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Montag war der erste Tag an der Middleton High, meiner neuen Schule. Da die Ferien für die Schüler noch bis Mittwoch gingen, hatten wir Lehrkräfte noch zwei Vorbereitungstage.

Als ich viel zu früh am Schulparkplatz ankam, wartete ich noch etwas im Auto, um nicht die erste im Gebäude zu sein. Ich fühlte, wie sich mein Magen zusammenzog und versuchte so gut es ging, dies zu ignorieren. Ich war nicht gut darin, neue Leute kennenzulernen. Zumindest war mir das Schulgelände vertraut. Ich war in meiner Jugend schon einige Male hier gewesen, um mit meiner damaligen Schulmannschaft Hockey zu spielen. Die Mädchen dieser Schule waren unsere härtesten Konkurrentinnen gewesen. Ich erinnerte mich an die geräumigen Umkleidekabinen, das makellose Spielfeld und die köstlichen Verpflegungen. Am meisten erinnerte ich mich an das selbstbewusste Auftreten der Spielerinnen und insbesondere an die aggressive rechte Flügelstürmerin, die so viele Tore gegen uns schoss, was mich als linke Verteidigerin heftig ärgerte. Deshalb hatte ich diese Schule nicht gemocht, jetzt hatte ich sie gewählt. Ich war also dabei, wenn auch etwas spät, die Seiten zu wechseln.

Mir wurde das Gefühl vermittelt, hier willkommen zu sein. Die Mitarbeiter, die ich traf, waren freundlich. Natürlich würde es auch hier Probleme und Spannungen geben, das ist ja normal. Die Schuldirektorin machte einen offenen Eindruck, und ich mochte ihre Begrüßungsrede. Bei ihrem Stellvertreter war ich mir nicht so sicher. Im Anschluss erhielten wir eine Auffrischungseinweisung zum Thema Präventiver Kinderschutz. Die Fachabteilungen kamen dann am Nachmittag zusammen, um den Lehrplan zu besprechen.

Am zweiten Tag hatte sich die Schuldirektorin bereits bei einigen etwas unbeliebt gemacht, weil sie für den Beginn des Schuljahres sofort einen zusätzlichen Elternabend in einem neuen Format ankündigte, bei dem den Eltern die Gelegenheit geboten werden sollte, die Klassenlehrer und -lehrerinnen sowie andere Eltern aus der Klasse kennenzulernen. Bereits am kommenden Dienstag sollte dieser stattfinden. Nicht alle meiner neuen Lehrerkolleginnen und -kollegen zeigten sich von dieser Initiative begeistert, viele bezweifelten die Notwendigkeit. Sie betrachteten die Einzelgespräche im Verlaufe des Schuljahres als viel wichtiger.

Als dann die Kinder am Mittwoch eintrafen, war es mit der Ruhe vorbei. Ich war froh, dass ich Klassen aus der Mittelstufe zu unterrichten hatte. Somit hatte ich weniger Stress im Beruf und mehr Zeit für Mutter.

Bis Freitag hatte ich mich an der Schule schon etwas eingelebt und wurde zuversichtlich, dass mir mein neuer Arbeitsplatz gefallen würde.

Am Freitagabend nach dem Abendessen hatte ich es mir gerade auf dem Sofa gemütlich gemacht, als mein Handy klingelte.

»Sarah Wills.«

»Hi Sarah, hier ist Malcolm, von der Schule. Ich habe gerade mit Jill, meiner Frau, gesprochen und wir wollten wissen, ob du vielleicht Lust hättest, mit uns morgen Abend auf ein paar Drinks ins Pub zu kommen. Wir treffen uns im Kollegenkreis etwa einmal im Monat im Three Horseshoes, meistens am Samstag. Mary hat mir deine Handynummer gegeben. Sie kommt auch.«

Malcolm war Fachleiter für Naturwissenschaften. Ich fand es sehr nett von ihm, mich einzuladen. Ich sagte, ich käme gerne.

Am Samstagabend war ich dann irgendwie nicht mehr sicher, ob ich wirklich hingehen sollte. Ich fühlte mich schuldig, meine Mutter alleine zu lassen.

Das Three Horseshoes war ein nettes Country-Pub mit einem riesigen Parkplatz. Dies war ein großer Vorteil gegenüber London, parken war kein Problem. Innen war das Pub ziemlich leer, die Wände mit Hufeisen und verblichenen Fotos geschmückt. Der verschlissene Teppich und die Möbel wirkten auf mich fast schäbig, und es mangelte an dem Ambiente, das ich aus dem Londoner West End gewohnt war. Positiv war, dass wir uns unterhalten konnten, ohne uns direkt in die Ohren brüllen zu müssen. Zwei ältere Männer saßen etwas abseits voneinander an der Bar, beide schweigend und in ihre Biere starrend.

