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2. KAPITEL

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Die Arbeit im Institut war einfach. Meist ging es darum, Pläne für den Botanischen Garten zu entwerfen. Scherrer hatte immer neue Wünsche. Am liebsten wollte er die ganze Welt auf engstem Raum zeigen. Da er sehr viel und weit gereist war, kannte er die Vegetation vieler Länder und bestand auf möglichst originalgetreuen Nachbildungen der Landschaften. Außerdem verfolgte Scherrer weiterhin mit großem Interesse die Forschungen in der Morgenstelle Tübingen, als sei er immer noch der Chef des Genetischen Institutes.

In der Mittagszeit pflegte er durch den Fasanengarten zu spazieren und hatte es sehr gern, wenn sich Anne Neidhardt, seine Doktorandin, die Zeit nahm, mit ihm die alten Bäume zu bewundern.

Anne erledigte alle Arbeiten zu seiner Zufriedenheit, aber sie merkte, dass sie in ihren eigenen Forschungen nicht recht weiterkam. Sie sah, wie man sich in Tübingen bemühte, neue Pflanzensorten zu züchten, aber sie erkannte auch, dass alle Institute an den gleichen Pflanzen forschten. Immer kamen neue Tomaten – oder Maissorten auf den Markt, aber an die wichtigen Pflanzen zur Versorgung der Menschheit wie Baumwolle oder Weizen wagte sich kaum jemand heran. In welche Richtung wollte sie ihre eigenen Forschungen ausrichten?

„Warten Sie ab! Sobald wie möglich werde ich Ihnen ermöglichen zu reisen und Sie werden die Welt sehen. Dann werden Sie helfen, den Hunger in der Welt zu besiegen. Noch arbeiten wir an einem Botanischen Garten, aber so lernen Sie die Pflanzen kennen, die in aller Welt wachsen, und dann werden Sie auch Ihr spezielles Forschungsbiet finden. Ich bin sicher, Sie werden das schaffen“, tröstete Scherrer Anne Neidhardt auf den gemeinsamen Spaziergängen.

„Natürlich möchte ich das gern“, antwortete Anne, „aber ich bin an dieses Botanische Institut gefesselt, das zwar sehr interessant ist und mir doch nicht das ermöglicht, was ich eigentlich möchte.“

Auf ihren Spaziergängen begegneten sie oft einer jungen Frau, die mit einer Aktentasche unter dem Arm immer eilig zum Schloss lief. Sie trug auffallend hohe Absätze und einen kurzen Rock, der ihre langen Beine zur Geltung brachte. Die langen blonden Haare fielen über ihre schönen Schultern. Zuerst eilte sie nur vorbei und Professor Scherrer sah ihr nach. Aber als sie ihr öfter begegneten, spürte Anne Neidhardt, dass das wohl kein Zufall war. Sie sah auch, dass Professor Scherrer von dem Anblick der jungen Frau sehr angetan war. Was will sie wohl?, fragte sich Anne. Aber dann waren ihre Gedanken wieder ganz bei ihrer Arbeit.

Dr. Meyer bemerkte, wie sehr Anne hin- und hergerissen war, und half ihr auf seine sonderbare Art.

„Frau Neidhardt“, begrüßte er sie eines Morgens vor dem Institut. „Bevor Sie an Ihre Arbeit gehen, möchte ich Ihnen eine kleine Pflanze zeigen. Professor Scherrer weiß Bescheid. Wenn Sie möchten, dann kommen Sie mit zum Forschungszentrum für Umwelt. Es ist nicht weit. Wir müssen nur den Adenauer Ring hinuntergehen.“

„Ich weiß“, sagte Anne ungehalten. „Aber die Arbeit wartet. Gerade heute habe ich mir so viel vorgenommen.“

„Wir können leider nicht mehr warten“, sagte Meyer und sah sie eindringlich mit seinen schwarzen Augen an. „Die Pflanze stirbt ab, und dann kann ich Sie Ihnen nicht mehr zeigen.“

