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James war am Mittwoch nicht in der Schule. Später fiel mir auf, dass auch weitere Kollegen nicht anwesend waren. Am Ende des Schultages kam die Direktorin zu mir. Sie wollte am Freitag meinen Geschichtsunterricht in der 9. Klasse anschauen. Immerhin hatte sie mir etwas Vorwarnung gegeben.

Im Geschichtsunterricht am nächsten Tag beendeten wir die Themen industrielle Revolution und die gesellschaftliche Entwicklung in Großbritannien vor dem Ersten Weltkrieg. Ich fand es immer schwierig, dreizehnjährigen Kindern das britische Klassensystem zu vermitteln, das viele bislang noch gar nicht wahrgenommen hatten. Das Thema der industriellen Revolution war für sie dagegen anschaulicher. Die Kinder arbeiteten interessiert mit und zeigten besonders große Empathie im Zusammenhang mit der Kinderarbeit in den Fabriken und Bergwerken.

Am Donnerstagabend überlegte ich kurz, James anzurufen, mich zu erkundigen, wie es ihm geht. Ich könnte ihn auch nach Ratschlägen zur Vorbereitung meiner Unterrichtsstunde mit der Direktorin am Freitag fragen. Dann fiel mir aber ein, dass ich seine Nummer nicht hatte. Mist! Ich wusste auch nicht, wo er wohnte. Also begann ich, Hefte zu korrigieren.

Am Freitag hatte ich dann den Eindruck, dass die Stunde mit der Direktorin ganz gut lief. Die Kinder waren vielleicht ein bisschen ruhig, aber das war vermutlich normal, wenn die Schulleitung im Raum ist. Sie wollte mir am Montag eine Rückmeldung geben.

Am Wochenende verbrachten meine Mutter und ich viel Zeit im Garten, da das Wetter mild war. Ein radikaler Rückschnitt bei einigen Sträuchern war überfällig. Wir pflückten die letzten Äpfel vom Baum und kochten damit einen leckeren Apple Crumble.

In der Nacht auf Sonntag schlief ich eher schlecht, wachte viel zu früh auf und wälzte mich dann mehrere Stunden lang hin und her. Ich konnte meine Mutter leise schnarchen hören. Ich hätte lieber ein Buch lesen sollen, aber stattdessen lag ich da und begann wieder zu grübeln - über meinen letzten großen Streit mit Nick vor Jahren, dann über Schicksalsschläge einiger Freundinnen in London. Warum tat ich mir das immer wieder an?

Am nächsten Tag in der Schule unterhielt ich mich gerade mit Mary im Lehrerzimmer, als James hereinkam. Ich merkte, wie sehr ich mich freute, dass er zurück war. Die Direktorin kam herein und gab ein kurzes Wochenbriefing. Ich sah James Blick in meine Richtung und lächelte zurück. Nach der Besprechung kam die Direktorin zum mir und schlug vor, uns in der Mittagspause für unser Beurteilungsgespräch zu treffen.

Dreißig Minuten nach Beginn der Stunde, als die Kinder selbstständig einen Text bearbeiteten, spürte ich eine gewisse Nervosität wegen des Gesprächs mit der Direktorin in mir aufkommen. Seltsam, wenn man bedenkt, dass ich ohnehin nur eine befristete Stelle hatte. Die Aufregung war dann auch völlig unnötig. Das Feedbackgespräch verlief ganz entspannt.

Am Abend dachte ich darüber nach, Mary und Sally, vielleicht auch James, bald einmal zum Essen nach Hause einzuladen, aber meine Mutter sah so ängstlich aus, als ich es vorschlug, dass ich die Idee gleich wieder verwarf. Sie fragte mich erneut, ob es mir gefiel, wieder in Suffolk zu sein. Ja, ich mochte es sehr, antwortete ich wie immer.

Am Dienstagmorgen bemerkte ich im Lehrerzimmer wieder auffällige Blicke in James Richtung, hauptsächlich von den Mathelehrern Frank, Dudley und Patrick. Was ging hier vor? Mary gab mir einen Zettel, auf dem der Name und die Telefonnummer des Pflegeheims in ihrer Nähe stand.

