Читать книгу Arabidopsis – ein Leben ist nicht genug - Gottfried Zurbrügg - Страница 10

4. KAPITEL

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Scherrer wohnte in einer der Villen in der Turmstraße in Karlsruhe-Durlach. Von der Straße aus sah man das Haus nicht, sondern nur den großen Garten, besonders im Sommer, wenn die Ligusterhecke hochgewachsen war. Aber von seinem Arbeitsraum hatte man einen wunderbaren Blick über Durlach bis in die Rheinebene. Als Scherrer an diesem Tag nach Hause kam, sah er, dass seine Frau zu Hause war. Er war ganz erleichtert. Auf Dagmar konnte er sich verlassen. Als junger Mann hatte er um sie geworben. Selber noch Doktorand am Botanischen Institut warb er um die reiche Tochter des bekannten Fabrikanten. Sie hatten sich im Botanischen Garten kennengelernt. Als er seinen Doktor mit summa cum laude erworben hatte, war er der willkommene Schwiegersohn. Dagmar hatte dann später die Firma ihres Vaters übernommen, nachdem der alte Herr nach kurzer Krankheit gestorben war. So hatte jeder seinen Bereich. Man lebte zusammen, aber doch ging jeder seine eigenen Wege. Dagmar hatte ihm durch ihre Beziehungen die Wege geebnet, die er brauchte, um den Direktorposten des Institutes in Tübingen zu bekommen. Aber seine Forschungen blieben seine ganz eigene Welt. Nie betrat sie die Labore, nie fragte sie nach seiner Arbeit, und nur ganz selten rief sie einmal im Institut an. So war es auch in Karlsruhe geblieben.

Dagmar erwartete ihn im Wohnzimmer. Scherrer begrüßte sie mit einem Kuss auf die Stirn, wie er es immer tat.

„Du bist heute früh da“, sagte Dagmar lächelnd und sah ihn mit ihren blauen Augen liebevoll an.

„Ich hatte einfach Freude daran, nach Hause zu kommen“, sagte Scherrer.

„Schade“, sagte Dagmar, „dass ich ausgerechnet jetzt noch einmal fortmuss. Wir haben eine Delegation bei uns. Da wird erwartet, dass man für die abendliche Unterhaltung sorgt. Wie wäre es, wenn du mitkämst?“

Scherrer sah seine Frau an. Sie war eine Frau, mit der man Karriere machen konnte, und sah immer noch gut aus. Ihre blonden Haare waren nicht mehr so strahlend wie früher, und der Farbe hatte sie ein wenig nachgeholfen, aber sie hatte die gleiche schlanke Figur wie damals, als sie sich kennenlernten.

„Leider kommt noch meine Assistentin“, sagte Scherrer und lächelte bedauernd. „Sie hat ein interessantes Thema für ihre Doktorarbeit gefunden. Es geht um Todesgene.“

„Todesgene?“, fragte Dagmar, als habe sie etwas Unangenehmes angefasst. „Was ihr alles fertigbringt! Du kommst also nicht mit?“

„Leider geht es nicht“, sagte Scherrer und versuchte so auszusehen, als täte es ihm leid.

„Dann ist es ja auch nicht schlimm, wenn es heute Abend sehr spät werden sollte“, sagte Dagmar und beobachtete ihn dabei genau.

Scherrer ließ sich seine Erleichterung nicht anmerken.

Anne klemmte die Mappe mit ihren Unterlagen unwillkürlich fester unter den Arm. Hier in der Turmstraße wohnte der Professor also. Was würde sie erwarten? Es war sicher kein Zufall, dass er sie zu sich nach Hause bestellt hatte. Ein gutes Essen? Leise Musik? Abgedunkelte Beleuchtung? Diskrete Hausangestellte? Nach dem, was man sich in Tübingen erzählt hatte, musste er ein Meister der Verführung sein. Nein, das wollte sie auf keinen Fall!

Als sie das Gartentor öffnete, holte sie tief Luft und schritt zügig den Weg zum Haus hoch. Das Haus lag am Hang mit einem schönen Blick auf Karlsruhe. Vom großen Fenster aus konnte man sicher auch die Universität sehen. Stand da nicht ein Schatten am Fenster? Beobachtete Scherrer sie? Anne hütete sich, genauer hinzusehen, um ihm nicht zu viel Aufmerksamkeit zu schenken.

