Читать книгу Der letzte Tag im Januar - Greer Decker - Страница 4
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ОглавлениеWäre es nach mir gegangen, wäre ich größer, in einer glücklichen Beziehung und hätte Kinder. Und der Planet wäre noch zu retten. Ich wäre dennoch bei der ersten sich bietenden Gelegenheit vom ländlichen Suffolk nach London gezogen, wie der Rest meiner Schulkameraden. Ich hatte diese Entscheidung nie bereut, genauso wenig wie Lehrerin geworden zu sein. Meine Zuneigung für London war in der Tat so groß, dass ich keine Sekunde mehr daran dachte, von dort jemals wieder wegzuziehen.
Bereits als Zehnjährige hatte London bei mir einen bleibenden Eindruck hinterlassen. An einem kühlen Frühsommertag 1979 hatte ich mit meiner Familie in einer zweistündigen Zugfahrt die erste Reise in diese so bunte und lebendige Welt angetreten. Meine Nase fest an das Zugfenster gepresst, starrte ich auf die ziegelroten Reihenhäuser, welche die Bahngleise auf den letzten Kilometern nach Liverpool Street Station säumten, manche schienen zum Greifen nah. Ich erinnere mich an den Schmutz in den Hinterhöfen, aber auch an viele bunte Eindrücke. In einer Häuserlücke sah ich einen kleinen Spielplatz voller Leben. Einige kleine Kinder kreisten in schwindelerregendem Tempo auf einem regenbogenfarbigen Drehkarussell. Wenig später in Covent Garden war ich fasziniert von den Straßenkünstlern und den vielen Punks. Einer grüßte mich freundlich mit einem Peace Zeichen. Nach einem kleinen Rundgang zu einigen Sehenswürdigkeiten besuchten wir ein beliebtes italienisches Restaurant im West End. London zog mich an diesem Tag für immer in seinen Bann; ich beschloss, ein Teil davon zu werden.
Zwölf Jahre später wurde London dann tatsächlich mein Zuhause. Als ich zwei Jahre als junge Lehrerin in dieser Stadt überstanden hatte, stand für mich fest, dass ich für immer hierbleiben würde. Über diesen festen Entschluss habe ich sogar meinen Friseur offiziell beim nächsten Haarschnitt in Kenntnis gesetzt. Dann - im Alter von fünfzig Jahren - habe ich diese Stadt verlassen.
Sonntag, den fünfundzwanzigsten August 2019, London lag jetzt schon hinter mir. Als ich auf der A12 Richtung Suffolk fuhr, bemerkte ich die ersten Anzeichen des Spätsommers. Der Himmel sah weniger sommerlich blass aus, sondern strahlte tiefblau. Die liebliche Landschaft passte perfekt zu meiner Stimmung, bis ich in eine gewisse Nachdenklichkeit verfiel. Ich wechselte die Radiostation von Klassisch auf Soft Rock, um mich vor der aufkommenden Melancholie zu bewahren. Ich fragte mich, was ließ ich nun zurück, was würde kommen?
Ich fuhr an einer Werbetafel des Tierparks in Colchester vorbei und musste an eine Werbetafel auf der stark befahrenen M40 denken, die mich vor über drei Jahren, im Frühjahr 2016, ziemlich erschüttert hatte. Diese Fremdenfeindlichkeit auf dem Werbeträger hätte mich damals schon erahnen lassen sollen, wohin wir uns einen Monat später mit dem Brexit-Referendum bewegen würden. Nach einer Welle von öffentlicher Empörung in den Medien wurde die Tafel kurz darauf wieder abgehängt. Damals hatte ich nach dem Namen der nächsten Ausfahrt Ausschau gehalten, um zu wissen, wo ich meinen Unmut verorten konnte.
Ende Mai war ich wieder auf der M40 auf dem Weg zu Dorothys Geburtstagsfeier, als ich mich entschied, doch das Angebot für eine befristete Stelle an einer Schule in Suffolk anzunehmen. Eigentlich fühlte ich mich dieser Region nur noch wenig verbunden, aber es ermöglichte mir, bei meiner dreiundachtzigjährigen Mutter sein zu können. Ach, da fällt mir noch was ein: Wäre es nach mir gegangen, hätte meine Mutter keine Demenz bekommen.