Zofia war am Dienstag nicht in der Schule. Vielleicht war sie jetzt auch krank. Ein Virus schien die Runde zu machen. Ich fragte Mary in der Pause, ob sie wüsste, warum Zofia abwesend war. Sie sagte, sie hätte am frühen Montagmorgen eine E-Mail vom Vater mit einer Krankmeldung bekommen.

Auf dem Heimweg schaute ich unangemeldet in dem von Mary empfohlenen Pflegeheim, The Maples, vorbei. Es war ein modernes Gebäude am Rande einer Neubausiedlung. Es sah von außen architektonisch vielversprechend aus und war auch nicht weit von Mutters Wohnort entfernt. Ich vereinbarte einen Besichtigungstermin für Samstag in einer Woche und beschloss, dann auch meine Mutter mitzunehmen.

An diesem Abend, als ich die Nachrichten im Fernsehen sah, freute ich mich sehr über die Entscheidung des Obersten Gerichtshofs des Königreichs, dass die Verlängerung der Parlamentspause vor dem Brexit unrechtmäßig sei. Scheinbar wurden die verrücktesten Dinge in der Politik in letzter Zeit zur Norm und es war nicht immer leicht, den aktuellen Entwicklungen zu folgen. Dieses Urteil war aber sehr bedeutsam. Das höchste Gericht des Landes hatte einstimmig entschieden, dass der Premierminister versucht hatte, die Funktionsweise einer parlamentarischen Demokratie zu behindern. Unglaublich. Nun war sogar eine Entschuldigung bei der Königin fällig. Es fiel mir schwer, eine gewisse Schadenfreude zu unterdrücken.

Ich konnte mir auch nicht verkneifen, meiner Mutter zu sagen, dass ausgerechnet ein Tory-Premierminister die Königin in die Irre geführt hatte. Meine Mutter war stets eine überzeugte Tory-Wählerin gewesen. Ich schimpfte etwas darüber, dass Johnson die parlamentarische Demokratie untergräbt und die Königin dumm aussehen lässt. Sie widersprach diesmal nicht und wirkte leicht verwirrt über die Sachverhalte. Ich beschloss, jegliche politische Diskussion mit ihr zu vermeiden.

Ich ließ meine Mutter vor dem Fernseher sitzen und nahm ein Bad. Könnte dies eine parlamentarische Niederlage für Johnson bedeuten? Es schien wie die letzte Chance, den Brexit doch noch abzuwenden. Meine Gedanken wanderten von der Politik zu Nick - nein, bloß keine Gedanken mehr an ihn.

Ich setzte mich in der Wanne kurz auf, gab Spülung in mein Haar und sank wieder in das nicht mehr ganz warme Wasser. Meine Gedanken kehrten zur Politik zurück. In London waren viele Menschen fassungslos über das, was am dreiundzwanzigsten Juni 2016 geschehen war. Aber die Hoffnung auf eine ehrliche politische Debatte war schnell verblasst.

Einerseits verstand ich das nicht, denn es stand so viel auf dem Spiel. Andererseits konnte ich auch die Hemmungen vor einer Debatte verstehen. Viele, die in der Öffentlichkeit standen und für einen Verbleib in der EU waren, haben ihre Ansichten nicht offengelegt, vermutlich auch um den Vorwurf zu vermeiden, den Willen des Wählers nicht respektieren zu wollen.

Auf privater Ebene lief man Gefahr, mit dieser Kontroverse soziale Kontakte zu riskieren, da die Diskussion schnell sehr emotional werden konnte. Daher das Verlangen vieler, die Sache ungeachtet des Ausgangs ein für alle Mal zu regeln. Die anhaltenden skurrilen Absurditäten der britischen Politik in diesen Zeiten wurden vielen irgendwann einfach zu viel.

Während das Wasser weiter abkühlte, dachte ich kurz an den Mann, dem ich im Sommer in Berlin am Flughafen Tegel begegnet war. Ich war mir damals sicher, aufgrund seines Erscheinungsbildes einem typischen Brexiteer begegnet zu sein.