Auf dem Gartenweg kam ihr eine junge Frau entgegen. Sittsam gekleidet in schwarzem Kleid und mit einer Rüsche im dunklen Haar. Das Hausmädchen, dachte Anne. Die Zeiten haben sich nicht geändert.

„Sie sind Frau Neidhardt?“, fragte das Mädchen. „Darf ich Sie hineinführen? Der Professor erwartet Sie bereits.“

Anne folgte dem Mädchen zum Eingang. Eine schwarze Katzengöttin schien sie anzulächeln. Irritiert schaute Anne genauer hin. Es war wohl nur das Licht, das den Gesichtszügen der Statue aus schwarzem Granit Leben eingehaucht hatte.

Das Mädchen öffnete die schwere Tür und ließ sie ein. Dunkel, aber nicht unfreundlich wirkte der Flur. In gedämpfter Beleuchtung standen ägyptische Statuen rechts und links vom dicken, roten Teppich. Lautlos kam ihr Scherrer entgegen. Er hatte den dunklen Anzug, den er stets im Institut trug, gegen einen leichten, hellen getauscht und ging federnd über den weichen Teppich. Wie ein Tiger, der zum Sprung bereit ist, dachte Anne. Sie sah zu ihm auf und streckte ihm die Hand entgegen.

„Ich hoffe, ich bin pünktlich“, sagte sie lächelnd.

„Aber natürlich“, sagte Scherrer und nahm ihre Hand mit kräftigem, aber nicht zu festem Händedruck. „Ich habe Sie schon erwartet, weil ich mich auf das interessante Gespräch mit Ihnen freue. Darf ich Sie in mein Arbeitszimmer führen?“

Galant nahm er ihren Arm und führte sie in einen großen Raum im Erdgeschoss. Man kann durch das Fenster bis zum Institut sehen, dachte Anne. Vielleicht hat er danach geschaut und gar nicht nach mir. Scherrer sah ihren Blick und sagte: „So vergesse ich meine eigentliche Aufgabe auch nicht, wenn ich zu Hause bin.“

Anne lächelte höflich und sah sich rasch im Raum um. Die Einrichtung war elegant, aber nicht protzig. Ledersessel luden zum Verweilen ein, eine Bücherwand bis an die Decke war gut gefüllt mit kostbaren Folianten, indirekte Beleuchtung gab dem Raum ein angenehmes, unaufdringliches Licht. In einer Ecke lag ein aufgeschlagenes Buch unter einer kunstvollen Stehlampe. „Dort ist mein Lieblingsplatz“, sagte Scherrer. Er beobachtet mich ganz genau, dachte Anne.

„Bitte setzen Sie sich doch“, sagte Scherrer und bot ihr einen Platz auf der breiten Ledercouch an. Anne setzte sich und legte ihre Mappe auf den Marmortisch vor sich. Wie selbstverständlich nahm Scherrer ihre Unterlagen und legte sie zur Seite. „Darf ich Ihnen einen Sherry zum Empfang anbieten?“, fragte er. Anne nickte. „Unsere Köchin hat einen kleinen Imbiss für uns gerichtet. Das ist Ihnen doch recht?“, fragte er weiter, ohne eine andere Antwort als eine Bestätigung zu erwarten.

Anne zögerte einen Augenblick, bis sie mit einem strahlenden Lächeln nickte. Natürlich, genau das hatte sie erwartet. Aber sie würde mit der Situation schon fertig werden.

„Ich hoffe, unser Treffen kommt Ihnen nicht ungelegen?“, fragte Scherrer.

„Wenn es Ihnen keine Umstände macht“, sagte Anne leise.