Ich freute mich zudem auf die Chance eines Tapetenwechsels, auch wenn das Muster vermutlich etwas eintönig ausfallen könnte. Wahrscheinlich zog mich eine gewisse Neugierde zurück zu meinen Wurzeln. Dieser Umzug ließ mir auch die Gelegenheit zu reflektieren, welche Gründe mich damals zu einer Art Flucht nach London bewegt hatten und ob ich mich heute auch noch einmal so entscheiden würde. Dann gab es das Thema Brexit, das in London stärker präsent schien. Dort hatte ich nur zwei Menschen getroffen, von denen ich definitiv wusste, dass sie für Brexit gestimmt hatten. In Suffolk würde ich vermutlich mehr Befürwortern begegnen.
Vor ziemlich genau drei Jahren traf ich einen Typen vom Militär, woran mich das jetzt auf der M12 vor mir fahrende Militärfahrzeug schlagartig erinnerte. Es war bei der Tauffeier von Nigel und hinterließ mich zornig, ratlos und auch traurig.
»Was haben wir denn jemals von dieser Scheiß-EU gehabt? Das war unser Untergang und es ist höchste Zeit, dass wir es denen auch ein für alle Mal klar zeigen«, sagte er lautstark zu mir, als wir am Buffet unsere Teller mit mediterranen Vorspeisen beluden.
»Wie bitte? Wie kannst du denn so was sagen? Unser Untergang?« Ich verzog mein Gesicht. »Die EU ist eine Gemeinschaft, die Frieden und Wohlstand anstrebt.«
»Gemeinschaft?! Du verarschst mich jetzt aber, oder? Die stecken sich unser Geld ein und ärgern uns dann mit all ihren beschissenen sinnlosen Regeln und Vorschriften.«
»Dass die UK aktiv an all diesen Regelungen genauso mitgearbeitet hat und auch vom Binnenmarkt stark profitiert, ist dir wohl nicht bewusst?«
Innerlich verdrehte ich die Augen. Schon wieder einer, der sich von der Pro-Brexit-Presse und den verlogenen Plakaten der UKIP hatte manipulieren lassen.
Ich ärgere mich jetzt noch, weil mir seine Argumente so völlig unüberlegt vorkamen und er dann auch noch so persönlich wurde, so dass die neben uns stehenden Gäste verlegen wegblickten. Auch seiner Frau schien diese Szene sichtlich unangenehm zu sein, sie hatte allerdings auch nicht den Mut, ihm zu widersprechen. Wahrscheinlich war sie des Themas inzwischen auch überdrüssig. Mein Unverständnis über seine Argumentation beunruhigte mich aber weniger als meine schlechte Reaktion. Diese Konfrontation hatte nicht nur damals die Stimmung an unserem Tisch komplett verdorben, sie beschäftigt mich heute noch, drei Jahre später. Sie ließ in mir ein Stereotyp des Brexiteers erwachsen, welche in dieser Vereinfachung sicherlich zu kurz gegriffen war.
Vor der Abzweigung der A120 zum Stansted Airport musste ich an meine Schwester Rachel und ihren Mann Peter denken. Von dort flog ich Ende Juli für zweieinhalb Wochen nach Berlin, um sie und ihre Familie zu besuchen. Ich hatte einen Mieter für meine Londoner Wohnung in Wandsworth gefunden, alle Reparaturen erledigt und die Räume komplett gestrichen. Alles war in Kisten verpackt oder geregelt. Ich konnte beginnen, mich zu entspannen.
Der Urlaub mit Rachel, Peter und den Kindern, Anna und Tim, war – wie die Male davor – für mich sehr erholsam. Die Zeit, die wir gemeinsam verbringen konnten, war leider so selten geworden und deshalb so kostbar. Ich fand das Berliner Lebenstempo deutlich entspannter als in London. Wir waren viel mit dem Fahrrad unterwegs, meistens ging es zum Wannsee oder an den Schlachtensee, wo es keine »Baden verboten« Schilder gab und die Temperaturen auch zum Baden einluden, also stürzten wir uns ins Wasser und genossen die Sommertage. Auf dem Heimweg pflegten wir im Café Venezia auf ein Eis einzukehren. Wir saßen oft bis spät in der Nacht auf der Terrasse zu Hause, um bei einer Flasche Wein zu plaudern. Manchmal sprach ich mit Anna und Tim auf Deutsch. Ich liebte es, meine eingerosteten Deutschkennt-nisse an Anna auszuprobieren, und sie liebte es, mir coole neue Wörter beizubringen und meine schreckliche Grammatik zu korrigieren.