»Hi Sarah! Schön, dass du gekommen bist!«

Malcolm stand auf, um mich zu begrüßen. An dem großen Tisch saßen acht Personen. Die Unterhaltung war bereits lebhaft. Ich fühlte mich noch nervöser als vor dreißig Teenagern. Hätte ich die Chance gehabt, wäre ich sofort umgekehrt, aber es war zu spät, und so zwang ich mich zur Geselligkeit. Eigentlich hätte kein Grund zur Nervosität bestanden, denn es war wirklich eine freundliche Truppe, und alle wollten offensichtlich nach der ersten Woche Schule gemeinsam bei einem Drink entspannen.

Mary, die Leiterin des Fachbereichs Geschichte, hatte ich bereits in der Schule kennengelernt. James stellte sich mir vor, schätzungsweise Anfang fünfzig, ein eher ruhigerer Typ – so mein erster Eindruck. Dann gab es noch Aidan, jung, gutaussehend und sportlich, vermutlich ein Referendar, und Alex, ein durchtrainierter Typ Ende dreißig, den ich ein paar Mal im Verlauf der Woche in Sportklamotten gesehen hatte. Die anderen zwei am Ende des Tisches kannte ich noch nicht. Wir stellten uns kurz vor; sie hießen Barbara und Daniel, beide waren von der Englischabteilung.

Ich wurde mit Fragen überhäuft: »Was hat dich denn dazu gebracht, London zu verlassen, Sarah?« »Vermisst du London schon?« »Ah, ich würde es lieben, nach London zu gehen, es ist so eine spannende Stadt!« »Aber das Unterrichten dort muss ziemlich hart sein.« »In welcher Gegend hast du denn gewohnt?« »War es nicht schwierig, mit einem Lehrergehalt in London zu leben?« Daniel meinte, er hätte auch dort drei Jahre gelebt. Er vermisse es sehr und würde jederzeit zurückgehen, aber Alice meinte, es wäre hier besser für die Kinder. »Gehst du am Ende des Jahres wieder zurück nach London?« »Wo wohnst du denn jetzt hier?«

Sie waren mit meinen kurzen Antworten zufrieden, und ich wollte zu diesem Zeitpunkt nicht zu viel erzählen. Dann wurde wieder über die Idee des zusätzlichen Elternabends geschimpft. Ich lehnte mich zurück und begann, mich zu entspannen.

Ich saß zwischen James und Mary und fragte mich, was für ein Leben James wohl führte. Mir gefiel sein Pullover. Und er hatte ein nettes Lächeln.

»Was unterrichtest du?« fragte ich ihn.

»Physik. Und du vermutlich Geschichte, wenn du Mary schon so gut kennst.«

»Ja, richtig. Stammst du aus dieser Gegend?«

»Ja, ich bin in Norwich geboren, mein Vater auch, meine Mutter war aus Leicester. Und du?«

»Ich wurde in Aldeby geboren, in der Nähe von Beccles. Kennst du das? Es ist ein ziemlich kleines Nest.«

»Doch, ich weiß, wo das ist. Ich kannte mal jemanden von dort.«

»Wie lange bist du denn schon an der Middleton High?«

»Zehn Jahre.«

»Das ist ja schon ganz schön lange, also gefällt es dir dort?«

James überlegte kurz. »Ja, im Großen und Ganzen.« Wieder ein charmanter Blick. »Und wo genau hast du in London unterrichtet?«

»Battersea. An einer staatlichen Oberschule. Privatschulen kamen für mich nie in Frage, aber in London ist es nicht so einfach.«

»Das ist vermutlich ein ziemlicher Kontrast zu hier, oder? Wie lange warst du denn in London?«

»Fast achtundzwanzig Jahre. Ich muss im Moment näher bei meiner Mutter sein. Sie ist schon dreiundachtzig und braucht langsam mehr Unterstützung.«

»Ich verstehe. Das wird sie sicher freuen, wenn du wieder hier bist.«

»Da wäre ich mir nicht so sicher. In ihren Augen bin ich gekommen und habe alles auf den Kopf gestellt! Sie war es gewöhnt, allein zu leben.«

James lachte.

»Hast du Eltern in der Nähe?«, fragte ich ihn.

»Meinen Vater. Meine Mutter ist im Juni gestorben. Sie war schon eine ganze Weile krank. Mein Vater ist jetzt in einem Heim. Er ist neunzig.«

»Nicht schlecht. Das ist ein schönes Alter. Tut mir leid wegen deiner Mutter.«

Mary hatte ihr Gespräch auf der anderen Seite beendet. Wir begannen ebenfalls zu plaudern. Sie war Mitte fünfzig und hatte ein gutes Maß an Selbstvertrauen. Diesen Eindruck hatte ich schon während der Woche gewonnen, als wir die Lehrpläne und andere Dinge besprochen hatten. Sie war meine direkte Vorgesetzte, und sie war mir auf Anhieb sympathisch.