Scherrer lachte markig. „Nein, so haben wir mehr Zeit!“ Er ging zu einer ägyptischen Büste und öffnete den Königskopf. „Amenophis der Dritte“, sagte er dabei. „Ein englischer Sammler hat eine Bar aus dem Kopf gemacht. Eigentlich ein Verbrechen.“

Sie ist so ganz anders als im Institut, dachte er und sah aus den Augenwinkeln zu ihr hinüber. Dass mir das nicht eher aufgefallen ist. Sie ist hübsch und charmant. Die weißen Kittel im Labor verdecken die Persönlichkeit. Ein Hauch von Wehmut kam auf. So war es eben. Wissenschaft und Leben, wie schwer ließ sich das vereinbaren! Lächelnd entnahm er der Bar eine Flasche Sherry und zwei Gläser und kehrte zurück. Gekonnt schenkte er ein und setzte sich neben sie. Dann hob er sein Glas und sah ihr tief in die Augen. „Auf eine erfolgreiche Zusammenarbeit!“

Anne hob ihr Glas. Scherrers Blick ging ihr durch und durch. Irritiert nippte sie am Sherry.

„Trinken Sie ruhig. Es ist bester, alter Sherry aus Irland. Ein Freund lässt mir regelmäßig Sendungen zukommen, die ich nur zu ganz besonderen Anlässen anbiete“, sagte Scherrer.

Anne überhörte geflissentlich die Schmeichelei. „Ihre ägyptischen Sammlungen sind wunderschön“, sagte sie. „Draußen habe ich die Katzengöttin bewundert. Ich habe eine solche Statue auf Abbildungen gesehen. Ich glaube, sie kommt aus Kom Ombo.“

„Oh“, sagte Scherrer, „Sie kennen sich in Ägypten aus?“

„Nein, ich bin noch nie dort gewesen, aber ich bewundere das große Wissen und die Kunst der Ägypter. Die Steinmetze verstehen es, die Dinge so natürlich wiederzugeben, als würden sie leben.“

„Wie schön Sie das sagen: Natürlich! So sehe ich das auch. Meterhohe Statuen, große Schriftzeichen in riesigen Säulen und doch trifft das Wort natürlich zu.“

„Waren Sie schon oft in Ägypten?“, fragte Anne. „Wie gern würde ich das Land einmal kennenlernen, das solche Statuen wie die Katzengöttin am Eingang hervorgebracht hat. Komisch, als ich vorhin an ihr vorbeiging, meinte ich einen Augenblick lang, sie schaue mich an.“

„So“, sagte Scherrer, plötzlich seltsam abwesend, „ich kenne das Gefühl. Eigenartig, in der letzten Zeit ist das schon öfter geschehen. Die Figuren haben mich ein Leben lang begleitet, aber nun scheinen sie mir etwas sagen zu wollen. Mit meinem Freund Nubi, einem ägyptischen Geschäftsmann, habe ich viele Ausgrabungen unternommen und einige Gegenstände mitnehmen dürfen. Sie scheinen für diese Kunst empfänglich zu sein.“ Als habe er gemerkt, dass er einen Augenblick geistig abwesend gewesen war, fügte er hinzu: „Entschuldigen Sie, ich war unaufmerksam. Möchten Sie noch von dem Sherry?“

Er lächelte sie an und war wieder ganz der Professor. Will er mich betrunken machen?, dachte Anne ein bisschen enttäuscht. Sie schüttelte den Kopf und ihre braunen Locken fielen ihr ins Gesicht. „Vielleicht später.“

Scherrer sah ihr junges Gesicht und ihre vollen Lippen und ein unbändiges Verlangen stieg in ihm auf, diese Lippen zu küssen. „Dann darf ich Ihnen meine größte Kostbarkeit zeigen?“, fragte er und erhob sich.

Neugierig stand auch Anne auf. In dem Augenblick klopfte es an der Tür. „Herein“, rief Scherrer ungehalten. Das Hausmädchen erschien mit einem silbernen Tablett, auf dem Teller mit duftenden Pastetchen standen.

„Ist es jetzt recht?“, fragte sie, als sie die Teller auf den Tisch stellte. „Sie haben es so bestellt.“

„Ist gut“, sagte Scherrer, „vielen Dank, Irmgard.“ Er wartete, bis Anne sich wieder gesetzt hatte. Die Zeit ist schlecht gewählt, ärgerte er sich, während er aus dem Königskopf eine Flasche Wein holte. Aber er fing sich rasch, entkorkte die Flasche und sagte: „Ein zarter Rosé-Wein von den Tübinger Hängen. Ich hoffe, Sie mögen so etwas.“

