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3. KAPITEL

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Auf dem Schreibtisch häuften sich die Papiere. Scherrer nahm einen Brief auf, um ihn gleich wieder zur Seite zu legen. Das Telefon läutete. Scherrer sah den Apparat wie einen persönlichen Feind an, aber dann nahm er langsam ab. „Ja, bitte?“, fragte er in den Hörer.

„Ein Gespräch aus Luxor, Herr Professor. Dr. Nubi!“

„Danke, Anneliese, stellen Sie durch!“

Es rauschte einen Moment im Hörer, dann kam klar und deutlich die dunkle Stimme seines Freundes Nubi. „Edwin, bist du es?“

„Ja“, sagte Scherrer. „Welch eine Überraschung! Ich sitze hier am Schreibtisch und denke über neue Projekte nach. Dein Brief ist angekommen. Danke für deine Unterstützung.“

„Du hast lange nichts mehr von dir hören lassen, Edwin. Ich denke oft an die alten Zeiten und unsere interessanten Gespräche über die Unsterblichkeit. Du bist der Unsterblichkeit nun doch viel näher gekommen.“

„Wie meinst du das?“, fragte Scherrer irritiert.

„Man hört und liest viel von deinen Forschungen in der Gentechnik.“

„Ich hoffe, nur Gutes.“

„Leider nicht nur“, sagte Nubi. „Auch viel Kritisches. In den arabischen Ländern steht man den Experimenten der westlichen Welt sehr abwartend gegenüber. Die neuen Techniken greifen tief in das Geschehen am Lebendigen ein. Das weißt du selbst. Aber ich rufe aus einem anderen Grunde an. Wie du weißt, habe ich erreichen können, dass hier Versuchsfelder angelegt werden dürfen. Hättest du die Möglichkeit, dafür nach Ägypten zu kommen? Deine Anwesenheit würde dem Projekt mehr Bedeutung geben. Aber nicht nur deshalb! Ich würde mich freuen, wenn wir unsere alte Freundschaft auffrischen könnten. Es gibt auch neue sehr interessante Ausgrabungen. Kürzlich wurde das Grab eines Arztes entdeckt. Nein, nicht Imhoteb, ein bisher unbekannter Arzt. Trotzdem sehr interessant! An den Wänden sind viele Zeichnungen der alten Heilpflanzen. Das würde dich doch sicher interessieren. Du bist lange nicht mehr in Ägypten gewesen. Wirst du kommen?“

„Ich denke schon“, sagte Scherrer zögernd.

„Mein Freund“, sagte Nubi. „Ich habe das Gefühl, du könntest einen Urlaub von deinen Mikroskopen und Brutschränken gebrauchen. Hast du den Sarkophag und die Katzenstatue noch?“

Scherrer nickte, als könne sein Freund ihn sehen. „Und all die anderen Kunstschätze auch. Sie stehen in meinem Arbeitszimmer und inspirieren mich. Ich habe unsere Fahrt durch die Wüste nie vergessen. Auch unsere Gespräche nicht. Unsterblichkeit ist nicht gleichbedeutend mit ewiger Jugend! Weißt du noch, wie wir darüber diskutierten? Nun sind wir alt geworden. Dreißig Jahre ist es her. Das ist eine lange Zeit.“

„Die du gut genutzt hast, Edwin. Deine Forschungsjahre in Tübingen waren doch sehr erfolgreich.“

„Du hast sie besser genutzt, Nubi. Du hast einen Sohn, der inzwischen erwachsen ist. Der Schoß der Isis, weißt du noch?“

„Jeder hat seine Träume ein bisschen verwirklichen können. Dafür sollten wir dankbar sein“, sagte Nubi. „Gib mir Bescheid, wann du kommen kannst. Ist noch etwas? Du wirkst so nachdenklich!“

„Ich sehe gerade, dass meine Assistentin mit mir sprechen möchte. Ich melde mich bei dir, sobald ich mehr weiß.“

„Warte nicht zu lange mit deiner Antwort“, sagte Nubi. „Die Zeit vergeht. Wir werden älter und sind leider nicht unsterblich.“

Bei seiner Sekretärin wartete eine aufgeregte Anne Neidhardt darauf, endlich zum Herrn Professor vorgelassen zu werden.