Diesmal reisten wir zusätzlich für ein paar Tage nach Prag und Wien. Unterwegs genossen wir die felsige Landschaft der Sächsischen Schweiz südöstlich von Dresden, dann führte uns die Route über die offene Grenze nach Tschechien und durch die einsamen Landschaften Böhmens nach Prag. Die hübsche Altstadt war durchaus touristisch geprägt, aber nicht so überlaufen, wie einige gemeint hatten. An die Menschenmassen, die sich durch enge Gassen wälzten, war ich von London ohnehin gewöhnt. Auf Wunsch von Anna und Tim fuhren wir danach weiter nach Österreich. Sie hatten kürzlich eine Netflix-Serie gesehen, die in Wien spielte. Zwischen den Besuchen der Kaffeehäuser besichtigten wir das Schloss Schönbrunn und machten einen Spaziergang durch den Sankt Marxer Friedhof, wo wir einige Gräber von berühmten Personen entdeckten.
Zurück in Berlin verbrachte ich mit Rachel und Peter die meisten Abende gemeinsam mit ihren Freunden. Sie diskutierten gerne. Meiner Erfahrung nach war die deutsche Diskussionskultur vergleichsweise offen und dafür manchmal etwas schwermütig, während die britische Diskussionskultur sich eines humorvollen Stils bediente und kontroverse Themen eher vermied. Dabei kam auch das Thema Referendum immer wieder zur Sprache.
»Glaubst du Sarah, dass es wirklich zu einem EU-Austritt kommt? Ich kann mir das nicht vorstellen.«
»Ich denke, ja, leider.«
»Aber die Briten sind doch sonst so pragmatisch, oder? Das ist doch völlig verrückt. Warum tun sie das?«
»Ich denke, da gibt viele Gründe. Politische, historische, geografische, wirtschaftliche. Und eine clevere Kampagne der Brexit-Unterstützer. Die Leute wurden von denen bewusst in die Irre geführt, mit falschen Fakten. Es wurde einfach mit irgendwelchen Summen argumentiert, welche das Königreich in die EU einzahlen muss.«
»Ja. Das habe ich auch gehört.«
»Wer hat denn überhaupt für den Brexit gestimmt? Ist es so wie hier bei den AfD-Wählern? Hast du schon von der AfD gehört? Das ist eine sehr rechte Partei. Sie ist schrecklich. Waren es eher die Leute aus Nordengland?«
»Nein, es gab so viele Faktoren: soziale Schicht, Bildung, Alter.«
Auf der anderen Seite des Tisches lenkte uns jemand mit einer humorvollen Zwischenbemerkung ab und zog die Aufmerksamkeit auf sich – worüber ich erleichtert war. Wären wir bei dieser Diskussion weiter in die Tiefe gegangen, hätte er vielleicht irgendwann bedauert, mich gefragt zu haben.
Rachel war erstaunt, dass ich freiwillig mein Leben in London gegen ein Leben in der Provinz eintauschen würde. Natürlich war sie auch froh, damit Mutter in meiner Nähe zu wissen.
»Wie du eine Weltstadt für dieses kleine Kaff verlassen kannst, verstehe ich nicht, vor allem, wenn der Brexit kommt.«
»Ich weiß, aber was ist mit Mum?«
»Das stimmt natürlich. Ich bin dir wirklich dankbar, dass du dich um Mum kümmern willst. Und wenn dir in Suffolk die Decke auf den Kopf fallen sollte, bist du bei uns natürlich stets willkommen. Berlin ist zwar auch nicht der Nabel der Welt, aber es kann dir definitiv mehr bieten als das Post-Brexit-England.«
Ich lachte. Das stimmte. Suffolk würde eine Umstellung sein. Aber die Stelle war ohnehin auf ein Jahr befristet. Das war mir ganz recht. In dieser Zeit konnte ich eine geeignete Versorgung für meine Mutter finden und nebenbei meine Vorurteile über die ländliche Bevölkerung überprüfen. Naja, und vielleicht würde ich sogar wieder einen Partner finden. Ich lebte jetzt seit fast zwölf Jahren allein, nachdem zwei Beziehungen gescheitert waren. Ich konzentrierte mich in London eine Weile mit großer Energie darauf, doch noch den richtigen Menschen für mich zu finden, bis ich dann schließlich beschloss, mich einfach auf das Schicksal zu verlassen. Für Kinder war es nun zu spät, aber die Vorstellung von einem Seelenverwandten, mit dem ich gemeinsam alt werden konnte, hatte durchaus ihren Reiz.