Anne nickte überrascht und ließ ihn einschenken. Scherrer hob das Glas, um mit ihr anzustoßen, da begann er zu husten. Er versuchte noch, sein Glas auf den Tisch zu stellen, doch der Husten ließ es nicht mehr zu. Schnell nahm Anne ihm das Glas ab, aber Wein tropfte auf den Tisch. Scherrer nickte dankend und bemühte sich, Luft zu bekommen. „Bitte!“, keuchte er und deutete auf den Tisch mit der Leselampe. Anne sah eine kleine Spraydose, sprang auf und holte sie. Scherrer rang um Luft, nahm das Spray und sprühte es in den Rachen. Das Medikament entfaltete rasch seine Wirkung und Scherrer konnte nach und nach wieder ruhiger atmen. „Entschuldigen Sie“, sagte er immer noch atemlos, „es ist mir furchtbar peinlich, aber der Husten lässt mich einfach nicht mehr los.“

„Waren Sie schon beim Arzt?“, fragte Anne besorgt.

„Mein Hausarzt hat mir das Spray gegeben“, antwortete Scherrer, der sich sichtlich besser fühlte, „damit bekomme ich so einen Anfall gut unter Kontrolle.“

Was man sieht, dachte Anne. Männer! Bestimmt war er nicht beim Arzt. Aber das war nicht ihr Problem.

Scherrer griff hinter die Lehne des Sofas und läutete. Sofort erschien das Hausmädchen. „Irmgard, würden Sie bitte den Tisch abwischen?“, sagte Scherrer und zu Anne: „Aber setzen Sie sich doch. Der kleine Zwischenfall sollte uns den Abend nicht verderben.“

Irmgard nahm die Teller zur Seite, wischte mit einem Tuch den Tisch ab und stellte die Teller wieder hin. Dann verließ sie diskret den Raum. Anne setzte sich vorsichtig und Scherrer wartete, bis sie die Gabel nahm, um die Pastetchen zu probieren.

„Es gibt wenige Frauen, die ägyptische Kunst wirklich verstehen“, sagte Scherrer. „Auch wenige Männer“, fügte er lächelnd hinzu. „Sehen Sie“, dabei zeigte er auf seine große Bücherwand, „die Hälfte meiner Literatur beschäftigt sich mit Gentechnik und die andere Hälfte mit Kunst, Mystik, Philosophie und eben auch Ägypten. Eigentlich zwei widersprüchliche Fachgebiete, und doch habe ich das Gefühl, sie würden zusammengehören.“

Anne probierte die Pastetchen. Sie waren ausgezeichnet.

„Viele meiner Kollegen sind der Meinung“, fuhr Scherrer fort, „dass moderne Gentechnik und Ägypten überhaupt nicht zusammenpassen würden, und belächeln mein Hobby. Aber ich glaube, dass die alten Ägypter wesentlich mehr wussten oder ahnten, als wir bisher entschlüsselt haben.“

„Das denke ich auch“, bestätigte Anne und nahm einen Schluck Wein. „Ich bewundere den Papyrus über Ihrem Schreibtisch im Büro. Die Szenen sind so lebendig, als wären sie erlebt und nicht erdacht.“

„Dann freue ich mich darauf, Ihnen meine größte Kostbarkeit zu zeigen“, sagte Scherrer begeistert. „Aber erst wollen wir essen.“ Er selber griff herzhaft zu und genoss die Pasteten.

Nach dem Essen griff er hinter die Lehne und läutete. Geduldig wartete er, bis Irmgard abgeräumt hatte und Gebäck auftrug. Sie stellte neue Weingläser hin. Scherer stand auf und entnahm dem König eine neue Flasche. Als Irmgard gegangen war, sagte er: „Kommen Sie. Ich bin neugierig, was Sie dazu sagen.“

Anne stand auf und sah verstohlen auf die Uhr. Fast zwei Stunden war sie schon in der Wohnung und es versprach, eine lange Nacht zu werden. Scherrer stellte die Weinflasche auf den Tisch und ging in eine Ecke des Raumes, die geheimnisvoll im Dunkeln lag. Neugierig folgte ihm Anne. Er beugte sich zu einem Gegenstand hinunter, der auf dem Boden lag. Der Husten begann wieder. Eine Mahnung daran, dass Krankheit und Tod immer nahe sind, dachte er. Hoffnung liegt nur in der Unsterblichkeit. Ob sie das verstehen wird?