„Frau Neidhardt“, begrüßte Scherrer Anne. „Haben Sie die Pflanze gesehen, die Dr. Meyer Ihnen so gern zeigen wollte? Der Mann war ganz aufgeregt.“

„Ja“, antwortete Anne. „Ich habe mich über sein Verhalten doch etwas gewundert. Die Pflanze wuchs am Forschungszentrum Umwelt.“

„Dr. Meyer sagte so etwas. Was für eine Pflanze ist das nun? Eine Bereicherung für den Botanischen Garten?“ Scherrer sah sie über die goldene Halbbrille amüsiert an. Er wirkte wie vor Jahren in Tübingen. Seine Haare waren grau geworden, aber noch immer hatte er seine Locken sorgfältig gelegt. Anne schüttelte ihren braunen Wuschelkopf. „Bitte setzen Sie sich doch“, schlug Scherrer vor. „Auch Sie wirken angespannt. Gibt es etwas Neues?“

Anne setzte sich, dann platzte sie heraus: „Eine Arabidopsis, sie wuchs in einem Magerrasen voller Habichtskräuter.“

„Arabidopsis? Die kennen wir doch hinreichend aus Tübingen. Deshalb machte Dr. Meyer so ein Aufheben?“

„Er sagte, es sei meine Pflanze“, erzählte Anne. „Ich habe sie mitgenommen, denn sie war bereits abgestorben.“

„Ja, Arabidopsis hat einen festgelegten Lebensrhythmus“, bestätigte Scherrer. „Das macht sie für die Forschung so interessant. Sie wächst sehr schnell und hat ein kleines Genom. Aber wem erzähle ich das? Sie wissen es selber. Das ganze Institut war doch voll mit diesen Pflanzen.“

„Deshalb ist uns auch bisher an dem Lebensrhythmus nichts Besonderes aufgefallen“, sagte Anne. „Könnte es sein, dass Arabidopsis ein Todesgen hat, das nach neunzig Tagen wirksam wird und den Zelltod, ich meine die Apoptose, von Zelle zu Zelle befiehlt? Normalerweise sterben bei einer Pflanze nur wenige Teile ab, aber hier endet das Leben der ganzen Pflanze ziemlich abrupt.“

Erstaunt bemerkte Anne, wie Scherrer blass wurde. „Ein Todesgen?“, fragte er mit belegter Stimme. „Das wäre möglich. Bei dem kleinen Genom dürfte es wohl nur ein Gen sein, das wie eine innere Uhr alles in Gang setzt. Andere Lebewesen, wie auch der Mensch, haben viele Todesgene, die den Tod bewirken.“ Er starrte auf die Wand, als sähe er einen Geist. Anne räusperte sich, um Scherrer wieder auf sich aufmerksam zu machen. „Haben Sie noch mehr herausgefunden?“, fragte Scherrer und sah sie wieder an. „Verzeihen Sie. Gerade eben habe ich mit meinem Freund Nubi aus Ägypten telefoniert, da sind meine Gedanken noch ganz woanders.“ Er lächelte entschuldigend.

„Ja, mir ist noch mehr aufgefallen“, fuhr Anne fort. „Einige Zellen in den Blättern leben noch. Sie haben den Befehl zur Apoptose entweder nicht bekommen oder ihn ignoriert. Ich möchte diese Zellen isolieren.“

„Zu welchem Zweck?“

„Um herauszufinden, warum sie nicht starben“, erklärte Anne. „Pflanzenzellen sind ja potentiell unsterblich. Vielleicht hat die Arabidopsis ein Todesgen.“

„Unsterblich?“, fragte Scherrer und sah sie nachdenklich an. „Darüber habe ich gerade mit meinem Freund gesprochen. Die Ägypter träumten von Unsterblichkeit. Mein Freund meinte, ich sei diesem Traum in meinem Forscherleben näher gekommen, was ich verneint habe. Nun kommen Sie und erzählen mir etwas von unsterblichen Zellen, die kein Todesgen haben.“