Nach zwei Stunden Autofahrt von London erreichte ich Mutters Haus. Mum zeigte sich von meiner Ankunft völlig überrascht, obwohl wir am Tag zuvor darüber telefoniert hatten. Ich hatte sechs Umzugskisten, zwei Koffer und fünf Einkaufstüten im Auto. Bei der Ankunft umarmte ich sie - sie war in den Wochen, in denen ich sie nicht gesehen hatte, offenbar wieder kleiner und dünner geworden, und ihre Kleidung hing etwas lose an ihrem Körper.
Umgehend erzählte sie mir, dass neue Leute ins Nachbarhaus eingezogen seien, was sie mir bereits gestern ausführlich am Telefon berichtet hatte. Die neuen Bewohner waren ein Ehepaar mittleren Alters mit drei Kindern und zwei Hunden, die zumindest bisher wenig Lärm zu machen schienen. Gwyneth und Alfred, das ältere Ehepaar, das zuvor in dem Haus gewohnt hatte, hatte sie eigentlich recht gern gemocht - obwohl der Kontakt über Jahre nur aus entfernten Grüßen und den obligatorischen Weihnachtskarten bestanden hatte. Meine Mutter hatte mir letztes Jahr eher beiläufig erzählt, dass Alfred bei einem Frontalzusammenstoß ums Leben gekommen sei. Er saß am Steuer, Gwyneth überlebte mit schweren Verletzungen. Kurz danach war sie in ein Pflegeheim gezogen und ich hatte schon länger vor, sie mit meiner Mutter zu besuchen.
Die neu eingezogene Familie hatte die Fassade des Hauses renoviert und schien ganz nett zu sein. Ich hatte sie einmal bei einem Besuch im Frühjahr gesehen, aber es ergab sich nie der richtige Moment sich vorzustellen. Mutter war neugierig, aber zu schüchtern, um selbst auf sie zuzugehen. Dann hatten sie Mutter jedoch etwas verärgert, weil sie die bisherige Hecke durch einen höheren, aber in ihren Augen weit weniger attraktiven Zaun ersetzt hatten, vermutlich wegen der Hunde. Das verdarb den Charakter der Straße, fand meine Mutter. Es gab Zeiten, in denen sie mit allen unkompliziert umging, aber in letzter Zeit wurde sie konsequent härter in ihren Urteilen.
Die Reaktion meiner Mutter auf meinen Einzug empfand ich als eher verhalten. Es herrschte Verwirrung bei ihr darüber, was um sie herum passierte, und die Aussicht auf Gesellschaft schien bei ihr erstmal keine richtige Freude auszulösen. Und was war mit all diesen Umzugskisten? Sie zog sich ins Wohnzimmer zurück, als ich die Kisten hereintrug und merkte, wie sie mich durch den dünnen Spalt der angelehnten Tür aufmerksam beobachtete. Sie war beunruhigt darüber, dass ich ihr hier alles durcheinanderbringen und ihre Routine stören könnte. Das war nicht meine Absicht. Ich stapelte die Kisten schnell an der Rückwand im großen Gästezimmer.
In den ersten Tagen war ich dann so intensiv mit dem Auspacken und den Vorbereitungen für meinen Neuanfang an der neuen Schule beschäftigt, dass ich Mutters Routine nicht groß störte. Bald wurde mir allerdings klar, dass es gar keine Routinen für sie gab. Abgesehen von den Essenszeiten waren ihre Tage praktisch leer. Den meisten Aktivitäten, die ihr früher Spaß gemacht hatten, zum Beispiel, Nähen, Zeichnen und Lesen, konnte sie nicht mehr nachgehen. Diese Erkenntnis war für mich niederschmetternd. Kurz nach meinem Einzug wurde mir klar, dass es gar nicht so ideal war, sie mehr als ein paar Stunden am Tag allein zu lassen.
Mutters Reaktion, als ich das Thema zaghaft ansprach, war große Irritation über meine Impertinenz.