Vorsichtig hob er den Sarkophag und hielt ihn ins Licht. Erschrocken zuckte Anne zurück, als ihr ein ägyptischer König in die Augen sah. Augen und Mund wirkten so lebendig, als wolle er im nächsten Augenblick etwas sagen.

„Habe ich Sie erschreckt?“, fragte Scherrer amüsiert. „Das wollte ich nicht. Es ist ein Sarkophag, der für ein Königsgrab gedacht war. Er wurde nie benutzt, deshalb durfte ich ihn auch mitnehmen. Zeigen möchte ich Ihnen aber das hier. Kommen Sie bitte.“

Anne trat näher, ihr Gesicht war jetzt ganz nah neben dem seinen. Sie spürte den feinen Duft seines Rasierwassers. Er war ganz auf die Schriftzeichen konzentriert.

„Können Sie es sehen?“, flüsterte er, als verrate er ein großes Geheimnis.

Anne schaute genau hin. „Es sind Abbildungen aus dem Totenbuch“, antwortete sie.

„Genau“, bestätigte Scherrer, dicht neben ihr. Gleich wird er mich küssen, dachte Anne, aber Scherrer war ganz in die Bilder und Zeichen vertieft. „Es ist mehr“, flüsterte er. „Ich glaube, in diesen Symbolen ist das Geheimnis des Todes verborgen. Wenn wir sie erst einmal lesen können, sind wir dem größten Geheimnis der Menschheit einen Schritt näher. Als ich diesen Sarkophag aus Ägypten mitnehmen wollte, ist mir etwas Eigenartiges passiert.“

Scherrer schwieg. Seine Gedanken waren wieder bei jenem seltsamen Tag in Luxor.

Der Zoll war die eigentliche Klippe, nicht die Wüste. Das wurde ihm klar, als ihn die Sprechanlage ausrief. „Dr. Scherrer zum Zoll, Dr. Scherrer aus Tübingen zum Zoll!“

Verhaftung?, dachte Scherrer und sah sich um. Die Reisenden warteten auf ihre Abfertigung, als sei das nichts Besonderes. Noch blinkten nicht die Lichter, die das Einchecken anzeigten. Niemand beachtete ihn. Nebeneinander standen oder saßen Menschen aus allen Nationen, aber sie nahmen keine Notiz voneinander. Suche ich etwa Hilfe?, dachte Scherrer. Suche ich ein Gesicht, an dem ich mich festhalten kann?

„Sind Sie Dr. Scherrer aus Tübingen?“, fragte eine junge Stimme hinter ihm. Erstaunt drehte sich Scherrer um. Da stand eine schlanke, junge Frau in blauer Dienstuniform. Irgendetwas irritierte ihn. Vielleicht der mandelförmige Augenschnitt, das breite Gesicht oder dass sie die Haare unter einem Kopftuch verborgen trug und nicht das blaue Schiffchen im Haar hatte wie ihre Kolleginnen. „Ich bringe Sie zum Zoll“, sagte sie. „Es gibt Schwierigkeiten.“

„Kennen wir uns?“, fragte Scherrer. Sie lächelte höflich über die plumpe Anmache. „Ich meine das nicht so“, stotterte Scherrer und ärgerte sich über sich selbst. „Ihr Gesicht.“

„Was ist damit?“ Jetzt sah ihn die junge Frau erstaunt an. „Es kommt mir so bekannt vor, als hätte ich Sie schon einmal gesehen“, antwortete Scherrer. „So ein Gesicht vergisst man nicht.“

„Soll das ein Kompliment sein?“, fragte die junge Frau und fuhr leise fort: „Man wird auf uns aufmerksam. Ich will Ihnen helfen. Stellen Sie keine weiteren Fragen. Überlassen Sie alles mir. Jetzt folgen Sie ganz unauffällig.“

Sie wandte sich ab und ging mit raschen Schritten durch die Halle voraus. Viele Blicke folgten ihr. Scherrer sah sich um und beeilte sich, ihr zu folgen. Kein Aufsehen, dachte er, aber das ist doch Hathor, die Göttin! Das flache Gesicht mit den mandelförmigen Augen. Das kann nicht sein! Trägt sie ein Kopftuch, damit man ihre Ohren nicht sieht? Ich war zu lange in Ägypten und seine Götter verfolgen mich nun.

