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2 Probleme der Klassik-Doktrin

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Die ­Goethezeit im kulturellen Gedächtnis

Wenn die Zeit von 1770 bis 1830, von der späten Aufklärung über den Sturm und Drang, die Klassik und die Romantik bis an die Schwelle zu Biedermeier und Vormärz hier als ein eigenes, besonderes Kapitel der Literaturgeschichte ins Auge gefaßt wird und wenn von ihr überdies als von der ­Goethezeit die Rede ist, so zeigt dies einmal mehr, daß die Wissenschaft bis heute kaum umhinkommt, der Tatsache Tribut zu zollen, daß diese Literatur und daß die Gestalt ­Goethes seit jeher als etwas Besonderes gelten; daß sie sich nämlich unter dem Vorzeichen des Klassischen in das kulturelle Gedächtnis eingegraben haben. Die ­Goethezeit – das soll die große „Blütezeit“, das „Goldene Zeitalter“ der deutschen Literatur, eben der klassische Höhepunkt ihrer Geschichte gewesen sein, und ­Goethe der klassischste unter den vielen klassischen Autoren jener Jahre, wenn nicht der deutsche Klassiker schlechthin.

Man mag das kritisieren; man mag es für problematisch, für ungerecht und unhistorisch halten, wenn eine bestimmte Epoche und ein einzelner Autor auf solche Weise aus der geschichtlichen Entwicklung heraus- und über anderes hinausgehoben werden, ja man mag darin geradezu ein Unheil erblicken – es ändert nichts an der Tatsache, daß sie lange Zeit so gesehen worden sind und daß sich ihr Bild in solcher Bedeutung im kulturellen Gedächtnis festgefressen hat. Wie fest, mag man etwa daraus ersehen, daß eine unbedeutende Kleinstadt wie Weimar 1999 aus Anlaß des 250. Geburtstags von ­Goethe zur Kulturhauptstadt Europas ausgerufen wurde, welche Mengen von öffentlichen Geldern damals nach Weimar flossen und welche Beachtung die Events des ­Goethe-Jahrs in den Medien und bei einem breiten Publikum fanden. Oder man erinnere sich an das gewaltige Echo, das der Brand der Anna-Amalia-Bibliothek zu Weimar, einer zentralen Stätte der Erinnerung an die „Weimarer Klassik“, 2004 in der Öffentlichkeit hatte. Oder man denke an die zahllosen ­Goethe-Straßen und ­Goethe-Plätze, die sich überall in Deutschland

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finden. Klassik-Mythos und ­Goethe-Kult sind nach wie vor feste Bestandteile der deutschen Kultur.

Sie sitzen tief, sie wirken bis heute, und so hat man sie zunächst einmal als Fakten der Kulturgeschichte und Faktoren des kulturellen Lebens zur Kenntnis zu nehmen – und zur Kenntnis nehmen heißt ja noch nicht gutheißen. Man hat sie zur Kenntnis zu nehmen als Teil der kulturellen Landschaft, in der man sich bewegt, so wie man die geographischen Gegebenheiten zur Kenntnis nehmen muß, wenn man sich nicht verlaufen will.

Der Klassik-Mythos als Problem der Literaturwissenschaft

Zumal die Literaturwissenschaft hat allen Grund, sich von dem besonderen Status der ­Goethezeit Rechenschaft zu geben. Denn der Klassik-Mythos hat mehr als 150 Jahre lang den Blick auf die Epoche bestimmt und unausgesetzt am Bild ihrer literarischen Hinterlassenschaft mit herummodelliert. Was von ihm aus an Vorstellungen kultiviert worden ist, hat sich wie ein Firnis über die literarischen Werke gelegt, ja ist dank einer kontinuierlichen Rezeption und Interpretation in seinem Sinne tief in die Texte selbst eingedrungen. Schon bevor der Leser ­Goethes „Faust“ zum ersten Mal aufschlägt, hat er Vorstellungen wie die im Kopf, daß es sich dabei um etwas besonders Bedeutendes handeln würde und daß es da um das „faustische Streben“ gehen werde, um etwas, das irgendwie typisch deutsch wäre; und wenn er sich dann an die Lektüre macht, wird er geneigt sein, derlei auch im Text wiederzufinden, wie immer er solche Vorstellungen bewerten mag, nachdem er sie sich bewußt gemacht und kritisch durchdacht hat.

Wer einen Zugang zur Literatur der ­Goethezeit finden, ihr gegenüber einen eigenen Standpunkt, eine eigene Sicht der Dinge entwickeln will, der kommt deshalb nicht umhin, mit ihr zugleich ihre Rezeptions- und Interpretationsgeschichte ins Auge fassen und sich Rechenschaft von dem Klassik-Mythos und den diversen Klassiker-Kulten, dem ­Goethe-, Schiller-, Novalis-, Hölderlin-, Kleist-Kult zu geben, sich eben mit all dem auseinanderzusetzen, was an Erinnerungskultur zwischen ihm und den Texten steht. Das gilt zumal für den, der einen wissenschaftlich vertretbaren Zugang sucht. Wenn auch in dieser Einführung der Begriff der ­Goethezeit und die Daten 1770 und 1830 als Epochengrenzen aufgegriffen werden, so sollen damit zunächst und vor allem die Voraussetzungen für eine solche

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kritische Auseinandersetzung mit der Rezeptionsgeschichte geschaffen werden.

So soll denn die Frage nach der Eigenart und den Grundlagen von Klassik-Mythos und Klassiker-Kult hier am Anfang stehen, als eine Art methodisches Sich-die-Augen-Reiben, das einen freieren Blick auf die Epoche und ihre Texte ermöglichen soll, einen Blick, der nicht immer schon mit dem ideologischen Beiwerk verklebt wäre, das ihnen im kulturellen Gedächtnis anhaftet. Wie ein Restaurator den ­Firnis von alten Gemälden entfernt, um die ursprüngliche Farbgebung wieder sichtbar zu machen, soll die Rezeptions- und Auslegungsgeschichte der ­Goethezeit von dem getrennt und abgehoben werden, was in ihren Texten niedergelegt ist. Das bedeutet freilich, daß diese Einführung gleich mit einem nicht ganz einfachen Kapitel beginnt. Denn methodische Fragen, Fragen des Zugangs zum Gegenstand, der angemessenen Zugangsweise sind nun einmal besonders anspruchsvoll und aufwendig. Doch nur wer es mit ihnen aufnimmt, vermag in eine Auseinandersetzung einzutreten, die allenfalls wissenschaftlich heißen kann.

Geschichte der deutschen Literatur. Band 3

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