»Natürlich schaffe ich das. Wie meinst du das? Ich habe immer allein gelebt. Was denkst du, wie ich all die Jahre zurechtgekommen bin? Ich bin doch nicht blöd!«
Ich hatte sie nie für blöd gehalten, ganz im Gegenteil. Trotzdem war es eine gute Frage, wie sie die letzten Jahre überhaupt allein gemeistert hatte. Wer stellt jetzt sicher, dass der Herd nach dem Kochen ausgeschaltet war oder dass sie in einem Notfall ungehindert aus dem Haus gelangen konnte? Es gab eine Zeit - nachdem bei ihr eingebrochen worden war - in der sie fast manisch sogar tagsüber alle Fenster und Türen verriegelt gehalten hatte. Gleichzeitig war sie ständig auf der Suche nach den passenden Schlüsseln derselben. Eine Alarmanlage kam nicht in Frage. Bereits die bloße Erwähnung einer solchen versetzte sie in Panik. Sie hatte Angst vor allem, was laut und elektrisch war. Dazu gehörte inzwischen auch ihr Telefon, durch das sie vor Jahren einen leichten Stromschlag bekommen hatte, als sie während eines Gewitters noch zu Zeiten kabelgebundener Telekommunikation am Fenster saß. Sie hatte dieses Ereignis eine Zeit lang erfolgreich verdrängt, aber jetzt war die Erinnerung wohl wieder da, und die Angst war umso intensiver.
Bereits nach drei Tagen bekam ich das erste Mal schon ernsthafte Zweifel, ob ich mit meinem Umzug das Richtige getan hatte. In London hatte ich mich nie allein gefühlt, immer war jemand für einen Drink und ein Lachen zu haben. Hier dagegen war die Nachricht des Tages höchstens die Entdeckung eines jungen Igels unter der Hecke in unserem Vorgarten.
Ich ging davon aus, dass es mir nach dem Schulanfang besser mit der Entscheidung gehen würde. Und ich freute mich auf gewisse Dinge in Suffolk: die liebliche Landschaft mit dem oft eindrucksvollen Himmel, der Weite, der leichte Küstenwind, lange Spaziergänge sowie das viel gemächlichere Lebenstempo. Und – so sagte ich mir – wenn der Schulalltag wieder anfing, würde eine gewisse Normalität für mich zurückkehren.
Am Donnerstag gingen wir zum Mittagessen zu Heartys, einem Hofladen mit einem Café. Das war derzeit Mutters Lieblingsausflugsziel, weil man dort immer einen Tisch bekam und – ganz wichtig - es ausreichend Toiletten gab. Das Essen war ganz nach ihrem Geschmack. Mir gefiel es dort auch, man saß gemütlich, und es gab eine schöne Auswahl an Käse und eine kleine Ecke mit Geschenken und Grußkarten. Ich erkannte die Geschäftsführerin und auch das junge Mädchen, das als Bedienung im Café arbeitete. Bei einer früheren Begegnung im Juni waren wir schon einmal kurz ins Gespräch gekommen. Mutter liebte es, auf ihren Ausflügen mit Leuten zu plaudern. Das Mädchen, Izabela, offenbar so um die neunzehn, war auffallend hübsch. Aufgrund ihres Akzentes und ihres Aussehens vermutete ich gleich, dass sie aus Polen stammte, was sich in unserem ersten Gespräch dann auch bestätigt hatte. Sie stammte aus Terespol, einer kleinen Stadt nahe der Grenze zu Belarus, nur ein paar Kilometer von Brest entfernt. Meine Mutter und ich hatten noch am selben Tag zu Hause die Lage der Stadt im Altas nachgeschaut. Dies führte mir vor Augen, wie klein im Vergleich mein bevorstehender Umzug sein würde.
Izabela war mit ihren Eltern und ihrer jüngeren Schwester vor etwa drei Jahren nach England gezogen. Als meine Mutter sich erkundigte, ob es ihr in England gefalle, nickte sie, aber vermutlich mehr aus Höflichkeit als aus Überzeugung. Ihr Vater arbeitete auf dem Bau, war ein passionierter Fan des Fußballclubs von Norwich geworden und liebte die englischen Pubs. Ihre Mutter arbeitete im Krankenhaus und war begeistert von den Einkaufsmöglichkeiten der Stadt. Das Mädchen war sehr charmant und aufgeweckt, aber wirkte zugleich ein wenig unsicher. Sie fuhr sich mit der Hand immer wieder durchs Haar und hielt gelegentlich inne, um über ihre eigenen Worte nachzudenken. Sie hörte auch geduldig meiner Mutter zu, als sie von ihrem eigenen jüngsten Aufenthalt im Krankenhaus von Norwich erzählte. Meine Mutter konnte sich aber nicht mehr erinnern, warum sie eigentlich dort gewesen war.