Als habe sie seine Gedanken erraten, drehte sich die junge Frau um. „Wir haben gemeinsame Interessen. Das haben Sie gespürt und deshalb glauben Sie, mich zu kennen“, sagte sie. „Gehen Sie neben mir, dann fallen Sie weniger auf.“

Scherrer hielt sie am Arm zurück. „Was sind das für gemeinsame Interessen, die Sie da ansprechen? Was geht hier vor?“

Die junge Frau sah mit einem spöttischen Blick auf Scherrers Hand. Sofort ließ er den Arm los. „Vertrauen Sie mir einfach“, sagte sie. „Sie haben sich darauf eingelassen, wenn Sie verstehen, was ich meine. Sie haben diesen Weg begonnen. Verlässt Sie schon jetzt der Mut?“

„Welchen Weg meinen Sie?“, fragte Scherrer.

„Ihre Suche nach der Unsterblichkeit“, antwortete die Frau lächelnd. „War nicht das der Grund, weshalb Sie ins Tal der Könige fuhren? Soll ich weitersprechen oder vertrauen Sie mir?“

„Sind Sie Hathor, die Göttin?“, fragte Scherrer.

Sie lachte ihn an. „Sie träumen, junger Mann. Aber welche Frau kann widerstehen, wenn sie für eine Göttin gehalten wird. Können wir weitergehen?“

Scherrer nickte verstört. „Entschuldigen Sie“, sagte er, „meine Nerven … dieses Land …“

„Ist voller Geheimnisse“, ergänzte die junge Frau. „In jedem Tourismusführer können Sie das nachlesen. Wundern Sie sich nicht. Vertrauen Sie mir einfach!“ Sie wandte sich ab und ging mit schnellen Schritten zum Zoll.

Selten habe ich mich so blamiert, dachte Scherrer. Was ist los? Warum bringe ich Vergangenheit und Gegenwart durcheinander? Aber sie hat die gleiche Figur und die gleiche Art zu gehen wie auf den Bildern an den Tempeln.

Der Zoll brachte ihn rasch in die Gegenwart zurück. Natürlich hatte man den Sarkophag beschlagnahmt und war gerade dabei, die Hüllen zu entfernen. Die junge Frau redete energisch auf die Zollbeamten ein, aber die ließen sich nicht beeindrucken.

„Sie müssen selber sagen, wer Sie sind und was Sie wollen“, sagte sie zu Scherrer.

„Ich bin ein Wissenschaftler aus Deutschland“, stellte sich Scherrer vor. „Dr. Dr. Scherrer, Botanisches Institut der Universität Tübingen.“

„Ein Botaniker?“, fragte der Zollbeamte, ein streng aussehender Mann im mittleren Alter mit einem gewaltigen Schnurrbart. „Wieso versuchen Sie einen Sarkophag außer Landes zu schmuggeln? Sie wissen doch, dass jegliche Ausfuhr von Altertümern verboten ist!“

„Das ist kein altertümlicher Sarkophag, sondern eine Nachbildung“, erklärte Scherrer. „Warten Sie. Ich habe die notwendigen Papiere bei mir.“ Er nahm aus der Brusttasche seines Maßanzuges einige Dokumente heraus. „Bitte sehr!“

Der Beamte studierte sie sorgfältig. „Wenn alles stimmt, müsste hier ein Firmenstempel sein“, sagte er und deutete auf eine Stelle an dem langen fest eingeschnürten Paket. „Öffnet bitte sorgfältig an genau dieser Stelle!“, wies er seinen Mitarbeiter an und sah triumphierend zu Scherrer hinüber. Natürlich werden sie nichts finden, dachte Scherrer und wandte sich ab. Da traf sein Blick den Blick der jungen Frau. Siegesgewiss lächelte sie ihm zu. Sie ist nicht von dieser Welt, dachte Scherrer. Ich kenne sie.

„Es ist alles in Ordnung“, sagte der Zollbeamte. „Wir haben das Siegel gefunden. Entschuldigen Sie!“

Scherrer sah sich um. Mit einer Verbeugung gab ihm der Beamte die Papiere zurück. Die anderen waren eifrig dabei, die Verpackung wieder sorgfältig zu verschließen.