„Ich bringe eben meinen Rucksack hinein“, sagte Anne, nun doch interessiert, „dann komme ich mit Ihnen. Ich bin gespannt, was Sie für mich entdeckt haben.“

Sie mochte Dr. Meyer nicht, denn er schien ihr nicht ehrlich. Natürlich setzte er sich für den Botanischen Garten ein wie kein Zweiter und seine globalen Pflanzenkenntnisse waren wirklich ungewöhnlich. Besonders die Vegetation Nordafrikas beherrschte er wie niemand sonst. Das brachte ihm auch bei der Universitätsleitung manches Lob ein, aber er schien auch andere Ziele zu verfolgen, über die er nie sprach.

Nachdenklich öffnete sie die blaue Tür zum Institut, bewunderte wie fast jeden Morgen kurz die feine Stuckarbeit an der Backsteinfassade, sprang schnell die Stufen zum ersten Stock hoch, lief den langen Gang entlang bis zu ihrem Zimmer und war kurz darauf zurück. „Ich bin wieder da“, sagte sie, ein wenig außer Atem und schüttelte ihren braunen Wuschelkopf.

„Dann können wir losgehen.“

Dr. Meyer schritt kräftig aus und Anne hatte Mühe mitzukommen. Zwar machte ihr Joggen nichts aus, aber Meyer hatte einen ungewöhnlichen Rhythmus und sie hatte Schwierigkeiten, sich seinem Schritt anzupassen.

Am Botanischen Garten hielt Meyer an und zeigte auf die Gewächshäuser. „Die Scheiben sind trüb geworden. Es wird schwer sein, die Gewächshäuser wieder in Ordnung zu bekommen. Die langen Baumaßnahmen schaden den Pflanzen. Wir werden auch da weiterhin investieren müssen, aber das wissen Sie ja aus den vielen Anträgen, die ich stelle. Wir brauchen einen Sponsor, eine Firma, die unsere kleinen Forschungsarbeiten so unterstützt, dass wir die großen Aufgaben bewältigen können.“

„In der Führung eines Botanischen Gartens sehen Sie eine große Aufgabe?“, fragte Anne erstaunt. „Sie wissen doch auch, dass die systematische Botanik aus dem Blickzentrum der Forschung herausgefallen ist. Alle Forscher beschäftigen sich nur noch mit Genen.“

„Es ist nicht gut, dem allgemeinen Strom nachzuschwimmen“, sagte Meyer. „Wenn man wirklich bahnbrechende Erkenntnisse finden möchte, muss man ungewöhnliche Wege gehen.“

„Sie denken an Heinrich Hertz, der hier in Karlsruhe gearbeitet hat, und seine Entdeckung der elektromagnetischen Wellen?“

„Wie kommen Sie gerade darauf?“, fragte Meyer. „Ja, zum Beispiel an ihn. Niemand hielt elektromagnetische Wellen für möglich und heute arbeitet alle Welt mit seiner Entdeckung.“

„Gehen wir also auch ungewöhnliche Wege“, sagte Anne und lächelte. „Also, was wollten Sie mir zeigen?“

„Kommen Sie“, sagte Meyer. „Wir haben es nicht mehr weit.“

Bald hatten sie den Eingang zum Umweltzentrum erreicht.

„Wir gehen unter dem gelben Verbindungsbau hindurch“, schlug Meyer vor. „Dort ist die Wiese, die ich Ihnen zeigen möchte.“

Anne schaute bewundernd in die Runde. „Der Innenhof ist aber schön gestaltet“, meinte sie. „Ein runder Pavillon mit einer Pflanzenkrone zum Treffen in der Mittagspause ist doch etwas Schönes. Wenn es wirklich warm wird, dann ist dieser Platz sicher gut besucht.“

Meyer sah zum Himmel, wo graue Wolken entlangzogen. „Das späte Frühjahr hilft uns“, sagte er. „Sonst wäre die Pflanze, die ich Ihnen zeigen möchte, sicher schon verblüht.“

Anne folgte ihm neugierig. Sie gingen unter dem Verbindungsbau hindurch und standen dann an einer Wiese voller Habichtskräuter.