Es ging mit der riesenlangen Schlange an der Sicherheitskontrolle bereits seit über zehn Minuten überhaupt nicht mehr weiter. Diese deutsche Effizienz war manchmal ein kompletter Mythos. Ich vermutete, der Mann hinter mir dachte das gerade auch. Der Flughafen hatte den Charme der 1970er Jahre mit einem eingeschränkten Angebot an Gastronomie und Geschäften. Das lag natürlich daran, dass das als Hexagon konzipierte Flughafengebäude kaum Erweiterung zuließ, und die bevorstehende Schließung zu keinen Investitionen mehr motivierte. Wenigstens musste man nicht weit laufen. Als der Mann hinter mir offenbar meine Unruhe spürte, wies er mich freundlich darauf hin, dass nichts passiere, weil die Passkontrolle noch nicht besetzt war.

Er war von leicht untersetzter und relativ kleiner Statur. Sein Akzent, als er telefonierte, ließ mich darauf schließen, dass er aus Nordengland stammte. Sein Mantel war etwas zu lang und reichlich verknittert, seine Hose hingegen zu kurz, und seine Schuhe hätten dringend geputzt werden müssen. Selbstbewusst, aber nicht unfreundlich, wies er das polnische Paar in Flip-Flops vor uns darauf hin, dass sie ihre zwei großen Koffer erst einmal zum Check-in-Schalter bringen müssten, bevor sie sich hier anstellten. Für diesen Ratschlag waren sie umso dankbarer, als er anbot, zwischenzeitlich ihren Platz in der Schlange freizuhalten.

Wir kamen ins Gespräch und es stellte sich heraus, dass er für ein multinationales Unternehmen mit Hauptsitz in Deutschland arbeitete, vor einigen Jahren in Bayern gelebt hatte und nun häufig geschäftlich in ganz Europa unterwegs war. Er fragte mich, ob ich deutsch könnte und dann wollte er von mir wissen, ob man diese Menschenansammlung vor dem Gate eine »Schlange« oder einen »Stau« bezeichnen würde. Er meinte, er täte sich immer schwer damit, diese zwei Wörter zu differenzieren. Trotz seines langen Aufenthalts hier hatte er nie Zeit gefunden, deutsch zu lernen. Seine Kinder hatten Bayern geliebt, besonders das Skifahren und die vielen Badeseen in der warmen Jahreszeit. Plötzlich fing die Schlange, oder der Stau, doch an sich zu bewegen, gerade als wir das kontroverse Thema Brexit angeschnitten hatten.

»Es ist verrückt vom wirtschaftlichen Standpunkt aus gesehen. Es macht überhaupt keinen Sinn. Und wissen Sie, was das Traurigste ist: Jede Seite dämonisiert die andere. Die Remainer stellen die Leaver klischeehalf als ungebildet und rassistisch dar, und die Leaver sehen die Remainer als rechthaberisch und sozial privilegiert. Die Debatte um den Brexit hinterlässt überall seine Spuren.«

»Stimmt.«

Nach der Sicherheitskontrolle trennten sich unsere Wege. Und schon wieder war es mir nicht gelungen, meine Liste von Brexit-Befürwortern zu erweitern.

Das Wasser war mittlerweile abgekühlt. Ich stieg aus der Wanne und dachte dabei an die People’s Vote Demonstration im Frühjahr in London, auf der ich mich mit einem charismatischen Juradozenten aus Bath unterhielt, der mit seiner französischen Frau in Frankfurt am Main lebte. Er hatte argumentiert, dass aus rechtlicher Sicht eine zweite Abstimmung angezeigt wäre und ermutigte mich, in dieser Frage nicht die Hoffnung aufzugeben. Zugegeben, ich ließ mich gerne überzeugen. Die Atmosphäre der Demonstration, mit über einer Million Teilnehmern, war damals beeindruckend, auch wenn sie in den britischen Medien relativ wenig Beachtung fand. An jenem kalten Tag im März gab es doch noch so viel Hoffnung.

Der letzte Tag im Januar

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