychologisch betrachtet ist der Traum eine Sprache in Bildern. Der Traum enthält so etwas wie eine Botschaft, die wie ein Brief „gelesen“, also gehört, verstanden und aufgenommen werden will. In diesem Sinn sagt Ulrich Kühn sehr prägnant: „Für mich ist ein Traum:

a) eine Schöpfung des Unbewussten,

b) eine szenische Verdichtung von Sinneseindrücken und

c) eine Symbolisierung von Emotionen.“3

Diese These von Ulrich Kühn enthält verschiedene wichtige Aspekte zum Verständnis von Träumen:

Zum einen geht sie davon aus, dass das Unbewusste sich in den Traumbildern sehr kreativ äußert. Häufig sind die Traumbilder so gestaltet, dass vieles von dem, was in ihnen passiert, auch in der Alltagsrealität vorkommen könnte. Personen, Gegenstände und Handlungen könnten – mindestens zum Teil – tatsächlich auch so in der Alltagswelt vorkommen. Aber die Kreativität des Unbewussten zeigt sich darin, dass diese alltäglich bekannten Dinge in einer spezifischen Weise verarbeitet, umgestaltet und häufig in einen neuen Kontext gestellt werden. Während die Wirklichkeit ritualisiert und mehr oder weniger berechenbar ist, gilt dies für die Traumwelt nicht.

Zum andern sagt die These von Ulrich Kühn, dass im Traum Sinneseindrücke verarbeitet werden. Diese Eindrücke werden vom Unbewussten ausgesucht und szenisch verdichtet. Was wir sehen, hören, riechen, schmecken oder fühlen, kann im Traum aufgegriffen und verstärkt werden.

Schließlich bemerkt Ulrich Kühn in seiner These, dass Träume eine „Symbolisierung von Emotionen“ darstellen. Träume lassen sich als Gesichter unserer Gefühle und der mit ihnen verbundenen Kräfte verstehen. Sie sind Gefühle in (bewegten) Bildern. Von daher gilt: Begegnen wir unseren Träumen, so begegnen wir der Tiefe unseres Lebens, weil Gefühle Lebendigkeit und Tiefe in unser Leben bringen.

Träume sind ein Spiegelbild des Träumers; sie geben ihm ungeschminkt Einblick in sein Leben mit seinen häufig unverarbeiteten Erlebnissen. Sie geben Einblick in die Tiefenschichten unserer träumenden Persönlichkeit. Häufig führen sie vor Augen, was wir im Alltag vermeiden, was an konflikthaften Erlebnissen unverarbeitet geblieben ist oder wo wir einer einseitigen Lebensweise verfallen sind. Manchmal deuten sie auch zukünftige Lebensmöglichkeiten an, weisen auf ungenutzte Potenziale hin und unterstützen uns dabei, zu einem ganzheitlicheren Leben zu finden. Sie können mahnen oder warnen. So findet sich in Träumen beides: Auf der einen Seite Schreckliches und Gefahrvolles und auf der anderen Seite Schönes und Erfreuliches, was mit unseren Sehnsüchten und Wünschen zu tun haben kann. Sie können uns helfen, auf der psychologischen Ebene tiefer zu unserer Wahrheit zu finden und innerlich mehr ganz, mehr heil zu werden. So sind sie eine Art innerer Begleiter auf unserem Entwicklungsweg der Reifung.

Mit dem allem liefern Träume den Träumenden so etwas wie einen „Diskussionsbeitrag“4 des Unbewussten, der vom Bewusstsein aufgegriffen werden kann. Somit tragen sie zu einer vertieften Selbsterkenntnis bei, um möglicherweise unsere Lebensorientierung zu korrigieren. Das Spezielle dieses Diskussionsbeitrages besteht darin, dass er im Traum in einer Bildsprache präsentiert wird. Diese Bilder wollen verstanden werden. Und dazu bedarf es der Deutung. Die Frage der Traumdeutung ist entscheidend für die Frage danach, was Träume den Träumenden zu sagen haben.

Vor dem Hintergrund der soeben skizzierten psychologischen Zusammenhänge wird verständlich, warum Reinhold Ruthe und Lydia Ruthe-Preiss etwas überspitzt formulieren können: „Wer nicht träumt, lebt gefährlich.“5 Die Botschaft der Träume will im Leben der Träumenden aufgenommen und dadurch fruchtbar werden. Unter psychologischem Gesichtspunkt ist Ortrud Grön nur zuzustimmen, wenn sie sagt: „Träume können eindeutig sein oder so vielschichtig, dass sie kaum dechiffrierbar erscheinen. Nur eines sind sie nicht: bedeutungslos.“6 Und es wäre mehr als schade, wenn sie von den Träumenden ungehört und in ihrer wachstumsfördernden Dynamik ungenutzt blieben.

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