„Wir können gar nicht genau genug kontrollieren“, sagte der Beamte entschuldigend.

„Wo ist die junge Frau?“, fragte Scherrer. „Die Frau, die eben mit mir sprach?“

„Hier ist niemand gewesen“, sagte der Beamte. „Sie kamen allein.“

„Aber Sie haben doch …“, setzte Scherrer an.

„Ist alles in Ordnung?“, fragte der Beamte.

„Ja“, sagte Scherrer, „Ägypten ist ein geheimnisvolles Land.“

„So ist es“, bestätigte der Beamte.

Scherrer sah noch zu, wie sie den Sarkophag auf das Gepäckband legten, und beeilte sich, zu seinem Gate zu kommen.

„Professor Scherrer?“, fragte Anne verwundert.

Scherrer zuckte zusammen und legte den Sarkophag ins Dunkel zurück. „Meine Gedanken waren ganz woanders“, entschuldigte er sich. „Das habe ich bemerkt“, sagte Anne. „Sie haben auf den Sarkophag gestarrt und den Namen Hathor geflüstert. Das ist doch die ägyptische Göttin mit den Mandelaugen, oder?“

„Sie kennen sich aber gut aus“, lobte Scherrer. „Als ich damals den Sarkophag durch den Zoll am Flughafen in Luxor bringen wollte, gab es dort eine Beamtin, die aussah wie Hathor selbst. Sie hat mir geholfen, die antike Kostbarkeit durch den Zoll zu bekommen. Sie wissen doch, dass die Ausfuhr von Altertümern streng verboten ist. Als ich dann endlich im Flugzeug saß, hatte ich das Gefühl, eine der Stewardessen sähe ihr auch sehr ähnlich. Sie sprachen vorhin die Katzengöttin an. Die Plastiken sind so lebendig, dass sich die Grenzen zwischen der Zeit der alten Ägypter und unserer Zeit verwischen. Es muss Verbindungen geben zwischen dem Wissen der Ägypter um Unsterblichkeit und Tod und der modernen Wissenschaft.“

„Zum Beispiel die Todesgene“, meinte Anne. Als habe das Wort die geheimnisvolle Stimmung zerrissen, trat Scherrer vom Sarkophag zurück und bat Anne zum Sofa. „Habe ich etwas Falsches gesagt?“, fragte Anne.

„Nein“, antwortete Scherrer, „Sie haben mich in die Gegenwart zurückgeholt.“ Wie recht sie hat, schoss es ihm durch den Kopf. Ich rede von Hoffnungen und Träumen, dabei bin ich Wissenschaftler, und wir haben Möglichkeiten, solche Übereinstimmungen zu prüfen.

Anne ging zu ihrem Platz zurück und nahm die Unterlagen zu sich. Scherrer nahm es amüsiert zur Kenntnis. „Sie haben eine wunderbare Überleitung zu Ihrem Thema gefunden“, sagte er lächelnd. „Geht es bei Ihrer Arbeit auch um das Geheimnis des Todes?“

Anne wartete, bis er sich gesetzt hatte. Das erneute Glas Wein lehnte sie dankend ab. „So kann man es ausdrücken“, begann sie. „Dr. Meyer und ich haben vor einigen Tagen die Arabidopsispflanze geholt.“

„Ihre Pflanze“, lachte Scherrer.

„Sie starb plötzlich ab“, fuhr Anne fort.

„Aber das ist doch normal“, sagte Scherrer, „jede Pflanze tut das. Es gibt kein ewiges Leben.“

„Vielleicht doch“, wandte Anne ein. „Ich kam auf die Idee, dass ein besonderes Todesgen das Absterben bedingen muss, eine Art innere Uhr, die das Sterben zu einem festgesetzten Zeitpunkt einleitet, bei Arabidopsis nach 90 Tagen direkt nach der Fruchtreife.“

Vielleicht doch? Wie ein Bote aus einer anderen Welt hat sie das gesagt, dachte Scherrer. „Und diese Uhr müsste man anhalten können, meinen Sie?“, fragte er mit belegter Stimme.