Die Unterhaltung blieb den ganzen Abend über lebhaft. Aidan und Alex waren am lautesten und haben sich sehr gut amüsiert. Aidan kippte irgendwann ein volles Glas um und verursachte damit eine ziemliche Sauerei. Alex und Malcolm brüllten vor Lachen, weil Aidan mal wieder so ungeschickt war. Er wurde rot, stand auf und holte verlegen Servietten. Wir gingen alle erst gegen elf, als der Pub schloss. Ich fuhr gut gelaunt nach Hause – ich hatte offensichtlich Anschluss gefunden.

Mutter war noch wach, als ich zurückkam, saß am Tisch und starrte auf eine selbstgeschriebene Liste: Taschentücher, funktionierender Stift, Notizblock. Sie sah müde aus und wollte unbedingt ins Bett, also gingen wir zusammen hoch.

Am Montag und Dienstag gab es in der Schule noch mehr Unmut über den Elternabend. Ein paar Lehrer und Lehrerinnen waren dabei, in Vorbereitung auf den Elternabend in ihren Klassenzimmern etwas aufzuräumen. Mary war dagegen scheinbar jemand, der sich von nichts aus der Ruhe bringen ließ. Sie machte einen sehr organisierten Eindruck.

Am Ende des Elternabends am Dienstag fragte ich Mary, ob sie zufällig Pflegeheime in dieser Gegend kenne. Sie antwortete, dass es in ihrer Nähe ein gutes Heim gab, in das eine Nachbarin von ihr gezogen war. Mary hätte sie ein paar Male besucht und äußerte sich sehr positiv über Personal und Ausstattung. Sie erzählte mir auch, dass der Vater von James ebenfalls vor etwa einem Monat in ein Heim gezogen war. Ich könnte James nach seinen Erfahrungen fragen.

Als ich an diesem Abend zu Hause am Esstisch den Geschichtslehrplan durchblätterte, hätte ich mir gewünscht, einige Änderungen vornehmen zu können. Wir haben unsere eigene Vergangenheit in einigen Bereichen geschönt.

Die Durchsicht meiner Klassenlisten führte mir vor Augen, wie viele Namen ich mir mal wieder einprägen musste. Ich hatte sechs Klassen, je zwei in den Jahrgangs-stufen sieben, acht und neun.

In einer Klasse der Jahrgangsstufe neun gab es zwei polnische Mädchen, und eins davon, Zofia, sah dem Mädchen aus dem Farm Shop Heartys sehr ähnlich. Ich nahm mir vor, Mary, Zofias Klassenlehrerin, zu fragen, ob das Mädchen eine ältere Schwester hat.

Ich dachte noch einmal an die Unterhaltung im Pub. Eine Sache war mir seither in der Schule aufgefallen. Einige der Lehrer verhielten sich James gegenüber ziemlich abweisend. Im Lehrerzimmer war er auffallend ruhig. Meine Gedanken wanderten an diesem Abend immer wieder zu unserer Konversation im Pub zurück. Ich fragte mich, was er wohl mit im Großen und Ganzen meinte, als ich nach seiner Zufriedenheit an der Schule gefragt hatte.

Ich erkundigte mich am nächsten Tag bei James nach dem Heim, in dem sein Vater nun lebte. Er bot an, ich könne gerne mitkommen, wenn er seinen Vater am Wochenende besuche, damit ich mir persönlich einen Eindruck von The Grange verschaffen könne. Das wollte ich sehr gerne tun.

Die Schuldirektorin kam am Donnerstag am Ende des Unterrichts in mein Klassenzimmer und fragte, wie ich mich so eingelebt hätte. Sie fragte mich auch, ob es mich interessieren würde, im November die 9. Klassen beim Ausflug ins British Museum nach London zu begleiten.

Am Freitag nutzte ich die Gelegenheit, Mary zu fragen, ob Zofia eine Schwester hätte. Sie bestätigte dies. Sie meinte, dass ihre Schwester in diesem Jahr mit der Schule fertig geworden war, sie konnte sich aber nicht mehr an deren Namen erinnern. Mary fand auch, dass beide nette Mädchen waren. Zofia hatte schulisch eine äußerst beeindruckende Leistung hingelegt, wenn man bedenkt, dass sie erst vor dreieinhalb Jahren mit geringen Englischkenntnissen nach dem Umzug aus Polen an die Schule gekommen war.

Zofias Mutter hatte Mary erzählt, dass die Familie inzwischen den Pre-Settled-Status erhalten habe. Sie wollten damals unbedingt, dass die Großmutter auch nach England käme, aber sie wollte in ihrem Alter die Heimat nicht mehr verlassen. Diese befand sich in einem sehr abgelegenen Teil Polens an der Grenze zu Belarus. Nun war mir klar: bei Izabela aus dem Hofladen handelt es sich tatsächlich um Zofias Schwester.

Der letzte Tag im Januar

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