Читать книгу Arabidopsis – ein Leben ist nicht genug - Gottfried Zurbrügg - Страница 12
6. KAPITEL
ОглавлениеSybille Walter ließ nicht locker. Eines Tages betrat sie das Botanische Institut voller Herzklopfen. Anneliese Ehlert, die Sekretärin, saß im Empfang und schaute kurz auf, als Sybille Walter hereinkam. Sie sah gleich, dass sie eine Journalistin vor sich hatte.
„Sie wünschen?“
„Ich bin Journalistin bei der Welt der Wissenschaften“, stellte sich Sybille Walter vor und nannte ihren Namen. „Ich möchte einen Artikel über Herrn Professor Scherrer schreiben. Er ist weltbekannt und arbeitet jetzt in Karlsruhe. Unsere Leser interessiert, ob er weitere neue Forschungen plant. Ein Genetiker, der sich um einen Botanischen Garten bemüht, das klingt nach einer spannenden Geschichte.“
Anneliese war von der jungen Frau recht angetan. Ihr gefiel die frische Art, mit der Sybille gleich auf das Thema zu sprechen kam. „Sie möchten einen Termin bei Professor Scherrer? Das wird nicht einfach sein. Sie wissen, er ist ein Emeriti und entsprechend zurückhaltend.“
„Können Sie mir weiterhelfen?“, fragte Sybille. „Hier im Institut wird doch sicher auch an Arabidopsis geforscht.“
Überrascht schaute Anneliese Sybille an. War bereits etwas durchgedrungen?
Sybille sah ihr Erstaunen und freute sich, dass sie recht behalten sollte. Hier ging es um mehr als nur den Botanischen Garten.
„Wie kommen Sie darauf?“, fragte Anneliese.
„Internet“, antwortete Sybille. „Sie wissen doch, dass heutzutage kaum etwas geheim bleiben kann.“
„Dann wissen Sie es ja bereits“, bestätigte Anneliese. „Wir haben hier im Botanischen Institut den Auftrag, uns um den Botanischen Garten zu kümmern. Aber unsere Doktorandin, Frau Neidhardt …“
„Die junge Frau mit dem braunen Wuschelkopf?“, fragte Sybille.
„Sie kennen sie?“
„Aus der Straßenbahn. Man begegnet sich ja fast jeden Morgen“, beschwichtigte Sybille.
„Ja, die hat eine interessante Pflanze beim Umweltzentrum gefunden.“
„Jetzt sagen Sie nur, Arabidopsis?“, meinte Sybille.
„Ach, das wissen Sie auch schon?“, fragte Anneliese enttäuscht.
„Das ist die Pflanze, mit der alle Genetiker in der Botanik arbeiten“, sagte Sybille.
„Unser Doktor Meyer hat ihr die Pflanze gezeigt“, erzählte Anneliese, die sich freute, einmal etwas berichten zu können. „Eigentlich würden wir mehr Personal brauchen. Frau Neidhardt und Dr. Meyer arbeiten an den Geräten. Scherrer kümmerte sich um die Pflanzen und die Protokollierung der Vorgänge. Ich muss auch die Pflänzchen gießen, kontrollieren, hegen und pflegen, denn alles, was nur irgend geeignet war, wurde zum Brutschrank und zum Pflanzenschrank. Unser Botanisches Institut wurde in den letzten Wochen wieder ganz zum Forschungslabor. Meinetwegen könnte es so weitergehen. Den Professor habe ich selten so eifrig bei der Arbeit gesehen.“
„Ich glaube nicht, dass Sie darüber sprechen sollten“, unterbrach jemand den Redefluss mit schneidender Stimme. „Was hier im Institut geschieht, geht niemanden etwas an. Professor Scherrer arbeitet nur in eigener Sache. Wer sind Sie?“
Sybille drehte sich überrascht um. Vor ihr stand ein junger Mann mit eindeutig arabischen Gesichtszügen. Seine dunkle Haut verriet den Ägypter. Sybille ließ sich weder von den dunklen, strengen Augen noch von dem harschen Tonfall aus der Ruhe bringen. Sie fuhr mit der Hand durch ihr blondes Haar und freute sich, als sie sah, dass der junge Mann ihre Geste sehr wohl verstand. „Ich bin Sybille Walter von der Welt der Wissenschaften. Meine Zeitschrift berichtet auch über die Universität und die Institute hier in Karlsruhe. Wir haben mit Interesse wahrgenommen, dass hier ein berühmter Genetiker im Botanischen Institut arbeitet. Wundert es Sie wirklich, dass wir da Fragen haben?“ Sie sah ihn sehr selbstbewusst an und lächelte.
Dr. Meyer lenkte höflich ein. „Sie sollten sich einen Termin geben lassen, statt unsere geschätzte Sekretärin auszufragen“, sagte er und wandte sich an Anneliese.
„Hat Professor Scherrer in der nächsten Zeit einen Termin für ein Gespräch frei?“
Anneliese schüttelte den Kopf. „Leider nein. Ich wies Frau Walter schon darauf hin, dass Professor Scherrer Emeriti ist und ausschließlich private Forschungen betreibt.“
Dr. Meyer lächelte zufrieden. „Sie sehen, Sie sind umsonst gekommen“, sagte er. „Da wir aber das Interesse der Öffentlichkeit an unserem Institut zu schätzen wissen, wird sich Professor Scherrer voraussichtlich bei Ihnen melden.“ Damit wandte er sich ab und ging.