„Kann ich diese besonderen Zellen zur Kalluszüchtung vorbereiten?“, fragte Anne. „Ich würde gerne wieder forschen.“

„Natürlich“, antwortete Scherrer. „Forschen Sie! Ich bin froh, dass Sie nach Karlsruhe mitgekommen sind. Ich möchte selber wieder forschen. Meine Aufgabe mit dem Botanischen Garten lässt mir die Zeit dazu. Darf ich ganz spontan einen Vorschlag machen? Da Sie die Unsterblichkeit ansprechen, möchte ich Ihnen die Schwerpunkte in meinem Forscherleben erklären. Außerdem hätten wir dann auch Zeit, Ihre Arbeit zu besprechen. Ich habe das Gefühl, dass Sie auf etwas ganz Besonderes gestoßen sind. Darf ich Sie zu einem Gespräch in mein Haus einladen?“ Scherrer öffnete seinen Terminkalender. „Am Donnerstagabend hätte ich Zeit. Könnten Sie den Termin wahrnehmen?“ Dabei sah er sie fast bittend an.

Anne überlegte kurz. Doch, das wäre möglich. Der Professor schien ihre Pläne sehr ernst zu nehmen. „Ja“, antwortete sie mit fester Stimme, „ich komme gern.“

„19.00 Uhr?“, fragte Scherrer. „Ich würde mich sehr freuen.“

„Kann ich ab jetzt meine Zeit für die Forschung am Todesgen verwenden?“

„Forschen Sie, so viel Sie wollen“, sagte Scherrer. „Dr. Meyer und ich kommen mit der Arbeit am Botanischen Garten gut genug voran. Forschen Sie! Ihre Forschungen sind mir sehr wichtig. Ja, sie erfüllen sogar einen Traum von mir. Aber das erkläre ich Ihnen am Donnerstag.“

Sehr nachdenklich ging Anne in ihr Labor zurück und begann damit, die Zellen zu isolieren und für die Kalluszüchtung vorzubereiten.

Als Professor Scherrer und Dr. Meyer abends das Gebäude verließen, brannte in Annes Labor noch Licht. „Gute Nacht, Herr Professor“, sagte Meyer. „Unsere Frau Neidhardt arbeitet noch.“

„Ich danke Ihnen“, antwortete Scherrer und reichte ihm die Hand. „Sie haben uns sehr geholfen.“

Meyer ergriff die Hand des Professors. Scherrer spürte die Kälte der Hand und zuckte zusammen. Schnell ließ er Meyers Hand los und ging rasch hinüber zur Haltestelle der Straßenbahn.

Minuten später fuhr er mit der Bahn nach Durlach. Ich habe gar nicht gesehen, wo Meyer geblieben ist, dachte Scherrer. Er war plötzlich verschwunden.

Als Scherrer durch seinen Garten ging, war er froh, dass das Haus hell erleuchtet war. Diesmal zögerte er, die Katzenfigur anzufassen, denn es war ihm, als schaue ihn ein sehr lebendiges Tier an. Aber das beruhte nur auf seiner Einbildung und der ausgezeichneten Arbeit des ägyptischen Bildhauers.

In den nächsten Tagen sah Scherrer Anne nur kurz, wenn er in ihr Labor schaute. Sie war morgens schon an der Arbeit, wenn er kam, und abends noch an der Arbeit, wenn er das Institut verließ. Scherrer nutzte die Zeit in seinem Büro, um sich über den neuesten Stand der Forschung mit Arabidopsis zu informieren.

Auch Sybille Walter informierte sich über Arabidopsis. Ich muss Bescheid wissen, wenn ich mit dem Herrn Professor ins Gespräch kommen will, dachte sie. Wenn er weiterforscht, dann ganz sicher nur mit dieser Pflanze. Ein Kribbeln auf der Haut verriet ihr, dass sie auf der richtigen Spur war.

Arabidopsis – ein Leben ist nicht genug

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