„Vielleicht“, antwortete Anne, „aber ich habe etwas anderes im Blick.“ Gespannt sah Scherrer sie an. „Man müsste solche Gene übertragen können. Man müsste die innere Uhr von Arabidopsis in eine andere Pflanze, etwa Baumwolle, einpflanzen.“

Scherrer pfiff durch die Zähne. „Die Baumwolle würde dann nach 90 Tagen absterben, meinen Sie? Das könnte aber zu früh sein.“

„Oder nach der Reife der meisten Kapseln. Vielleicht könnte man auch ein aggressives Todesgen mit einem einfachen Starter aktivieren. Dann wären die chemischen Entlaubungsgifte unnötig.“

Scherrer dachte kurz nach. „Aber verdient die chemische Industrie nicht gerade damit Millionen?“

„Zum Schaden der Menschen, des Bodens, der Umwelt und der Kinder, welche die Kleidung tragen müssen“, warf Anne engagiert ein.

„Man könnte eine Baumwolle mit idealer Lebensdauer entwickeln. Dazu könnte man statt der Entlaubungsgifte den passenden Starter für ein mögliches Todesgen patentieren lassen. Sie haben da eine gute Idee. Wie wollen Sie vorgehen?“, fragte Scherrer.

„Ich möchte zunächst selber verstehen, was in der Zelle abläuft. Ist es tatsächlich ein Todesgen, das dort arbeitet, dann könnte man in Tübingen das Gen vermehren und es später eventuell einmal auf eine andere Pflanze übertragen. Das Verfahren ist nicht neu, aber aufwendig. Die Züchtung der neuen Baumwollsorten könnte hier in unseren Gewächshäusern stattfinden.“

„Könnte man die innere Uhr auch anhalten?“, fragte Scherrer. „Was meinen Sie? Welche Konsequenzen hätte das auf einen Organismus?“ Er blickte durch Anne hindurch, als sähe er einen Schatten an der Wand.

Anne erschrak. Ihr war, als spüre sie einen kalten Hauch. „Es ist schon spät“, sagte Anne, „ich möchte gehen. Wäre das Thema für eine Doktorarbeit angemessen?“

„Man müsste die Uhr anhalten können“, flüsterte Scherrer ganz abwesend. Dann musste er husten und ganz in Gedanken sprühte er sich das Medikament in den Rachen. Er schien sie gar nicht mehr wahrzunehmen. Ein unheimliches Gefühl ergriff Anne und sie stand auf. „Entschuldigen Sie“, bat Scherrer, wieder so ganz der galante Professor, und erhob sich ebenfalls. „Sie haben so interessante Gedanken vorgestellt, dass ich mich ablenken ließ. Morgen können wir im Institut weiter darüber sprechen.“

Mit raschem Griff läutete er nach Irmgard. Sie erschien sofort.

„Frau Neidhardt möchte gehen“, sagte er. „Hatten Sie einen Mantel oder eine Jacke bei sich?“

Anne schüttelte den Kopf. Sie fror, denn Scherrer war immer noch ganz in Gedanken. „Bis morgen“, verabschiedete sie sich und reichte ihm die Hand. Sein Händedruck war schlaff und abwesend.

Sie folgte Irmgard durch das Haus. Als sie an der Katzengöttin vorbeiging, war ihr, als sei das Lächeln auf dem steinernen Gesicht tiefer geworden. Auf dem Weg durch den Garten drehte sie sich noch einmal um. Der Mond schien für einen Augenblick durch die Wolken und sein Licht fiel auf Scherrer, der am Fenster stand. Gespenstisch wirkte sein Umriss im Mondlicht. Er hob grüßend die Hand und Anne lief eilig fort.

Scherrer saß noch länger in seinem Arbeitsraum und dachte an früher. Wie einfach war es doch damals gewesen. Viele Studentinnen und Doktorandinnen hatten ihn besucht und manche von ihnen waren die ganze Nacht geblieben. In seine Erinnerungen mischte sich das Bild einer jungen Frau, die ihm seit einiger Zeit häufiger im Park begegnete. Er sah ihre schlanke Figur vor sich, ihre wiegenden Hüften und wie ihr langes Haar bei jedem Schritt ihre Schultern berührte. War es Zufall, dass sie ihm jetzt so oft im Park begegnete?

Arabidopsis – ein Leben ist nicht genug

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