„Gehen Sie bitte auch“, bat Anneliese. „Mit unserem Doktor ist nicht zu spaßen.“
„Nur noch eine Frage. Wer ist das?“, bat Sybille.
„Dr. Meyer, ein bekannter Genetiker aus Ägypten“, flüsterte Anneliese.
Nachdenklich verließ Sybille das Institut. Viel Arbeit, zu wenig Personal und ein bekannter Genetiker aus Ägypten? Da bahnte sich doch eine interessante Geschichte an.
An ihrem Schreibtisch forschte sie im Computer nach einem Dr. Meyer, der in Karlsruhe arbeiten sollte. Sie fand viele Wissenschaftler mit diesem Namen und Titel, aber Dr. Meyer vom Botanischen Institut fand sie nicht.
Professor Scherrer selber ergriff die Initiative und ging einen Schritt weiter.
Bei jedem Hustenanfall schwang in Scherrers Gedanken die Ahnung einer schweren Krankheit mit. Er fühlte es und hoffte gleichzeitig, dass alles nur eine Erkältung sei. Seine schlanken Hände wählten die Telefonnummer seines besten Freundes Robert Neumann. Jahrelang hatten sie sich nicht gesehen, aber er kannte noch immer die Nummer der kleinen Praxis in Remchingen auswendig. Robert hatte seine Praxis nie erweitert, er war keiner von den Großen geworden. „Mir reicht das, was ich habe und was ich tun kann“, hatte er bei ihrem letzten Treffen gesagt, als Scherrer die Pläne für den Bau des genetischen Institutes auf der Morgenstelle in Tübingen in Angriff nahm. „Ich möchte wirklich etwas bewegen“, hatte er selbst damals gesagt. Jetzt hatte das alles einen bitteren Beigeschmack bekommen. Er hatte wirklich viel erreicht, aber die Uhr war trotz allem unerbittlich weitergelaufen.
„Praxis Dr. Neumann“, meldete sich eine junge Stimme.
„Hier Scherrer! Ist Dr. Neumann zu erreichen? Ich bin sein Schulfreund.“
„Ich stelle durch!“
Scherrer hörte eine ungläubige Stimme, die nachfragte, ob wirklich sein Schulfreund Professor Scherrer angerufen habe. Das war Roberts Stimme. „Ja, Dr. Neumann.“
„Robert?“
Für einen Augenblick war es still in der Leitung, dann kam die vorsichtige Rückfrage: „Edwin?“
„Ja, Robert, ich bin es.“
„Wir haben uns eine Ewigkeit nicht gesprochen.“
„Sprich das Wort Ewigkeit nicht aus, Robert. Ich brauche deine Hilfe.“
„So schlimm?“
„Ich glaube ja. Vor Wochen hat mich ein leichter Husten erwischt, aber er hörte nicht auf. Jetzt kann ich kaum mehr durchatmen und muss bei jeder kleinen Aufregung bis zum Erbrechen husten“, schilderte Scherrer seine Beschwerden. „Bei jedem Hustenanfall bekomme ich Angst, Todesangst, verstehst du?“ Er wunderte sich selber, wie leicht ihm die Worte über die Lippen kamen, obwohl er immer wieder unterbrechen musste, um sich zu räuspern.
Als er endete, war es still am Telefon.
„Robert?“
„Du musst herkommen, oder noch besser, du meldest dich gleich in einer Spezialklinik zum Röntgen an. So kann ich nichts sagen.“
„Robert! Es geht um etwas anderes.“
„Um was?“
„Ich“, Scherrer stockte. „Ich möchte noch ein Mal so richtig leben und brauche ein Medikament, was heute Nacht den Husten unterdrückt, dann gehe ich in die Klinik. Noch ein Mal, verstehst du, Robert?“
„Ich verstehe, ich kenne dich ja!“ Ein leises Lachen war am anderen Ende des Telefons zu hören. „Du sollst haben, was du brauchst. Kannst du einen Boten vorbeischicken? Aber morgen musst du dich tatsächlich in Behandlung begeben! Alles hat einmal ein Ende.“
„Alles?“
„Fast alles, unsere Freundschaft nicht.“
Bevor Scherrer „Danke“ sagen konnte, war aufgelegt.
Der Professor bat seine Sekretärin, einen Tisch im Schlossgartenrestaurant zu bestellen, rief selber bei der Welt der Wissenschaften an und ließ zu Sybille durchstellen.
„Frau Walter? Hier Scherrer, Professor Scherrer. Sie waren gestern in unserem Institut und haben Sich für unsere Arbeit interessiert. Ja, Frau Ehlert, meine Sekretärin, hat mich informiert. Ich glaube, wir kennen uns aus dem Fasanengarten? Ist das richtig? Dann würde ich Sie für heute Abend in das Schlossrestaurant einladen. Man spricht doch viel besser bei einem Glas Wein als in einem kalten Institut, meinen Sie nicht? Passt Ihnen heute Abend 18.00 Uhr? Seien Sie pünktlich!“