„Sehen Sie“, sagte Meyer, „die Wiese kann man kaum noch erkennen. Die Beschattung durch die hohen Bäume bringt für die Habichtskräuter den größten Vorteil. Die Wiese ist einschürig, das heißt, sie wird nur einmal im Jahr gemäht. Es ist ein seltener Magerrasen, denn natürlich wird sie nicht gedüngt. Aber nun kommen Sie. Die Pflanze, die ich Ihnen zeigen möchte, ist sehr klein.“

Er wandte sich nach Anne um. Sie war an einer der vierkantigen Säulen stehen geblieben, die überall in der Wiese standen. Auf den Säulen lagen Nachbildungen menschlicher Gehirne aus Stein. „Das sieht komisch aus“, meinte Anne. „So viele Gehirne und alle denken isoliert für sich allein. Es wirkt irgendwie unheimlich.“

„Das Gehirn ist nach der altägyptischen Vorstellung nicht das Wichtigste im menschlichen Körper“, sagte Meyer nachdenklich und zog die schwarzen Augenbrauen zusammen.

„‚Denklandschaft‘ hat der Künstler sein Kunstwerk genannt“, las Anne auf einem Schild vor.

„Wenn es danach ginge, müssten hier Herzen auf den Säulen liegen“, sagte Meyer, „denn nach der altägyptischen Heilkunst ist ja das Herz das Zentrum des Denkens und Fühlens und das Gehirn dient nur zu Kühlung des Blutes.“

Er schaute zu ihr hinüber, als erwarte er ein abschätziges Lächeln, aber Anne sagte ganz ruhig: „Dr. Meyer, wenn man mit Professor Scherrer zusammenarbeitet, dann lernt man auch die altägyptische Kultur kennen. Sie wissen doch um seine Vorliebe.“

„Lassen Sie die Gehirne ruhig weiterdenken“, sagte Meyer und schaute forschend zu Boden. „Hier ist Ihre Pflanze!“

Anne ging zu ihm und sah erstaunt auf eine kleine Pflanze, die deutlich zurückgesetzt hatte. Zwischen braunen Blättern ragte eine kleine Ähre nach oben, die Schötchen trug. Zwischen all den Habichtskräutern war sie kaum zu sehen.

„Das ist Ihre Pflanze“, sagte Meyer.

„Meine Pflanze?“, wunderte sich Anne. „Warum ist das meine Pflanze?“

„Vom Gefühl her weiß ich, dass diese Pflanze für Sie eine ganz besondere Bedeutung hat. Gestern war sie noch ganz grün und begann zu fruchten. Schade, dass sie heute abgestorben ist.“

„Vom Gefühl her“, lachte Anne, „und das sagen Sie hier zwischen all den Gehirnen.“

„Das Gehirn ist nicht das Wichtigste, sagten Sie selbst“, antwortete Meyer lächelnd. „Kennen Sie die Pflanze?“

„Sie kennen sie nicht?“, fragte Anne erstaunt.

„Doch“, sagte Meyer. „Ich kenne sie schon seit langer Zeit und habe sie überall gesucht. Mein Gefühl sagt mir, dass ich sie jetzt endlich gefunden habe.“

„Dann nehmen wir den Schatz mit“, schlug Anne vor. „Es ist Arabidopsis, die Ackerschmalwand. Sie hat größte Bedeutung für die Wissenschaft bekommen. Alle botanisch genetischen Institute arbeiten mit ihr, weil sie ein einfaches Genom hat und sich so gut verändern lässt.“

„Ich weiß“, sagte Meyer. „Aber dieses Exemplar hat für Sie eine ganz besondere Bedeutung. Nehmen Sie die Pflanze mit.“

„Soll ich sie herausziehen?“, fragte Anne. Sie bückte sich und zog das Pflänzchen aus dem Boden. Braun und welk lagen die Blätter in ihrer Hand und unscheinbar war auch die kleine Ähre mit den noch nicht ganz reifen Schoten.