Diesmal brachte uns ein junger, breitschultriger Mann das Essen. Mutter hatte sich für die Schweinekoteletts entschieden, ich für Fish und Chips. Auf dem Weg zurück in die Küche sprach er mit Izabela, die gerade die Tische auf der anderen Seite des Raums abwischte. Die Blicke der beiden ließen darauf schließen, dass die Stimmung zwischen ihnen nicht besonders gut war. Die hausgemachten Pommes schmeckten köstlich. Ich fragte meine Mutter, ob sie sich noch daran erinnern könne, dass wir mit Izabela im Juni schon gesprochen hatten. Ja, sie erinnere sich, die hat ihr oft die Haare gemacht. Sie verwechselte sie offenbar mit Dorota, die vor Jahren Mutters Haare in dem kleinen Friseursalon am Marktplatz geschnitten hatte und ebenfalls aus Polen stammte.
Mutter hatte Mühe, ihre Koteletts aufzuessen und wollte auch keinen Nachtisch. Früher hätte sie eine riesige Portion Dessert mit größtem Genuss verputzt. Als sie Messer und Gabel ablegte, ging ein Mann an unserem Tisch vorbei, gefolgt von einer großen, glamourös aussehenden Dame in einem für Heartys etwas zu ausgefallenen Outfit. Während ich den Mann zunächst nicht wahrgenommen hatte, erregte die Frau sofort meine Aufmerksamkeit. Auch Mutter schien die beiden zu beobachten. Ich saß mit dem Rücken zu ihnen, somit hatte Mutter den besseren Blick.
Izabela kam, um unsere Teller abzuräumen und blickte dann in Richtung des Tisches und man konnte ihr ansehen, dass sie sich über irgendetwas erschrocken haben musste. Rasch drehte sie sich wieder weg und eilte mit unseren Tellern zurück in die Küche. Sie stellte hastig die Teller auf einen Ablagetisch und verschwand eilig über eine Seitentür in den Garten. Eine andere Bedienung folgte ihr nach außen und man konnte durch das Fenster sehen, wie die beide sich aufgeregt unterhielten.
Mutter hatte es plötzlich sehr eilig zu gehen. »Wo sind denn hier die Toiletten?«
Als wir aufstanden, versuchte ich wieder einen Blick auf das Paar zu erhaschen, das offenbar in einen Streit miteinander geraten war. Die Frau wurde immer lauter. Mutter forderte mich ruppig auf, mich zu beeilen, drückte mir ihre Tasche in die Hand und stürmte aus dem Café. Ich folgte ihr hastig und musste verwundert feststellen, dass sie an den Toiletten vorbei direkt auf den Ausgang zusteuerte.
Ich holte sie ein und begleitete sie zu den Toiletten. Danach kehrte ich ins Café zurück, um Kuchen für später zu kaufen. Ich war neugierig, noch einmal das seltsame Paar zu sehen, das aber offensichtlich das Café durch den Nebeneingang verlassen hatte.
Als ich an der Theke des Cafés bezahlen wollte, kam Izabela mit weiteren Kuchenstücken an. Sie lächelte etwas verlegen, ihre schönen Augen waren noch leicht gerötet. Es tat mir leid, sie traurig zu sehen, auch wenn sie sich sichtlich bemühte, gefasst zu wirken.
An der Hauptkasse, als wir unsere Einkäufe aus dem Laden bezahlen wollten, bediente uns erneut der breitschultrige Mann. Er war schätzungsweise um die dreißig. Ein Blick auf das Teamfoto, das an die Wand hinter ihm geheftet war, verriet, dass er offenbar der Sohn der Bauernfamilie war, der dieser Laden hier gehörte. Als er mir meine Quittung überreichte, bemerkte ich einen Stapel Brexit-Party-Flugblätter, die neben der Kasse lagen.
Im Auto fing meine Mutter an, über das streitende Paar im Café zu sprechen.
»Hast du mitbekommen, wie sich die Frau aufgeregt hat? Schrecklich. So eine Szene.«
»Ja. Und sie war auch etwas stark aufgedonnert für einen Hofladen, meinst du nicht?«
»Ja, das stimmt. Aber der Mann hatte schönes rötliches Haar, genau wie mein Vater. Und sie war streitsüchtig wie meine Mutter. Armer Kerl.«
Ich konnte mir ein Lächeln über Mums schnelles Urteil nicht verkneifen. Ich hatte meine Großeltern nie kennengelernt.