„Sie ist abgestorben“, sagte Meyer.

„Aber Dr. Meyer, Sie sind ja richtig traurig“, wunderte sich Anne.

„So viele Jahre habe ich diese Pflanze gesucht“, sagte Meyer. „Nun ist sie an dem Tag verwelkt, an dem ich sie in Ihre Hände geben wollte.“

„Arabidopsis hat einen ganz festen Lebensrhythmus“, sagte Anne. „Das weiß ich von meinen Forschungen in Tübingen. Bei Scherrer musste man seine Diplomarbeit über Tomaten oder über Arabidopsis schreiben. Wir haben intensiv an der kleinen Pflanze geforscht. Angelika Richter und ich, wir hatten ein eigenes Labor. Es war eine schöne Zeit. Ich werde die Pflanze untersuchen und dann werden wir herausfinden, warum sie für mich so eine Bedeutung haben soll.“ Sie sah auf. Dr. Meyer strahlte sie an, wie Sie ihn noch nie hatten lächeln sehen. Ein bisschen verwundert sagte sie: „Jetzt müssen wir aber zum Institut zurück. Professor Scherrer wird uns schon vermissen.“

Anne nahm die Arabidopsis mit in ihr Labor und legte die welken Blätter unter das Mikroskop. Die Zellen in den Blättern waren fast alle abgestorben, nur wenige waren grün geblieben und schienen noch zu leben. Die haben den Befehl des Todes nicht bekommen, dachte Anne und sah vom Mikroskop auf. Sie hatte das Gefühl, nicht allein im Labor zu sein. Es war, als hätte ihr jemand dieses Wort vom Befehl des Todes zugeflüstert. Ja, sie kannte die Apoptose, den Zelltod, den eigenartigen Befehl, der von Zelle zu Zelle weitergegeben wurde und zum Absterben ganzer Gewebe führte.

Nachdenklich schaute sie aus dem Fenster. Im Spiegelbild glaubte sie eine Katze zu sehen. Keine Hauskatze, eher eine menschliche Gestalt mit dem Kopf einer Katze oder einer Löwin. Irritiert schaltete sie das Licht im Labor mit dem Schalter unter dem Tisch an und das seltsame Spiegelbild verschwand.

„Ein eigenartiger Tag“, sagte Anne vor sich hin. „Erst Meyer und seine Gedanken und nun meine Fragen … Arabidopsis wächst innerhalb von neunzig Tagen, kommt zur Fruchtreife und stirbt sehr schnell ab. Warum hat sich Meyer so gewundert? Sollte Arabidopsis ein Todesgen haben, das wie eine innere Uhr den Befehl zum Absterben von Zelle zu Zelle weitergibt? Was wäre, wenn die wenigen verbliebenen Zellen kein Todesgen hatten und deshalb den Befehl nicht verstehen konnten? Würden sie dann weiterleben? Sollten diese Zellen unsterblich sein? Würden sie sich immer weiter vermehren?“

Anne unterbrach das Selbstgespräch. Ich muss mit Professor Scherrer darüber reden, dachte sie und stellte das Mikroskop zur Seite. Dann sah sie sich im Labor um. Wir haben die nötigen Geräte, um die Zellen aus dem Zellverband zu lösen, dachte sie. Das Verfahren kenne ich von Angelika. Sie hat damals Kartoffelzellen isoliert und gereinigt. Das ließe sich auch hier mit den Arabidopsiszellen machen. Dann müsste man versuchen einen Kallus zu ziehen. Auch das war mit der Ausstattung hier möglich. Das gut eingerichtete Labor verfügte über Zentrifugen und Brutschränke mit Beleuchtung.

„Also, an die Arbeit“, sagte Anne laut. „An die Arbeit“, klang es wie ein Echo zurück. Das große schöne Gebäude ist so leer, dachte Anne, dass sogar meine eigene Sprache wie ein Echo klingt.

Arabidopsis – ein Leben ist nicht genug

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